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Tristano-Einfluss


Die Musikwissenschaftlerin Eunmi Shim schrieb in ihrem Buch Lennie Tristano. His Life in Music (2007), Tristano habe unbestreitbar eine große Zahl an Musikern beeinflusst, auch wenn viele Jazz-Musiker dazu neigen würden, Tristanos Einfluss und Leistung zu verschweigen.1) Shim zitierte Lee Konitz, der sagte, Tristano sei von vielen „schwarzen“ Musikern nie anerkannt worden, obwohl sie „einiges von ihm erhielten“.2) Am Ende ihres Buches bemühte sich Eunmi Shim, Tristanos Einfluss auf Musiker außerhalb des Kreises seiner Studenten zu belegen:

Pianisten

Shim stellte zunächst Tristanos Einfluss auf folgende Pianisten dar:

BILL EVANS
Evans war „weiß“ und bekannte sich zu Tristanos Einfluss, sagte allerdings, er sei vor allem von Tristanos Ideen, weniger von seinem Klavierspiel beeinflusst worden.3)

SONNY CLARK
Der Afro-Amerikaner Clark gilt als „bluesorientierter“ „Hardbop“-Pianist4), somit keineswegs als von Tristano beeinflusster Musiker. Shim meinte auch lediglich, er habe seinen Respekt für Tristanos „technische Fähigkeiten und Konzeption“ ausgedrückt. Eine Ähnlichkeit der Spielweise behauptete sie nicht.5)

RED GARLAND
Er war ebenfalls Afro-Amerikaner und machte nach Shim dadurch eine „eindeutige Referenz auf Tristanos Aufnahmen aus 1955“, dass er im Jahr 1956 in zwei Stücken ausnahmsweise sein Solo nur mit der rechten Hand im tiefen Register spielte. 1987 habe das auch MULGREW MILLER in einem Stück getan.6)

HERBIE HANCOCK
Für sein einhändiges Spiel im Miles-Davis-Album Miles Smiles (1966) nannte der Afro-Amerikaner Hancock andere Gründe als einen Tristano-Einfluss. Er sagte jedoch: Da er Tristano mochte, wird Tristano ansonsten schon auf irgendeine Weise auf ihn abgefärbt haben, allerdings nicht in Form eines direkten Einflusses. Besonders beeindruckt war Hancock von den rhythmischen und melodischen Überlagerungen in Tristanos Stück Turkish Mambo7). Das sei damals einem „freien“ Spiel am nächsten gekommen, zumindest habe es wie „frei“ geklungen. Auch vom Erfindungsreichtum der Tristano-Band soll Hancock beeindruckt gewesen sein.8) Das Spektrum von Hancocks musikalischen Interessen war jedoch breit und erstreckte sich „von Stockhausen, Bartók und Strawinsky bis hin zu Popmusik"9).

KEITH JARRETT
Shim schrieb, dass der „weiße“ Pianist Keith Jarrett zwar Tristano nicht zu seinen Einflüssen zählte, es jedoch offensichtlich sei, dass Tristano als „bedeutende Stimme des Jazz-Pianos“ in Jarretts Bewusstsein ist. Allerdings habe Jarrett gesagt, er hasse die Art, wie Tristano ständig genau auf dem Beat spielte.10) In einem vom „weißen“ Pianisten Ethan Iverson im Jahr 2009 geführten Interview sagte Jarrett, Tristano sei für ihn „sehr, sehr bedeutend, als Denker, durch die Art, wie er schnell reagieren konnte“.11)

WEITERE PIANISTEN
Als weitere Pianisten, die einen Tristano-Einfluss anerkannt haben sollen, wenn auch nicht vorbehaltlos, nannte Shim: Paul Bley, Clare Fischer, Jaki Byard, Borah Bergman.12) Clare Fischer sagte aber zum Beispiel: „Ich liebte Lester Young und Coleman Hawkins, Don Byas – nicht so sehr die Pianisten. Ich sah, dass Tristano komplizierte Sachen machte, aber er verschaffte mir nie das Feeling, das ich von denen bekam. Tristano war mir zu gekünstelt; er klang schrecklich geplant.“13)

 

Wayne Shorter

Im Zusammenhang mit Herbie Hancock führte Shim folgende Ansicht des Jazz-Kritikers Stanley Crouch an: Mitte der 1960er Jahre sei neben Hancock auch der Saxofonist der damaligen Miles-Davis-Band, Wayne Shorter, von der Chromatik Tristanos und Warne Marshs beeinflusst gewesen.14) Crouch schrieb: Tristano, Konitz und Marsh hätten ihren eigenen Weg gefunden und das sei der bedeutendste Punkt an der Tristano-Schule. Einfluss auf den gesamten Jazz hätten sie wenig gehabt. Den dynamischsten Einfluss könne man in Wayne Shorters Spiel bei Miles Davis im Plugged Nickel15) hören – in diesen „Rhythm-Changes“16), die unter anderem Brandford Marsalis und Joe Lovano stark beeinflusst hätten.17)

Der Pianist Ethan Iverson erwähnte, dass sich Wayne Shorter zu seiner Bewunderung für Warne Marsh öffentlich bekannt habe18) und Branford Marsalis den Wunsch geäußert habe, Shorter würde ein wenig deutlicher in gedruckter Form sagen, wie viel er von Marsh beeinflusst war19).

Lee Konitz bezeichnete Wayne Shorter als einen seiner „großen musikalischen Helden“20) und deutete an: „Mark Turner, Joe Henderson und Wayne Shorter kannten Warne Marshs Spiel.“21) Allerdings meinte er zu einem der Stücke der Plugged-Nickel-Aufnahmen: In Stella By Starlight22 gehe Shorter nach einer Reihe von „brillanten Chorussen in die Melodie und das haute mich um. Aber ich hörte ihn nie wirklich die Ebenen darunter spielen, wie es Warne [Marsh] machte.“23) Zum Thema „Chromatik“ sagte Konitz unter anderem: „Charlie Parker verwendete sehr elementare Chromatik, innerhalb der Tonart. Wayne Shorter ist jedoch völlig weg von der grundlegenden Harmonie, besonders in seinem Plugged-Nickel-Spiel – fantastisch!“24) Es wäre wohl verfehlt, jede ausgeprägte Chromatik im Jazz auf einen Tristano-Einfluss zurückzuführen. Ansonsten erscheint ein gewisser Einfluss von Warne Marsh auf Shorters damaliges Spiel nach den hier angeführten Aussagen wohl als wahrscheinlich.

 

Free Jazz

Mitunter wird ein Einfluss von Tristanos „frei“ improvisierten Stücken Intuition und Digression aus dem Jahr 1949 auf Musiker der späteren Free-Jazz-Bewegung behauptet. Diese beiden Tristano-Aufnahmen entstanden auf folgende Weise: Tristano forderte einmal die Musiker seiner Band (Lee Konitz, Warne Marsh und andere) dazu auf, einfach zu spielen, ohne an Akkordfolgen zu denken. Eine solche „freie“ Improvisation gehörte dann für eine kurze Zeit im Jahr 1949 zum Programm der Tristano-Band bei Klubauftritten. Intuition und Digression sind die aufgenommenen Beispiele dafür. Diese Spielweise wurde jedoch bald aufgegeben und Warne Marsh sagte später, dass es beim ersten Mal, als sie damit experimentierten, am besten war.25)

Zur Frage, ob diese beiden „freien“ Tristano-Stücke einen Einfluss auf die Free-Jazz-Bewegung hatten, meinte Eunmi Shim zunächst: „Zwischen den 1949er Aufnahmen und dem Free-Jazz der 1960er Jahre bestehen signifikante Unterschiede sowohl hinsichtlich des kulturellen und sozialen Kontexts als auch in der musikalischen Herangehensweise, die es schwierig machen, einen direkten Einfluss auf Tristano zurückzuführen.“26) Shim erörterte dann die Frage eines Einflusses auf folgende vier Musiker:

ORNETTE COLEMAN
Laut Shim gibt es wahrscheinlich nur einen Autor, der je eine Verbindung von Ornette Coleman zur Tristano-Schule behauptete, nämlich den Engländer Roger T. Dean, der eine Verbindung in Colemans „Ketten-Improvisationen“, einer „Art motivischer Improvisation“, sah.27) Der Ausdruck „Ketten-Improvisationen“ scheint auf Ekkehard Jost zurückzugehen, der für Colemans Improvisationsweise den Begriff „motivische Kettenassoziation“ erfand28) – eine Improvisationsweise, die Gunther Schuller bereits 1961 so beschrieb: „Kurze Motive werden aus jeder nur denkbaren Richtung angegangen, werden sequenzierend auf vielfache Weise bearbeitet, bis sich daraus ein Übergang zu einem neuen, kontrastierenden Motiv ergibt, das dann seinerseits auf ähnliche Weise entwickelt wird, nur um zu einem weiteren Glied in der Kette musikalischer Gedanken zu führen – und so fort […]“29). Ornette Coleman entwickelte dabei vom ursprünglichen Thema weitgehend unabhängige Motive, doch lassen sich motivische Improvisationen in der Jazz-Geschichte bis zurück zu Louis Armstrong finden.30) Ornette Colemans Stil war eigenwillig und neuartig, aber in der Jazz-Tradition und in der afro-amerikanischen Volksmusik der Südstaaten verwurzelt. Er hatte diesen Stil in einem Umfeld und in einer persönlichen Situation entwickelt, die extrem weit von der Welt der Tristano-Schule entfernt war31), und seine Musik hat einen so grundsätzlich anderen Charakter als die Tristano-Musik, dass die Vermutung eines nennenswerten Tristano-Einflusses als abwegige Idee erscheint. Sie ist aus gutem Grund von niemandem sonst aufgegriffen worden.

CECIL TAYLOR
Shim wies darauf hin, dass der afro-amerikanische Pianist Cecil Taylor Tristano als frühen Einfluss anerkannt habe, sie erwähnte aber auch kritische Bemerkungen Taylors, nach denen Tristanos Konzept dem Swing verhaftet und nicht authentisch afro-amerikanisch sein soll.32) Taylor wuchs in bürgerlichen Verhältnissen auf, studierte an einem Konservatorium, entwickelte eine Vorliebe für Bartók und Strawinsky und begeisterte sich im Bereich des Jazz zunächst vor allem für Tristano und Dave Brubeck. Er sagte später: Tristanos Ideen „interessierten mich, weil er in der Lage war, ein Klaviersolo zu konstruieren, und ich glaube, das ist auch der Grund dafür, dass ich Brubeck mochte. Brubeck war die andere Hälfte von Tristano: Tristano besaß das Lineare und Brubeck die harmonische Dichte, nach der ich strebte.“ Nachdem er mit afro-amerikanischen Musikern in Kontakt kam, begann er seinen europäischen musikalischen Hintergrund zu verdrängen, was zunächst „etwas durchaus Programmatisches“ an sich hatte und sich „mehr in verbalen Bekenntnissen zum ‚schwarzen‘ musikalischen Erbe als faktisch“ in seiner Musik äußerte. Allmählich ergab sich daraus jedoch ein entscheidender Einfluss auf seine weitere stilistische Entwicklung, wobei Taylor seine europäischen Einflüsse aber grundsätzlich weiterhin akzeptierte.33) Taylor sagte: „Für mich ist das Klavier nichts als eine Trommel mit 88 Tasten, und die Saiten sind dazu da, um sie anzuschlagen, damit die musikalischen Strukturen sich immer weiter aufbauen, aber im vertikalen, nicht im horizontalen Sinne. Mit anderen Worten: Für jeden Ton, der angeschlagen wird, sollte es eine ganze Anzahl von Vibrationen geben, die zu hören sein müssen.“34) „Wir schwarzen Musiker behandeln das Klavier wie ein Rhythmus-Instrument […] Die Europäer bewundern Bill Evans wegen seines Anschlags. Doch die Körperkraft, die beim Machen von schwarzer Musik aufgewendet wird, führt […] dazu, dass du schreist.“35) Das mag so nicht verallgemeinerbar sein, jedenfalls nicht in so drastischer Form, doch machen bereits diese Aussagen deutlich, wie weit Cecil Taylors Musik von Tristano und Brubeck entfernt ist. Eine Verbindung Taylors zur Tristano-Musik bestand offenbar lediglich in jungen Jahren im Zusammenhang mit seiner bürgerlich, europäisch orientierten Ausbildung.

ANTHONY BRAXTON
Der afro-amerikanische Alt-Saxofonist Braxton empfand nach Shims Ausführungen Tristanos „melodische Welt“ als etwas Besonderes und er sagte, die Tristano-Leute seien Teil seiner Gründe dafür, Musiker geworden zu sein. Sie seien jedoch in den 1970er Jahren als „nicht-sanktionierte“ Musiker nahezu völlig aus dem Gesichtsfeld des Musikgeschäftes verdrängt worden. – Ethan Iverson schrieb: „Anthony Braxton hat wiederholt gesagt, dass die Tristano-Schule ein bedeutender Einfluss auf sein Werk war, aber was Braxton bewundert, ist Tristanos, Warne Marshs und Lee Konitz‘ Spiel zu Akkordfolgen. Soweit ich weiß, hat er keine ernsthafte Beziehung zu Intuition und Digression (Braxtons eigenes heißes Free-Form-Saxofonspiel würde diese tastende Musik im Nu verwüsten).“36) Tatsächlich wählte Braxton offenbar stets Kompositionen mit Akkordstruktur, wenn er sich auf die Tristano-Schule bezog, etwa in seinem Warne Marsh gewidmeten Album Eight (+3) Tristano Compositions 1989.37) Dieses Album zählt zu jenem Seitenarm des facettenreichen Werkes Braxtons, den Peter Niklas Wilson unter der Überschrift The Standard Braxton: Anthony Braxton als Interpret traditioneller Jazzthemen am Ende seines Buches über Braxton darstellte.38) – Braxton war seit seiner Kindheit, die er im beängstigenden, von Elend, Gewalt und Drogen geprägten Umfeld eines afro-amerikanischen Ghettos39) erlebte, in einer Außenseiter- und Einzelgänger-Position. Er begeisterte sich unter anderem für Marschmusik, für Dave Brubeck mit Paul Desmond, später für Philosophie, Arnold Schönberg, Karl-Heinz Stockhausen. „Er ist einer der ersten afro-amerikanischen Musiker, die die Abstraktion in der Pflicht der zeitgenössischen europäischen Kunstmusik begreifen, und seiner Musik scheint oft eine Art vorsätzlicher Intellektualismus zugrunde zu liegen. Oft hat man ihm […] Unfähigkeit zu swingen vorgehalten […]. Ob er nun swingt oder nicht, seine unermüdliche Schöpfungskraft sucht unablässig nach neuen Ventilen.“ (Ian Carr)40) Braxton ist aber auch „ein typischer Exponent der AACM41)-Schule: Wie die meisten Musiker dieser Bewegung legt er größten Wert auf die Kontinuität schwarzer Musik und lehnt die isolierte Betrachtung und Glorifizierung einzelner Facetten zu Lasten anderer ab.“42) Als Argument für die Tristano-Schule führte er unter anderem ins Treffen: „Das Erste, was man tun musste, um bei Tristano zu studieren, war, alle Parker-Soli zu singen, alles von Prez [Lester Young] zu lernen […].“43) Lee Konitz war allerdings mit der Art und Weise, wie Braxton im oben genannten Album Tristano- und Warne-Marsh-Stücke interpretierte, überhaupt nicht einverstanden. Über Braxtons Solo im Stück April sagte er sogar, es sei das „schlechteste Solo, das ich in meinem Leben je gehört habe“.44) Braxton näherte sein Saxofon-Spiel also nicht einmal in den Warne Marsh gewidmeten Aufnahmen dem Stil der Tristano-Schule an. Er hielt zwar (im Gegensatz zu Cecil Taylor) bis ins Alter seine Wertschätzung für die Tristano-Musik aufrecht, seine eigene Musik wurde davon aber offenbar nicht in einer unmittelbaren Weise beeinflusst.

JIMMY GIUFFRE
Der „weiße“ Klarinettist und Saxofonist Jimmy Giuffre verfolgte laut Shim ähnliche musikalische Ziele wie Tristano (vor allem in Bezug auf Kontrapunkt und freie Improvisation). Er sei ebenfalls weitgehend unterschätzt und missverstanden worden, habe ähnlich wie Tristano Probleme mit Rhythmusgruppen gehabt und sei wie Tristano nach einer kurzen Zeit der öffentlichen Aufmerksamkeit als Nonkonformist mit einer „Zensur der Jazz-Polizei“ belegt worden.45) Der englische Pianist Brian Priestly schrieb: „Ab Anfang der 1950er bis in die 1960er war Giuffre ein bekennender Experimentalist, klang aber weder unter den West-Coast-Anhängern noch unter der New Yorker Avantgarde besonders überzeugend. Ähnlich verhält es sich mit seinen Kompositionen für großes Ensemble […], die irgendwie dünn wirken. Aber der beherrschte Klarinettist und Saxophonist […] schürfte in einer engen Ader, die nicht ohne Charme war, wie die fortwährende Popularität von The Train And The River bewies.“46) Lee Konitz, der immer wieder Kontakt zu Giuffre hatte und mit ihm auch Aufnahmen machte, fand Giuffres Musik „hübsch“47) und schätze die persönliche Intimität seiner Musik.48) – Giuffre hatte nur sehr wenig mit der Free-Jazz-Bewegung gemeinsam.

ZUSAMMENFASSUNG
Zur Frage nach einem Tristano-Einfluss auf die Free-Jazz-Bewegung sind somit folgende Aussagen überzeugend:

Iverson erwähnte im Übrigen auch Tristanos Stück Descent Into the Maelstrom aus dem Jahr 1953, das „weit kraftvoller“ als Intuition und Degression sei, da in der Konzeption des Stücks Dramatik ein wesentliches Element sei. Doch kommt ein Einfluss dieser Aufnahme auf die Entstehung des „Free Jazz“ schon deshalb nicht in Frage, weil es erst im Jahr 1977 veröffentlicht wurde. Außerdem hat Tristano das Stück aus mehreren getrennten Aufnahmen und wahrscheinlich auch mit Veränderungen der Tonband-Geschwindigkeit in aufwendiger Studio-Arbeit zusammengesetzt, sodass dieses Stück auch nicht in einer für „Free Jazz“ typischen Weise entstand. Letztlich bleibt nach Iversons Auffassung auch dieses Stück nur eine „Fußnote im Vergleich zu Tristanos leidenschaftlichen Innovationen beim Arbeiten mit Akkordfolgen.”51)

 

MARK TURNER

Schließlich nannte Shim noch folgende drei Musiker:

JOE HENDERSON
Shim wies lediglich darauf hin, dass dieser afro-amerikanische Tenor-Saxofonist nach Lee Konitz’ Aussage Tristanos Aufnahmen kannte.52)

PAQUITO D’RIVERA
Dieser kubanische Saxofonist nahm ein auf Tristano Bezug nehmendes Stück auf. Das ist alles, was Shim zu ihm bemerkte.53)

MARK TURNER
Der 1965 geborene afro-amerikanische Tenor-Saxofonisten Mark Turner trug als ein von vielen Studenten nachgeahmter Musiker in neuerer Zeit viel dazu bei, dass die Tristano-Schule wieder mehr beachtet wurde. Turner fand, dass in Tristanos Musik zwar das „rhythmische Element der afrikanischen Diaspora“ nicht stark genug vorhanden war, Tristanos „harmonische und melodische Information“ aber so interessant ist, dass er sie in einen „rhythmisch wärmeren Platz“ einbringen wollte. Turner fühlte sich in jungen Jahren von Warne Marshs Stil angesprochen und erklärte sich das im Zusammenhang damit, dass er in einer überwiegend „weißen“ Nachbarschaft (in Süd-Kalifornien) aufwuchs. Die jungen Musiker, die sich in neuerer Zeit verstärkt der Tristano-Schule zuwandten, sind ebenfalls größtenteils „weiß“.54)

 

Zusammenfassung

Shim führte zwar eine beachtliche Reihe von Musikern an, doch ist bei vielen von ihnen fraglich, inwieweit sich ein Tristano-Einfluss tatsächlich in ihrer Musik niederschlug. Eine Wertschätzung für die Musik des Tristano-Kreises allein stellt noch keinen Einfluss dar. Bezog sich ein Musiker lediglich in einzelnen Stücken einmal auf den Tristano-Kreis, dann rechtfertigt das noch nicht, ihn zu den von Tristano beeinflussten Musikern zu zählen. Es genügt auch nicht, wenn zwar irgendein Einfluss wahrscheinlich ist, dieser aber sehr diffus bleibt. Auch verzerrt es das Bild, wenn man bei einem Musiker, der viele unterschiedliche Einflüsse verarbeitete, isoliert von nur einem bestimmten Einfluss spricht. So wäre es etwa bei all dem, was Herbie Hancock in seine Musik aufgenommen hat, abwegig, ihn als einen Tristano-beeinflussten Pianisten zu betrachten – nur, weil er früher einmal in einer bestimmten Phase die Tristano-Musik schätzte und deshalb irgendwie von ihr beeinflusst worden sein dürfte. Es ist auch zu unterscheiden, ob ein Musiker im Wesentlichen nur Ideen Tristanos aufgriff oder tatsächlich auch die Musik der Tristano-Schule als Vorbild nahm, so wie viele Saxofonisten Charlie Parkers musikalische Sprache in erheblichem Maß übernahmen.

Im Vergleich zum Einfluss, den die berühmten Musiker der Jazz-Geschichte ausübten, erscheint der Tristano-Einfluss als sehr gering. Das sagt nichts über den Wert der Musik von Tristano, Warne Marsh und Lee Konitz aus. Was die Auswirkungen ihrer Musik in der Jazz-Geschichte anbelangt, würde es jedoch die Relationen zu Musikern wie Charlie Parker, Miles Davis und John Coltrane verzerren, wenn man Tristano und seine Schüler als einflussreiche Figuren der Jazz-Geschichte darstellen würde.

Der Jazz-Kritiker Nate Chinen umriss den Tristano-Einfluss mit folgender Aussage: „Der Kritiker Stanley Crouch argumentierte scharfsinnig, dass Wayne Shorter und Herbie Hancock von Marsh und Tristano bezogen, und es ist zumindest ein Flüstern von Tristano in Keith Jarretts Pianistik zu hören“.55) Dabei bezog sich Crouchs Vermutung lediglich auf Hancocks und Shorters Spiel in der Mitte der 1960er Jahre. Man mag in gewisser Weise Bill Evans ergänzen, aber sonst bleibt an bedeutendem Tristano-Einfluss bei näherer Betrachtung wohl nicht viel mehr als Nate Chinens Aufzählung übrig, zumindest aus der Zeit vor dem Auftreten Mark Turners in den 1990er Jahren.

 

Imaginierte Einflüsse

Es ist gewiss in vielen Fällen schwierig, die Einflüsse, die für die Spielweise eines Musikers maßgeblich waren, zu erfassen. Oft findet man völlig beliebige, verwirrende Behauptungen über Einflüsse. Es ist zum Beispiel bereits problematisch, wenn die Musikwissenschaftlerin Eunmi Shim in ihrem Buch über Tristano die Behauptung eines Jazz-Kritikers in den Raum stellt, Ornette Coleman sei von Tristano beeinflusst – umso mehr, als sie in diesem Zusammenhang folgende Aussage von Lee Konitz ins Treffen führte: Die Free-Jazzer hätten Tristanos Aufnahmen gewiss irgendwo gehört, der Free-Jazz käme ja nicht von nirgendwoher.56) Das ist keine seriöse Argumentation. Wenn Tristano auf die Idee kam, „frei“ zu improvisieren, warum sollte Ornette Coleman nicht eigene Ideen für eine „freie“ Spielweise entwickelt haben? Wird dem „schwarzen Landei“ Coleman aus dem tiefen Süden etwa nicht zugetraut, ohne die Ideen der „intellektuellen Weißen“ etwas Bemerkenswertes entwickelt zu haben?

Wie freizügig Einflüsse mitunter herbeigedeutet werden, zeigt die folgende Aussage eines Jazz-Kritikers über einen Einfluss des Tristano-Kreises auf den afro-amerikanischen Saxofonisten Steve Coleman: „Coleman nennt Konitz als einen wichtigen Einfluss auf seine eigene Entwicklung. ‚Ich war immer von seinem melodischen Sinn und der Tatsache beeindruckt, dass er keine Klischees spielte.‘ Auf Konitz‘ Zusammenarbeit mit Tristano, Sal Mosca und Warne Marsh bezogen, sagte Coleman: ‚Auch wenn Lee [Konitz] sich davon später wegbewegte, so assoziiere ich ihn immer noch mit dieser Gruppe von Leuten, denn sie schienen alle diese kreative Sache zu haben, bei der sie wirklich erfanden, statt einfach zu spielen, was sie kannten. Und das war es, was mich an ihm am meisten beeindruckte und nach wie vor beeindruckt.‘57)

Bei aller Wertschätzung für Konitz, die Steve Coleman hier ausdrückte, geht aus seiner Aussage keineswegs hervor, dass seine Entwicklung von Konitz beeinflusst worden wäre, wie der Jazz-Kritiker behauptete. Bei anderer Gelegenheit erklärte Coleman unmissverständlich, vom Tristano-Kreis nicht beeinflusst worden zu sein58), und in einem Interview erzählte er: „Ein paar Mal sagten Leute, mein Spiel würde sie an Lee [Konitz] erinnern, allerdings in Situation, in denen ich Standards oder sowas spielte. Leute ziehen Vergleiche entsprechend dem, was sie kennen. Es ist eine Sache eines inneren Vergleichs. Wenn einer schon sein ganzes Leben lang auf Eric Kloss steht, wird er sagen: ‚Du klingst wie Eric Kloss.‘ Ich sage: ‚Komm schon, Mann?!‘ Aber für diese Person ist es eben so, man kommt dagegen nicht an.59)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. S. 208
  2. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 207
  3. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 208
  4. QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 210
  5. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 208
  6. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 208f.
  7. Album Lennie Tristano (1955)
  8. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 209
  9. QUELLE: Ian Carr, Miles Davis, deutschsprachige Ausgabe, 1985, S. 167
  10. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 209
  11. QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Keith Jarrett, 2009, Iversons Internetseite Do The Math, Internet-Adresse: https://ethaniverson.com/interviews/interview-with-keith-jarrett/, eigene Übersetzung
  12. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 210
  13. QUELLE: Andy Hamilton, Lee Konitz, 2009, S. 65
  14. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 209
  15. Lokal in Chicago; Album Miles Davis: The Complete Live At The Plugged Nickel 1965 oder Cookin’ At The Plugged Nickel
  16. Akkordwechsel, ursprünglich des Songs I Got Rhythm (von George Gershwin)
  17. QUELLE: Ethan Iverson, A Note on Tristano from Stanley Crouch, in: All in the Mix [Lennie Tristano], 2008, Iversons Internetseite Do The Math, Internet-Adresse: https://ethaniverson.com/rhythm-and-blues/all-in-the-mix-lennie-tristano/
  18. QUELLE: Ethan Iverson, Warne Marsh + Lee Konitz/Sal Mosca/Bill Evans, 14. Mai 2008, Iversons Internetseite Do The Math, Internet-Adresse: http://thebadplus.typepad.com/dothemath/2008/05/warne-marsh-lee.html
  19. QUELLE: Nate Chinen, Ted and the Tristano School, 8. Jänner 2011, Internet-Adresse: http://thegig.typepad.com/blog/2011/01/ted-and-the-tristano-school.html
  20. QUELLE: Andy Hamilton, Lee Konitz, 2009, S. 157
  21. QUELLE: Andy Hamilton, Lee Konitz, 2009, S. 60, eigene Übersetzung
  22. Album Cookin‘ At The Plugged Nickel (1965)
  23. QUELLE: Andy Hamilton, Lee Konitz, 2009, S. 157, eigene Übersetzung
  24. QUELLE: Andy Hamilton, Lee Konitz, 2009, S. 202, eigene Übersetzung
  25. QUELLE: Ethan Iverson, Tristano’s Free Jazz (& Poetry), 15. Mai 2008, Internet-Adresse: http://destination-out.com/?p=181
  26. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 210, eigene Übersetzung
  27. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 210, Quellenangabe: Roger T. Dean, New Structures in Jazz and Improvised Music since 1960, 1991
  28. QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002/1975, S. 61
  29. QUELLE: Begleittext des Albums Ornette! (1961), zitiert in: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 45
  30. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1991, S. 79
  31. Siehe die Darstellung von Colemans Werdegang in: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 19f. und 25f. Joachim-Ernst Berendt (gestützt auf Marshall Stearns): Ornette Coleman stehe der „volksmusikalischen harmonischen Ungebundenheit […] des archaischen Folk Blues näher als der ‚abstrakten‘, intellektuellen europäischen Atonalität.“ Coleman habe „erst in den Jahren, in denen er John Lewis und Gunther Schuller kennenlernte – 1959/60 –, erfahren dass es auch in der europäischen Musik freitonale Klänge gibt. Seine eigene Musik war damals in ihrer Konzeption bereits fertig ausgeprägt.“ (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 46)
  32. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 210
  33. QUELLE der gesamten Darstellung ab vorhergehender Fußnote, einschließlich Zitate: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002, S. 83
  34. QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 1327
  35. QUELLE: Ian Carr/Digby Fairweather/Brian Priestly, Rough Guide Jazz, deutschsprachige Ausgabe, 2004, S. 667
  36. QUELLE: Ethan Iverson, Tristano’s Free Jazz (& Poetry), 15. Mai 2008, Internet-Adresse: http://destination-out.com/?p=181, eigene Übersetzung
  37. Braxtons Beziehung zur Tristano-Schule spiegelt sich nicht nur im genannten (Marsh gewidmeten) Album sowie in früheren Versionen von Warne-Marsh-Kompositionen wieder, sondern „auch in Braxtons Auswahl von Broadway-Material: Nicht zufällig bevorzugt er hier Themen […], die schon Lieblings-Vehikel der Tristanoiten waren (auch die Eigenkompositionen Tristanos, das sei am Rande vermerkt, sind ja in der Regel melodische Neu-Ausdeutungen der harmonischen Progressionen einer relativ kleinen Zahl von Broadway-Melodien […])“. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Anthony Braxton. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1993, S. 212)
  38. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Anthony Braxton. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1993, S. 209
  39. Er wuchs im Chicagoer Viertel South Side auf und erzählte: „[…] 10 oder 15 Jahre nach der grammer school waren, schätze ich, 70 % der jungen Männer und Frauen, mit denen ich aufwuchs , entweder tot oder im Gefängnis, und von den überlebenden 30 % lebten etwa zwei Drittel in schwerer Armut […].“ Für die hohe Todesrate waren nicht nur Drogen verantwortlich, sondern auch die Jugendbanden, die damals die South Side unsicher machten. (QUELLE: Peter Niklas Wilson. Anthony Braxton, Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1993, S. 19)
  40. QUELLE: Ian Carr/Digby Fairweather/Brian Priestly, Rough Guide Jazz, deutschsprachige Ausgabe, 2004, S. 81
  41. Chicagoer Musikervereinigung
  42. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Anthony Braxton. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1993, S. 210
  43. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Anthony Braxton. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1993, S. 214
  44. QUELLE: Andy Hamilton, Lee Konitz, 2009, S. 217, eigene Übersetzung
  45. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 211
  46. QUELLE: Ian Carr/Digby Fairweather/Brian Priestly, Rough Guide Jazz, deutschsprachige Ausgabe, 2004, S. 251
  47. nice
  48. QUELLE: Andy Hamilton, Lee Konitz, 2009, S. 99
  49. QUELLE: Ethan Iverson, Tristano’s Free Jazz (& Poetry), 15. Mai 2008, Internet-Adresse: http://destination-out.com/?p=181, eigene Übersetzung
  50. QUELLE: Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, 2003, S. 150
  51. QUELLE: Ethan Iverson, Tristano’s Free Jazz (& POEtry), 15. Mai 2008, Internet-Adresse: http://destination-out.com/?p=181, eigene Übersetzung
  52. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 214
  53. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 214
  54. QUELLE der Informationen zu Mark Turner: Nate Chinen, Tristano School, Back in Session, 7. Jänner 2011, The New York Times, Internet-Adresse: http://www.nytimes.com/2011/01/09/arts/music/09tristano.html?_r=2&sq=jazz&st=nyt&scp=8&pagewanted=print
  55. QUELLE: Nate Chinen, Tristano School, Back in Session, 7. Jänner 2011, The New York Times, Internet-Adresse: http://www.nytimes.com/2011/01/09/arts/music/09tristano.html?_r=2&sq=jazz&st=nyt&scp=8&pagewanted=print, eigene Übersetzung
  56. QUELLE: Eunmi Shim, Lennie Tristano. His Life in Music, 2007, S. 210
  57. QUELLE: Russ Musto, Cool Konitz, 22. Jänner 2005, Internetseite All About Jazz, Internet-Adresse: http://www.allaboutjazz.com/php/article.php?id=15943, eigene Übersetzung
  58. Steve Coleman: „Obwohl das alles großartige Musiker sind/waren, bin ich nicht von Marsh, Konitz oder Tristano beeinflusst. Das mag Ethans [Iversons] Meinung sein, aber sie ist nicht richtig.“ (QUELLE: Steve Colemans Kommentar zu Nate Chinen, Ted and the Tristano School, 8. Jänner 2011, Internet-Adresse: http://thegig.typepad.com/blog/2011/01/ted-and-the-tristano-school.html)
  59. QUELLE: Michael Jackson, Alone Together, Zeitschrift Jazzwise, Nummer 72, Februar 2004, S. 30-34, eigene Übersetzung

 

 

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