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Oktober 1993 (aus: Christian Broecking, Der Marsalis-Faktor, 1995):
Über Bienen: Ich dachte über die Musik nach und mir fiel auf, dass Musiker meistens die Tonleitern rauf- und runterspielen. Niemand spielt so, wie die Bienen fliegen. Da gibt’s dann noch das, was wir „hanging“ nennen: wenn Musiker auf einer Note stehen bleiben, wie zum Beispiel John Coltrane, und dabei einen Achterrhythmus auf eine hippe Art auflösen. Die Bienen machen das auch, aber auf einem viel höheren Niveau. Ich wollte von da an melodisch wie auch rhythmisch so spielen, wie die Bienen fliegen.
Ich bin von der South Side Chicagos und habe kaum „Weiße“ zu Gesicht bekommen, bevor ich 18 war. … Die meisten in meiner Band sind in ähnlichen Gegenden aufgewachsen wie ich, Gene Lake in St. Louis, Reggie Washington in New York. Wir kommen aus den All-Black-Bezirken der großen Städte, das ist unsere Kultur und das reflektiert unsere Musik.
Ich mache jetzt gerade eine vierwöchige Europatour. In Amerika wüsste ich heute keinen Jazzer – nicht einmal Wynton [Marsalis] schafft das – der dort eine so lange Tour machen könnte.
Der einzige Grund, dass so viele Musiker in Brooklyn lebten, war doch schlicht, dass man dort noch eine bezahlbare Wohnung fand. … Inzwischen bewohne ich ein Häuschen in Allentown, Pensylvania. Das liegt zwischen Manhatten und Philadelphia, ist sehr geräumig, und ich kann angeln gehen, wann ich will. Angeln inspiriert mich.
Also nahm ich meinen Taperecorder und zuckelte los, um die älteren Musiker zu befragen … um von ihren Erfahrungen zu lernen: Von Freeman, Anthony Braxton, Muhal Richard Abrams, Ornette Coleman, Kenny Barron, Cecil Taylor.
Im Jahr 1999 (Interviewerin Carina Prange)1):
„Five Elements“: Den Namen habe ich ursprünglich von diesem Kung-Fu-Film genommen, aber in dem Film selbst reden sie nicht über Philosophie. - Was dahintersteht, ist so etwas wie eine "Philosophie der Natur", der Schöpfung. Und sie beschäftigt sich mit den Elementen, die das Universum ausmachen: Fünf Elemente, vier Elemente, es ist alles dasselbe. Im Fernen Osten unterscheidet man fünf Elemente, in Ländern wie Ägypten vier. Aber gemeint ist immer dasselbe: Erde, Luft, Wasser und Feuer. In unterschiedlichen Kulturen umfasst es verschiedene, sehr undefinierbare Dinge. - Also, mein Interesse an den Kung-Fu-Filmen war in erster Linie Entertainment, aber auch die Philosophie.
Im Jahr 2002 (Interviewerin Carina Prange)2):
Musik und Zahlen hängen zusammen. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass unser musikalisches System bereits zu einem hohen Maße auf Mathematik beruht - in dieser Hinsicht muss ich nichts hinzufügen. Alle musikalischen Systeme enthalten daher eine Menge Symmetrien.
Mein eigenes Interesse hieran begann, als ich noch sehr jung war und wuchs, als ich über musikalische Strukturen und Improvisation hinzulernte. Ich begann die Musik von Charlie Parker zu studieren - die besitzt gleichermaßen Form wie Symmetrie, ein sehr hohes Maß von beidem. Von dort ging ich über zu Sonny Rollins, Coltrane, Bunky Green, Muhal Richard Abrams, Bela Bartok, Stravinsky, Afrikanischer und Kubanischer Volksmusik, dem Kontrapunkt und so fort - alles beinhaltet Symmetrie auf höchster Ebene.
Maceo Parker hat keine wirkliche Bedeutung für meine Musik - das wurde eher von Musikjournalisten herbeigeredet. Ich mochte sein Spiel lediglich als ich viel jünger war - James Brown war insgesamt viel wichtiger für mich.
Im Jahr 2002 (zitiert von Wolf Kampmann in der Zeitschrift Jazzthing, Heft Nr. 43):
Je mehr hinter der Musik steckt, desto schwerer wird es, darüber zu reden. In Coltranes Musik steckte unendlich viel. Er äußerte sich jedoch nur über generelle und spirituelle Dinge, niemals über die Spezifika seiner Musik. Manche Künstler sehen die Musik nur als Musik an – und weiter nichts, andere versuchen darüber zu tieferen Wahrheiten zu gelangen. Dasselbe gilt fürs Publikum. Manchmal will jemand nach dem Konzert von mir wissen, wie meine Beziehung zum Universum oder zu Gott ist. Ein anderer kommt und sagt: „Mann, ich mag deinen Groove.“ Jeder hört etwas anderes in der Musik. Wenn ich sie spiele, wird sie durch die Erfahrungen meines Lebens gefiltert. Was ich höre, entspricht nie exakt dem, was die Musiker spielen oder verstehen. Es wird oft übersehen, dass Musik erst durch die Menschen, die sie hören, existent wird. Jeder Mensch verändert die Musik, weil er sie anders hört. Nicht einmal mein Drummer oder Bassist hört die Musik, wie ich sie höre, auch wenn wir ein gemeinsames Verständnis für sie haben. Unsere Erfahrungen überlappen jedoch in einer Weise, dass wir gemeinsam musizieren können. Es gibt aber viele Jazzmusiker, mit denen ich niemals spielen könnte, weil sie völlig entgegengesetzt empfinden. Ich denke nicht, dass jemand meine Musik verstehen muss, weil es gar nicht möglich ist, dass er sie in der gleichen Weise wie ich verstehen kann.
Im Jahr 2002 (zitiert von Ben Ratliff in der Zeitung The New York Times, eigene Übersetzung):
Hör Dir Charlie Parker an: Es ist nicht perfekt. Es gibt da immer noch die menschliche Sache. Von Freeman sagte mir einmal: „Don’t tune up too much, baby – you’ll lose your soul“ [Stimm nicht zu viel, Baby – du wirst deine Seele verlieren].
In der Schule reden sie nur davon, Dinge mit dem Verstand zu verstehen. Aber man kann Dinge auch mit seinem Körper verstehen. Es ist ein Trugschluss der westlichen Zivilisation, dass alles Denken vom Verstand gemacht wird.
Oft imitiere ich die Natur. Ich sehe verschiedene Ebenen von Bewegungen der Wolken und die sind nicht in 4/4.
November 2004 (Interview anlässlich eines Konzertes in Meldola, Italien, am 14. November 2004, Interviewer unbekannt, eigene Übersetzung):
Ich verwende alle Mittel: Imagination, Gefühl, Träume, Intellekt, all diese Dinge.
Warum mich das alte Ägypten anzieht, mag emotionale und spirituelle Gründe haben, aber von einem intellektuellen Standpunkt aus hab ich die Ursprünge der menschlichen Gedanken und die Ursprünge der Musik zurückverfolgt und der früheste mir bekannte Ort, über den es schriftliche Aufzeichnungen gibt, ist Ägypten. Das ist der am weitesten zurückliegende Punkt, denn nachdem man die Hieroglyphen-Sprache, die Schriften und Keilschriften … Sie haben nichts Älteres übersetzt als das, was in Ägypten, bei den Sumerern und Babyloniern geschah. Das ist die früheste Zeit, in die ich zurückgehen kann. – Was die Mathematik anbelangt: Die Leute machen eine große Sache aus der Mathematik, aber Mathematik ist einfach die Handhabung der Zahlen und solcher Dinge und Menschen haben das immer schon gemacht - seit einer sehr langen Zeit. Wenn man also irgendeine Zivilisation eingehender studiert und sich mit der Art beschäftigt, wie sie Dinge machten, im Sinne von Bauwerken, Strukturen und solchen Dingen, dann muss man in irgendeiner Weise Zahlen verwenden, um das zu verstehen. Und hinsichtlich der Musik: Die einzige Form, in der wir die Musik haben, ist in einer Art von Zahlen, denn es gibt keine CDs vom antiken Griechenland oder alten Ägypten. Alles was wir haben, sind Schriften und Theorien, und man muss sich vorstellen, was damals lief.
Charlie Parker, John Coltrane sind für mich die Giganten. Ich bin auch sehr beeinflusst von Von Freeman und einer Menge anderer. Für mich war Charlie Parker ein extrem hoch entwickelter Blues-Spieler. Er hatte eine sehr hoch entwickelte Art, den Blues auszudrücken. Es war eine Art … wie soll ich sagen? … eine Art „Space-Blues“ … eine sehr hohe Wissenschaft. John Coltrane führte das in meinen Augen weiter in Richtung … ich möchte den Ausdruck „Weltmusik“ verwenden, aber nicht in der Bedeutung, wie er heute verstanden wird. Bei „Weltmusik“ meinen sie Afrika, Indien und so weiter. Für mich ist Weltmusik die Welt, die gesamte Welt. Das umfasst Amerika, Afrika, Asien, alles. Ich verstehe Weltmusik nicht so, dass sie von einem Ort kommt, von dem, was Leute „Dritte-Welt“-Länder nennen. Für mich ist das Unsinn. Die Weltmusik ist die Musik der ganzen Welt und John Coltrane wollte in meinen Augen eine Art universaler Musik machen, eine Musik aller Menschen. Und das hat mich sehr beeinflusst.
1. August 2007 (Colemans Blog3), eigene Übersetzung):
Auszug über Klangfarbe: Schon früh in der Geschichte der spontan komponierten Musik in den USA (Armstrong-Parker-Coltrane-Continuum, und vielleicht in der meisten Musik) lag der Schwerpunkt mehr am Ausdruck. Deshalb waren Dinge wie Klangfarbe und Phrasierung die wichtigsten Elemente. Rhythmus und Tonhöhe (wann und wie hoch/tief) sind jedoch die grundlegenden Elemente von jedem Musik-System.
Ich habe den größten Teil meiner Laufbahn damit verbracht, mich mehr auf die Rhythmus/Tonhöhe/Form-Aspekte der Musik als auf Überlegungen zur Klangfarbe zu konzentrieren. Ich habe die Klangfarbe gewiss nicht ignoriert, aber mich auch nicht wirklich in ihr systematisches Studium vertieft. Und die Musiker, die ich bevorzuge, sind eher die, die hoch entwickelte und spezifische Sprachen der Rhythmik und Tonalität entwickelt haben. Wie diese Musiker finde ich, dass die Elemente der Klangfarbe Hilfsmittel für den Ausdruck anspruchsvoller Rhythmusmelodien sind. Es gibt natürlich die, die überhaupt nicht mit mir übereinstimmen, und deshalb tendiert ihre Musik in Richtungen, die die Qualitäten der Klangfarbe hervorheben. Ich für mich bevorzuge einen subtileren Ausdruck der Klangfarbe.
Ich habe sehr den Eindruck, dass die jüngere Generation, die heute an der kreativen Musik beteiligt ist, auf die von den älteren Meistern hervorgebrachten detaillierten rhythmischen und melodischen Entwicklungen (welche eine unglaubliche Menge an Konzentration in Anspruch nahmen, um sie zu entwickeln) verzichtet zugunsten von mehr „Effekten“. Diese Trends neigen dazu, vor und zurück zu pendeln, indem jede Generation auf die Übertreibungen der vorhergehenden Generation mit einer Bewegung in die entgegengesetzte Richtung reagiert.
Das Konzept des Orchestrierens hat (im Unterschied zum Komponieren) aber sehr viel zu tun mit dem klangfarblichen Verbinden von instrumentalen (und manchmal vokalen) Sounds. Der hervorragende dänische Komponist Per Nørgård sagte einmal, dass er für das Komponieren eines Stückes nur kurze Zeit brauche, das Orchestrieren und Arrangieren aber Jahre in Anspruch nehmen könne. Er unterscheidet deshalb klangfarbliche Belange vom eigentlichen Komponieren, indem er Klangfarbe mehr als ein Mittel zur „Erweiterung“ seines Ausdruckes verwendet.
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