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Steve Coleman Interview, Juli 1998

Thomas Stanley, Steve Coleman: the Order of Things1)
Eigene Übersetzung

 

Interviewer: Steve, hast Du Erinnerungen daran, wann Du zum ersten Mal Jazz-Musik gehört hast, als Du als Junger aufgewachsen bist?

Steve Coleman: Nein, denn sie war in unserem Haus ständig da. Sie muss also von Anfang an da gewesen sein. Sie war im Haus. Mein Vater, meine Mutter, sie hörten nach meiner Erinnerung ständig Musik. So hörte ich, als ich aufwuchs, alle Arten von Musik – alle Arten von Black Music jedenfalls. Meine Schwestern hörten ein kleines bisschen irgendwelchen Rock, aber hauptsächlich Sachen wie Hendrix und Funkadelic.

Interviewer: Ältere Schwestern?

SC: Ja, ich habe 2 ältere Schwestern, einen älteren Bruder und auch einen jüngeren.

  (Auszug aus einem anderen Interview:
Wir waren 5 Kinder und die 3 älteren hatten die Kontrolle über den Plattenspieler. Mein kleinerer Bruder und ich hatten keine Wahl. … Meine Schwestern mochten die Impressions und die Temptations, mein älterer Bruder mehr James Brown, „Härteres“. Mein Vater mochte Dexter Gordon, Sonny Stitt, Charlie Parker, Ray Charles, Dinah Washington, Billie Holiday usw., meine Mutter Nancy Wilson, Aretha Franklin usw. … Von den Beatles kannte ich wohl den Namen der Gruppe, aber ich hätte nicht die Namen der Mitglieder nennen können – und kann es auch heute nicht. Sie waren völlig außerhalb meines Universums in der South Side von Chicago. Manchmal hörten meine Schwestern Jimi Hendrix, aber für die Mehrzahl der „Schwarzen“ war das eher außergewöhnlich. Man dachte, dass die Leute, die Hendrix hörten, LSD nehmen mussten. Hendrix war etwas für progressive Leute, die Miles oder Funkadelic hörten ….
Blindfold-Test, Ende 2001, mit Frédéric Goaty2))

Ich hörte all das, was meine Geschwister, meine Mutter und mein Vater, meine Onkeln und alle anderen mochten, also Musik aus jeder Altersgruppe. Die einzige Unterscheidung von Musik war die in eine Musik, die eher ältere Leute hörten, und in die, die jüngere Leute hörten. So hab ich es nicht „Jazz“ oder sonst wie genannt, sondern einfach Musik, die ältere Leute hören (lacht). Ansonsten wusste ich, dass das alles Black Music ist. Ich sah die Covers der Alben, die Gesichter darauf usw.. So unterschied ich gewissermaßen. Und ich wusste, dass es Musik gab, die überwiegend von „weißen“ Leuten gemacht wurde und die anders klang. Was die Leute heute Blues, Jazz, Funk, R&B oder wie auch immer nennen, diese ganze Sache war einfach Black Music.

Interviewer: Was hat die Musik in Dir gefühlsmäßig ausgelöst, das Dich als Spieler zu ihr hinzog, als Du zum ersten Mal mit dem Instrument in Berührung kamst?

SC: Das ist schwer zu sagen. Wie für die meisten „schwarzen“ Leute in der South-Side von Chicago war für mich Musik einfach ein Teil der Community. Wir haben sie deshalb nicht als eine eigene Sache betrachtet. Sie war etwas, das einfach da war. Sie war der Sound von allem anderen. So kann man es beschreiben. Ich hab Musik also nicht als etwas Separates betrachtet, obwohl ich sah, dass es Leute gab, die Musik machten, und Leute, die keine Musik machten. Als ich mit dem Musik-Spielen begann, fühlte es sich einfach gut an. Es fühlte sich natürlich an. So kann ich es am besten ausdrücken. Ich begann ungefähr mit 14 zu spielen. Davor war ich in diesen kleinen Gesangs-Gruppen, die die Jackson 5 imitierten, ich sang in der Kirche usw.. So war das Musik-Machen immer schon da. Aber es wurde erst etwa mit 14 ernsthaft. Damals begann ich Musik zu lernen, zu lernen, was die Noten am Papier bedeuten, also die technischen Dinge. Mit 17, 18 wurde ich dann wirklich sehr ernsthaft und stieg tiefer in die Strukturen ein. Das war die Zeit, in der ich mich mit der Musik von all den Leuten wie Charlie Parker, Sonny Rollins und Coltrane zu beschäftigen begann. Denn ich erkannte, dass das, was die gemacht haben, auf einer anderen Ebene war als das, was die meisten machten. Ich mein das im Sinne von dem, was man wissen und können musste, und auch hinsichtlich dessen, was sie versucht haben, durch ihre Musik auszudrücken. Die meiste Pop-Musik dreht sich um Sex oder Tanz oder bei vielen Rappern um Dinge wie: „Ich bin der Größte, Du bist Scheiße“.

Interviewer: Die elenden Komplexitäten der romantischen Liebe.

SC: Du kennst das (lacht). Das meiste davon ist Liebes-Musik und wenn es nicht Liebes-Musik ist, dann ist es Tanzmusik bis zum Umfallen oder so etwas, aber da gibt es nicht viel Komplexität in den Inhalten. Allerdings gab es damals auch Musiker wie Stevie Wonder, Marvin Gaye und andere, die über eine Vielfalt von Themen geschrieben haben – über das Leben, über Dinge, die geschehen, politische Dinge, Krieg, gewisse Situationen, in die Du geraten kannst, usw.. Ich stellte schon früher fest, dass es einige Künstler gab, die eine große Bandbreite von Dingen machten, und andere, die einen Love-Song nach dem anderen herausbrachten, die also mehr begrenzt waren. Anfangs mochte ich die Musik, die im Radio gespielt wurde. Ich denke, Du würdest das R&B oder so nennen. Diese Art von Musik wurde dann aber gewissermaßen von der Disco-Ära abgelöst. Alles bewegte sich in Richtung Donna-Summer-Art. Das vertrieb mich irgendwie und ich sah mich nach etwas anderem um. Damals begann ich mich mit improvisierten Formen zu beschäftigen. Denn ich suchte nach etwas Interessanterem. Ich erinnere mich, wie das Zeug von all den Musikern, die ich mochte, James und George Clinton und all diesen Leuten, wie das immer mehr Disco-artig klang – mit jeder neu erscheinenden Platte in den späten 70iger-, Anfang der 80iger-Jahre. Damals also begann ich, mich nach etwas anderem umzuschauen, denn ich mochte die Richtung nicht, in die es ging. Vor allem mochte ich die Rhythmen nicht – diese Bumm-bumm-bumm-Sache. Ich mag das bis heute nicht. Das hat mich nach anderem umschauen lassen. Und damals spielte ich bereits. So verstand ich, was es musikalisch war, das lief, im Gegensatz zum bloßen Empfinden.

Interviewer: Rhythmus handelt von der Zeit, von strukturierter Zeit, egal ob diese Struktur absichtlich in ein Schema gefügt werden oder wir sie bloß wahrnehmen. Rhythmus steckt auch in einer Menge anderer Dinge als Musik und ich wäre gespannt, ob Du über einige Dinge erzählen kannst, wo Du Rhythmus außerhalb der Musik hörst.

SC: Überall. Im Bereich des Sprechens. Der Rhythmus der Sprache. Natürlich in der Dichtkunst und all dem. Im Basketball und in der Art, wie Leute gehen. Er ist überall. Ich beziehe Rhythmus tatsächlich nicht einfach auf Musik. Zuerst einmal hat dieses Universum einen Rhythmus - nun, in Wahrheit ein komplexes Muster aus Rhythmen. Wenn man bloß die komplexe Umlaufbahn – sagen wir – des Mars oder Jupiter betrachtet oder was auch immer: das ist ein Rhythmus. Ich meine, ich weiß nicht, welchen Glauben Du hast. Was auch immer Dein Glaube ist, so ist es doch klar, dass nicht wir das Universum gemacht haben. Was auch immer geschah, egal ob man einfach denkt, dass es purer Zufall war, oder dass es da draußen einen Gott gibt oder was immer man glaubt. Ich persönlich glaube, dass das Universum eine Art Intelligenz hat. Es ist fast wie diese lebende Entität. Es gibt in ihm eine Ordnung. Nun können wir diese Ordnung vielleicht nicht immer verstehen, aber es ist klar, dass es eine Ordnung gibt, sonst gäbe es bloß Mist.

Interviewer: Chaos.

SC: Ja, völliges Chaos. Ich meine selbst dieses Sonnensystem. Diese Planeten umkreisen die Sonne seit Äonen. Und es gibt in dem eine gesamte Ordnung. Sie machen das weiterhin, sie laufen nicht durch Batterien. Es gibt eine gesamte Ordnung in der Art, wie Dinge funktionieren, ein geordnetes System und all das. Ich glaube, dass das grundsätzlich auf jeder Ebene geschieht, auch wenn wir es nicht erkennen können. So meine ich, das meiste von dem, was wir tun - vor allem in der Vergangenheit, in den uralten Zeiten - ist zu entdecken versuchen, was diese Ordnung ist, und wir beginnen schließlich, Teile davon nachzuahmen. Ich betrachte meine Musik als das. Sie ist einfach das, was ich vom Universum verstehen kann. Und all das versuche ich in meine Musik einzubringen. Das ist es, woher die Musik kommt. Die Dinge, die ich gewissermaßen ablehne, sind Dinge, die für mich nicht passen – nach meiner Meinung.

Interviewer: Vor den letzten paar Alben hattest Du die Gelegenheit, mit einer Gruppe kubanischer Musiker zu arbeiten. Ich denke, dass die Rhythmen, mit denen sie arbeiten, einige der höchstentwickelten und bezwingendsten auf diesem Planeten sind. Wie hat diese Erfahrung Deine Beziehung zu dieser Ordnung verändert?

SC: Es gibt 2 Orte, nein, eigentlich 3 Orte, nein 4 (lacht). Eigentlich gibt es eine Menge, an die ich denke. Es gibt ein paar Orte, an denen ich gewesen bin und die eine große Wirkung auf mich hatten – nicht unbedingt in einer offensichtlichen Weise. Ghana, wohin ich vor Kuba reiste. Ich verbrachte 5 Wochen in Ghana, in denen ich einfach herumreiste und studierte und Zeug erkundete. Wenn ich diese Orte aufsuche, dann erkunde ich vor allem das Glaubens-System der Leute, die Lebensstile, wie sie das ins Dasein übersetzen, und natürlich, wie sie es in die Musik übersetzen. Selbstverständlich bin ich an der Musik interessiert. Meine Reise nach Kuba war einfach eine Erweiterung von dem, was ich in Ghana tat. Und danach reiste ich nach Ägypten und dann nach Süd-Indien. Nun, all diese Orte mit Ausnahme von Ägypten … Was ich in Ägypten studierte, war speziell das alte Ägypten, nicht das moderne Ägypten. Das moderne Ägypten war wie diese arabische, islamische Sache, die sich heute abspielt. Aber kulturell war dennoch einiges davon interessant. Was ich wirklich studierte, war aber, was es da vor langer, langer Zeit gab. Und ich sehe die gesamte west-afrikanische Sache, wie Nigeria, Ghana, die Yoruba, die Akan und die verschiedenen Stämme, sogar hinunter bis in den Kongo und nach Kamerun und solche Orten, auch in Mali, wo etwa die Dogon leben, und diese Orte. Ich betrachte diese Kulturen in mancher Hinsicht als eine Erweiterung von dem, was im alten Ägypten geschah. In gewissen Aspekten. Als das alte Ägypten zerstört wurde, wurde es nicht auf einmal zerstört. Es wurde über eine Zeitspanne hinweg gewissermaßen abgebaut. Diese Kultur bildete auf verschiedene Weise eine Art Fundament oder Basis für eine Menge unterschiedlicher Kulturen. Ich denke, sie verbreitete sich nach Süden, nach Südwesten und nach Westen. Ich erwähnte Nigeria, Ghana und Mali. Ich denke, sie verbreitete sich nach Norden. Ich denke, die europäische Kultur schlug eine andere Richtung ein, aber sie ist überwiegend auf dem gegründet, was im alten Ägypten geschah. Ich meine, unser Kalender-System und eine ganze Reihe anderer Dinge kommen von Ägypten. Es gab eine Menge Hin-und-Her zwischen der alt-ägyptischen Zivilisation und Mesopotamien. Zunächst mit den Sumerern und dann später mit den Assyrern und Babyloniern und all diesen Leuten. So gibt es dort eine Menge, was von Ägypten beeinflusst wurde, und wahrscheinlich auch umgekehrt, denn das waren ebenfalls sehr alte Kulturen. Und dann Indien, beginnend mit der Indus-Tal-Zivilisation, ich glaube, sie nennen sie Harapan. Und weiters im vedischen Zeug. Ich sah eine Menge Zeug in Süd-Indien, das sehr, sehr ägyptisch war. Das ist die beste Art es auszudrücken.
Ich bin an diese Orte gereist, um diese Verbindungen herzustellen. Nun, der Punkt, an dem sich Kuba und Haiti und Bahia einfügen, ist gewiss der, dass die Yoruba-Sache in diese Welt herübergebracht wurde. Es sind hauptsächlich diese 3 Orte, wo es wirklich stark ist, obwohl ich höre, dass auch in Belize einiges von diesem Zeug läuft.

Interviewer: Ich war in Belize. Ich war jetzt dreimal dort. Steve, Du musst das erkunden.

SC: Alle sagen, dass dort einiges von diesem Zeug läuft. Es gibt gewisse Orte, früher sogar in den Staaten, heute möglicherweise weniger - gewisse Orte, wo dieses Wissen in der einen oder anderen Form bewahrt wurde. Es wurde offensichtlich verändert, aber in der einen oder anderen Form blieb es erhalten, ob man nun über Santeria spricht oder Candomble oder Voodoon oder was auch immer. Das waren also die Dinge, die mich interessierten. Ich war wirklich an diesem Wissen selbst interessiert und daran, die verschiedenen lebenden Traditionen zu erkunden, die gewissermaßen weitermachen, um Beispiele für diese Sache so unmittelbar zu sehen, wie ich konnte. Offensichtlich geht es nicht unmittelbarer. Wir sprechen immerhin über mehrere tausend Jahre. Ich betreibe eine Menge Studien dieser alten Texte und Dinge dieser Ordnung. Ich versuche auch das zu studieren, von dem ich glaube, dass sie es studierten, nämlich - einfach ausgedrückt - die Natur der Dinge. Ich bin an diesem Punkt vielleicht weit von Deiner Frage entfernt, aber das ist es im Grunde genommen, wo ich herzukommen versuche, und meine Musik ist wirklich einfach ein Ausdruck von all dem - nicht in einer offensichtlichen Weise, nicht direkt, mehr symbolisch. - Ich bin gewiss nicht die erste Person, die so etwas macht. In Chicago gab es eine Gruppe, die die „Pharaohs“ genannt wurde und später zu „Earth, Wind and Fire“ wurde, und natürlich gibt es die AACM, Sun Ra. Es gab eine Menge Gruppen und Leute, die sich in diese Bereiche vertieften.

Interviewer: Wenn wir schon über Musiker aus Chicago und das alte Ägypten sprechen und Du gerade Sun Ra erwähnst: Kannst Du seinen Einfluss auf Dich als musikalischen Künstler und einfach als Mensch kommentieren? Was bedeutet Sun Ras Vermächtnis für Steve Coleman?

SC: Das ist schwer in Worte zu fassen. Zuallererst war es einfach inspirierend. Wie viele Leute dachte ich ursprünglich, Sun Ra wäre verrückt. Als ich ernsthafter wurde und feststellte, dass überall, wo ich schaute, Leute wie Sun Ra bereits Dinge aufgedeckt hatten, da begann ich zu begreifen, dass auf dieser Straße zuvor schon andere auf ihre eigene Weise am Weg waren. Musikalisch gibt es keinen direkten Einfluss. Ich bin mehr beeinflusst von dem, was ich sehe und was ich erlebe. Als ich richtig auf Sun Ra stand, war ich bereits nach der Phase, in der ich andere Musiker nachahmte. Ich habe nicht direkt musikalische Dinge von ihm bezogen. Die Person, von der ich möglicherweise auf direkteste Weise musikalische Dinge erhalten habe, ist vielleicht John Gilmore, der mit Sun Ra spielte. Aber selbst das war nicht so wie es in meiner Nachahmungsphase war. Es war mehr Inspiration und einfach das Inspiriert-Sein von ihrer Geschichte und von dem, was ich darüber wusste und lesen konnte. Ich beschäftigte mich mit dem Buch „Space is the Place“ und verschiedenen Dingen – mit allem, was ich dazu finden konnte, und wann immer ich mit einem von ihnen reden konnte. Ich hab leider nur einmal mit Gilmore geredet. Ich war also immer daran interessiert, was geschah. Ich hab mit Leuten geredet, die mit Sun Ra arbeiteten, und sie erzählten mir, wie die Proben waren und was für Art Sachen Ra machte. Ich bin einfach durch die gesamte Geschichte inspiriert. Aber ich taste mich voran, um meinen eigenen Weg zu finden, die Dinge zu prüfen und zu verstehen, denn wie Du weißt, war Sun Ra sehr kryptisch. Es war nicht so, dass es da viel gab, was man direkt aufgreifen konnte. Ich mein, man hätte eine lange Zeit um ihn herum sein müssen, denke ich.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Original auf Steve Colemans Internetseite, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/steve-coleman-the-order-of-things-by-thomas-stanley/
  2. Internet-Adresse: http://www.jazzmagazine.com/Interviews/Dauj/SColeman/scolem2.htm

 

 

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