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Sam Rivers: „Vor Jahren, als ich am Konservatorium war, sah ich mir einiges von Strawinsky an. Es hatte all diese verschiedenen Taktangaben für jeden Takt und all das. Ich fragte mich: Warum eigentlich? Ich nahm also einiges von dieser Musik und setzte es in 4/4, um zu sehen, wie es in 4/4 aussieht. […] Ich verwende alle Arten von Rhythmen, aber sie sind über einen grundlegenden 4/4-Rhythmus gelegt. […] Es sind verschiedene Schichten von Rhythmus. […] Ich komponiere kontrapunktisch, das heißt, dass zwei, drei oder vier Melodien gleichzeitig ablaufen, und sie bauen ihre Harmonien auf. Aber es sind wirklich ablaufende Melodien. Die Harmonien passieren einfach, doch spielen alle Stimmen ihr jeweils eigenes thematisches Material. Sie spielen aber auch in einer anderen Taktart als der grundlegenden. Der Bass bildet die Verwurzelung. Er ist ziemlich die einzige stabilisierende Kraft, die man hören sollte. Ohne Bass wäre es ein völliger Avantgarde-Sound, ein fast klassischer Sound. Wie auch immer, ohne Bass könnte man es kaum Jazz nennen. Wie gesagt, es sind überlagerte Schichten aus unterschiedlichen Rhythmen, die als Melodien geschrieben sind […].“ Er komponiere das nicht anhand seines Instrumentes, sondern nur auf dem Papier: „Ich setze mich hin und beginne zu schreiben. Mich interessieren keinerlei Regeln, auch nicht, ob das richtig klingt oder nicht. Mich interessiert all das nicht. Ich setze diese Sachen zusammen und dann gehe ich hinaus, höre es mir an und überrasche mich selbst. Denn ich weiß ja nicht, was ich gemacht habe! Ich versuche gar nicht zu wissen, was ich gemacht habe! [lacht, …] Es ist wie höhere Mathematik. Es gibt keine Regeln, wenn man auf ein gewisses Level gelangt. […] Wie mache ich es also für das Publikum zugänglich? Ich muss den Rhythmus hinzufügen. Denn wir sind in einer Art Backbeat-Rhythmus-Ära.“ Das meiste der Alben Inspiration und Culmination sei tanzbar.1)
Der Tenor-Saxofonist Chico Freeman, der an den Aufnahmen von Sam Rivers Alben Inspiration und Culmination beteiligt war, sagte: „[…] die Sounds waren ziemlich kompliziert, aber zugleich sind diese komplizierten Dinge auf einer Grundlage von Einfachheit gebaut.“ Der Interviewer antwortete: „Sehr avancierte Strukturen über einem primitiven Beat. Er fügt immer die Tanz-Beats hinzu.“ Chico Freeman: „Ja, der Bass war simpel. Harmonisch war es das nicht… Die Akkorde für die Soli waren ziemlich simpel und elementar und auch die Beats und Rhythmen, aber die melodischen Strukturen waren ziemlich kompliziert, rhythmisch und… Nochmals, es ist, wohin er die Dinge platzierte, und er dreht Dinge um, startet Dinge in der Mitte und wendet sie von innen nach außen und von außen nach innen, von hinten nach vorne und von vorne nach hinten, und alles in verschiedenen Arten… zyklisch und nebeneinandergestellt, indem er sie hier und dort versetzt.“2)
Steve Coleman: Er sei am 20. Mai 1978 nach New York übersiedelt und habe ein paar Monate später begonnen, an den Proben in Sam Rivers Studio Rivbea teilzunehmen. Auf die Frage, was an Sam Rivers komponierter Musik so originell ist, sagte Coleman: „Es ist schwer zu beschreiben. Es ist schwierig, ein Ding zu nennen, denn es ist nicht ein Ding und es ist fast nie so. Aber rhythmisch ist sie sehr andersartig. Nun meine ich nicht unbedingt die Rhythmusgruppe, sondern die Art, wie die Melodien rhythmisch gelagert sind, die Rhythmen, in denen die Melodien geschrieben sind. Denn Sam [Rivers] hat diese besondere Art von kontrapunktischem Konzept oder diese Art von Komponieren vieler gegeneinander gelagerter Linien. Er macht Dinge wie das Umdrehen des Beats und verschiedene solche Dinge, womit gemeint ist, dass es eine ungerade Zahl von Beats in einer Phrase gibt, die einer geraden Zahl von Beats entgegengestellt ist. Sam lässt Dinge umdrehen, dann wieder von selbst umkehren und zurückkommen… Manche Musiker nennen das ungewöhnliche Taktarten, aber er schrieb nie etwas in irgendeiner ungewöhnlichen Taktart aus. […] man kann alles in beliebiger Weise schreiben. Egal wie weit ich hinausgehen will, ich kann es immer noch in 4/4 schreiben, wenn ich will. Er war darin ein Meister. In anderen Worten, er schrieb es absichtlich in einer gewissen Weise, damit es die Leute lesen konnten. Er sagte mir das auch. Und ich stellte es fest. Ich stellte fest, dass seine Sachen, obwohl sie in 4/4 geschrieben waren, nicht so waren – dasselbe wie beim Hören von Art Tatum oder Charlie Parker und so weiter. Es gibt einige Dinge, die sie spielen, die nicht in 4/4 sind, aber weil sie in diesem Kontext sind, nehmen die Leute an, dass sie es wären. Ich weiß nicht, ob es einen leichten Weg gibt, das zu erklären, aber es gab in vielen Phrasen eine ungerade Zahl von Beats. [Singt eine Melodie] Das ist eine 7-Beat-Phrase, die ständig zu sich selbst zurückführt. Jedes zweite Mal lenkt sie ein, indem sie eine gerade Zahl von Beats bildet: 14 Beats. Aber dennoch ist die Phrase selbst in 7. Wenn man die Phrase spielt, kann man fühlen, dass man sie alle 7 Beats wiederholt. Er hatte eine Menge solcher Dinge, die die meisten nicht in dieser Musik haben. Es ist eine simple Sache, aber wenn man eine Menge davon übereinander ablaufen lässt und man eine Phrase das in 7 machen lässt und eine andere in 5 und wieder eine andere in 4 und eine weitere in irgendeiner anderen Zahl, dann hat das einen gewissen Charakter. Das ist eine der Sachen, die ich tatsächlich von ihm erhalten habe. Es ist eine von mehreren Dingen, die ich geborgt habe, gestohlen, wie auch immer man es nennen möchte.“
Auf die Frage, ob er noch etwas angeben möchte, sagte Coleman: „Ja, es gibt auch noch einiges intervallische Zeug. Intervallisch bedeutet… In jedem Stil kann man bestimmte Intervalle finden, die vorherrschend sind, und andere, die nicht so vorherrschend sind. Ich meine, es gibt tatsächlich nur 12 Intervalle, aber bestimmte Leute tendieren dazu, bestimmte Arten von Sachen zu machen. Und Sams Melodien haben bestimmte Arten von Intervallen, die in allem wiederkehren. Das gelangte nach einer Weile einfach in mein Gehirn und hatte daher einen starken Einfluss auf meine Musik. Ich meine, es ist nicht bloß, was Sam machte, denn es ist eine Kombination aus einer Menge unterschiedlicher Musiker. Aber einiges von dem, was Sam machte, gelangte definitiv in meine Musik. Und all diese Dinge kamen mehr von seinem Komponieren als von etwas anderem, denn dieses Zeug war einfach genug herum, damit man sehr rasch davon quasi durchtränkt werden konnte, vor allem wenn man die Musik spielt. Es kommt also nicht so viel von seinem Spielen, sondern davon, was er schrieb. Aber sein Schreiben und Spielen sind im Grunde dasselbe Gehirn.“
Im Zusammenhang mit Colemans Beteiligung an Rivers Album Colours (aufgenommenen im September 1982) wurde er gefragt, wie lange er mit Rivers Bigband spielte, und er antwortete: ungefähr, bis er kontinuierlich in Dave Hollands Band spielte, mit einer kleinen Überlappung. Er habe von 1979 bis 1983 viele Gigs mit der Bigband gespielt.
Zu den komplizierten Feinheiten in Sam Rivers Kompositionen, die man nicht ohne weiteres wahrnimmt, meinte Steve Coleman: „[…] wenn diese Details vorhanden sind, vergrößert das meiner Meinung nach die emotionale Wirkung der Musik. Es vergrößert die Wirkung und Tiefe der Musik, nicht musikalische Tiefe, sondern emotionale Tiefe… geistige Tiefe, mangels eines besseren Wortes. Bei Coltranes Musik erhält man dieselbe Art Sache, bei Leuten, die wirklich in die Tiefe gegangen sind. Es gibt da Schichten und Schichten des Denkens, der Arbeit und Interpretation. Es trifft einen in einer gewissen Weise, mehr als wenn es jemand salopp angeht oder es auf einem saloppen Level macht.“3)
Steve Coleman: Sam Rivers Kompositionen seien mehr wie die Natur. Die meisten Musiker, vor allem die jungen, würden Musik so schreiben, wie man es bei Schauspielern im Fernsehen sieht: Sie warten, bis sie mit dem Sprechen an der Reihe sind. In der Natur sei das jedoch nicht so. Wenn man in einer Gegend lebt, wo es viele Tiere gibt, Affen und so weiter, dann höre man auch in der Nacht all ihre Laute und die überlappen sich alle. Das sei schön und Rivers Musik habe diese Eigenschaft. Er habe das in seine Musik eingebaut. Es liefen darin unterschiedliche Kommunikationen gleichzeitig ab. Sie kämen zusammen, verzweigten sich wieder und so weiter. … Rivers habe unterschiedlich lange, sich wiederholende Phrasen oder „musikalische Sätze“ (wie Coleman es nenne) miteinander verbunden. Und er habe sie so geplant, dass sie an bestimmten Punkten zusammenfallen, zum Beispiel nachdem ein Satz fünf Mal und der andere sieben Mal durchlaufen wurde. Das sei grundsätzlich wie Mathematik. So habe Rivers sie alle immer wieder zusammenkommen und auseinanderfallen lassen. Und dann habe er Improvisationen eingeworfen und damit das Prinzip der Ungewissheit eingebracht. Man wisse ja nicht, was der Improvisator spielen wird. Der werde seine eigenen Phrasen mit eigenen Längen gestalten. All das zusammen habe eine Textur ergeben, die einfach unglaublich sei. Wenn Leute Musik hören, dominieren oft das Schlagzeug und der Bass in ihrer Wahrnehmung. Man folge dem Rhythmus des Schlagzeugs und des Basses und höre oft nicht so genau, was obenauf geschieht. In Rivers Album Colours4) sei der obere Teil jedoch der einzige vorhandene. Man tendiere dazu, die Blasinstrumente als Farbe zu denken, während die Rhythmusgruppe mehr den Körper, den Antrieb oder Puls bilde. Wenn man die Rhythmusgruppe wegnimmt (wie es Rivers im Album Colours tat), dann blieben eben die Farben (Colours).5)
Steve Coleman: Nachdem er im Mai 1978 nach New York übersiedelt war, sei er mit Chico Freeman (Von Freemans Sohn) beisammen gewesen und der habe ihn (noch im Jahr 1978) zu einer Probe der Bigband von Sam Rivers mitgenommen. Rivers habe für seine kleine Band nicht viel geschrieben, sondern mit ihr hauptsächlich offene Improvisation gespielt. Für seine Bigband jedoch habe er ein spezielles Kompositions-Konzept gehabt und das habe ihn (Coleman) umgeworfen, denn er habe noch nie zuvor solche Phrasen gehört, Sachen, die sich in unabhängigen Kreisläufen bewegen, und all das. Das sei wahrscheinlich einer der größten Einflüsse auf die Musik seiner eigenen (Colemans) Band gewesen. Der größte Einfluss auf seine Musik [offenbar bezogen auf Musiker, mit denen Coleman zusammenspielte] sei von vier Musikern ausgegangen: von Von Freeman, Thad Jones, Sam Rivers und Doug Hammond. Das sei komisch, denn keiner von ihnen habe eine Musik gespielt, die viel besser war als die seiner Band, aber sie hätten in struktureller Hinsicht einen großen Einfluss ausgeübt. Und natürlich seien Musiker der Vergangenheit sehr einflussreich gewesen: Charlie Parker, John Coltrane, Sonny Rollins, die Schlagzeuger Ed Blackwell, Max Roach und so weiter. Blackwells Beitrag habe er allerdings erst durch Hammond kennengelernt. Blackwell sei jedoch von Roach hergekommen, den er schon davor viel hörte. Sam Rivers habe nun diese Kreisläufe gehabt. Seine Musik sei in Vierer-Zyklen notiert gewesen, aber er habe sofort gemerkt, dass diese [übereinandergelegten] Phrasen sich in sonderbaren [unterschiedlichen] Schleifen bewegten, bei denen Fünfer- und Siebener-Zyklen durchaus üblich waren. Komischerweise habe der Schlagzeuger nichts von diesem Zeug gemacht. Der Schlagzeuger und der Bassist seien gewöhnlich auf einer eigenen Ebene gewesen. Rivers habe ihm im Gespräch bestätigt, dass diese Kreisläufe nicht wirklich in Vierer-Zyklen waren. Rivers habe sie nur so notiert, damit sie die Musiker seiner Band leichter lesen konnten. Es habe da alle Arten unterschiedlicher Kreisläufe gegeben, die an einem bestimmten Punkt zusammenkamen. Der eine sei fünf Mal, der andere sieben Mal durchlaufen worden und bei 35 hätten sie sich getroffen. Das sei alles wie Mathematik gewesen, ein wirklich raffiniertes Zeug. Er habe zuvor so etwas hin und wieder bei Musikern wie Charlie Parker gehört, doch hätten die das nur für sich alleine als Solisten gemacht. Er habe das zuvor nie als eine gesamte, festgesetzte Sache gehört. Vielleicht machten Musiker wie Herbie Hancock, die alles Mögliche machten, so etwas, aber jedenfalls nicht in einer so offensichtlichen Weise wie Rivers. Dabei habe er zuvor nichts von Rivers gewusst und sei nicht wegen ihm nach New York übersiedelt, sondern wegen Art Blakey, McCoy Tyner, Woody Shaw und all diesen Musikern, die nach Chicago gekommen waren, wo er sie hörte. Rivers kam ihm dann jedoch fortgeschrittener vor als alle von ihnen und in der Hinsicht, dass Rivers das Substrat nahm und wirklich veränderte, betrachte er ihn als einen bedeutenden Musiker. Rivers Zeug habe Swing gehabt, einen tiefgehenden Groove. Rivers sei als Avantgarde- beziehungsweise „Free-Jazz”-Musiker betrachtet worden, doch habe er (Coleman) sich schon damals gedacht, dass dieses Zeug keineswegs „frei“ war, sondern präzise. Rivers habe genau gewusst, was er machte, sich mit Harmonik ausgekannt und eingehende Kenntnisse gehabt. Aber er habe diese sehr lockere Art zu spielen gehabt wie Von Freeman. Rivers Sache habe ihn stark beeinflusst und er habe sofort begonnen, solches Zeug zu hören. Die Trommel-Sache habe es bei Rivers jedoch nicht gegeben. Rivers Sache sei nur oben darauf gewesen, in der Phrasierung, bei den Bläsern und im Verhältnis zur Rhythmusgruppe als Ganzem. Aber es habe bei Rivers nicht die Art von Rhythmen gegeben, die Ed Blackwell spielte, nicht diese einzelnen, spezifischen, detaillierten Rhythmen, wie sie etwa ein Conga-Spieler spielt. In Afrika gebe es spezifische Rhythmen, so wie es in Europa spezifische Melodien gibt, und die spezifischen Rhythmen würden bestimmte Dinge bedeuten. Sie hätten einen Rhythmus für Oshun, einen für Obatalá, einen für Shangó. Selbst wenn sie diesen Rhythmus in einem Pop-Song hören, würden sie sagen: „Oh ja, das ist Shangó!“ Die Rhythmen würden Namen haben und für bestimmte Prinzipien stehen, für so genannte Orishas. …
Sam Rivers Musik habe die Innovation im oberen Teil gehabt. Er (Coleman) habe aber auch den fleischigeren Teil haben wollen, die Figuren selbst, die tatsächlichen Formen. Das betreffe einen kleineren Gesichtspunkt. Es gebe drei unterschiedliche Ebenen. Auf einer größeren Ebene gebe es den formalen Gesichtspunkt, der die Gesamtform betrifft, etwa die A-A-B-A-Song-Form. Man könne die Form jedoch auch auf einer detaillierteren Ebene haben, wie es bei Rivers Sache geschehe, wo zum Beispiel ein Fünfer-Zyklus, der sieben Mal durchlaufen wird, gegen einen Siebener-Zyklus gesetzt sei, der in derselben Zeit fünf Mal durchlaufen wird. Rivers Sache sei für ihn aber immer noch Phraseologie, Phrasierung. Auf einer darunter liegenden Ebene sehe er das, was Ed Blackwell machte, wo ein gewisser Rhythmus gegen einen anderen gesetzt ist – individuelle Figuren, die gewöhnlich kurz sind. Er habe begonnen, die verschiedenen Figuren, die Musiker wie Charlie Parker spielten, zu betrachten – diese eigentümlichen rhythmischen Zellen.6)
Sam Rivers habe ihn viel hinsichtlich der melodischen Rhythmen beeinflusst.7)
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