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The Sweet Science: Floyd Mayweather and Improvised Modalities of Rhythm
Dezember 20031)
Eigene Übersetzung
Was Boxen für mich zur „süßen Wissenschaft“ macht, ist nicht einfach das Austragen eines Kampfes zwischen zwei Kerlen in einem „Wer-fällt-zuerst“-Szenario. Es geht mir vielmehr darum, echte Geschicklichkeit und Kunst im Ring zu sehen. Dem Kampf von Floyd Mayweather Jr. gegen Phillip Ndou am 1. Oktober 2003 zuzuschauen, war ein Vergnügen – nicht einfach, weil Floyd gewann, sondern wegen der „Art“, wie er gewann.
Im Boxen wird der Abwehr oft nicht die Beachtung geschenkt, die sie verdient, und Floyds Abwehr ist eine der besten, die ich jemals gesehen habe. [… … …]
Für Floyd Mayweathers Abwehr ist entscheidend, dass er ständig in Bewegung ist, und genauso die Rhythmik, Geschwindigkeit und Gewandtheit seiner Bewegungen. Das ist es, was seine Abwehr so wirkungsvoll macht. Ich bin ein improvisierender Musiker (Saxofonist), der vom Rhythmus fasziniert ist, und ich neige dazu, auf Dinge zu achten, die mit Timing zu tun haben. Tatsächlich ist meine Musik von gewissen Techniken des Boxens beeinflusst – so wie die Musik vieler anderer improvisierender Musiker.
Floyd rollt, gleitet, schwenkt sich ständig in seiner Taille, täuscht, bewegt sich rasch hin und her, schlängelt sich, präsentiert ständig verschiedene „Modi“ der Bewegung, während sein Gegner zuschlägt. Der Rhythmus des Rollens ist sehr interessant, denn die meisten Gegner wechseln ihre Schläge in einer sehr vorhersehbaren Weise. Sie verdoppeln in der hektischen Aktivität nur gelegentlich mit derselben Hand. Als ich in Chicago lebte, haben wir für diesen Verdoppelungseffekt in der Musik üblicherweise den Ausdruck „going back for more“ verwendet. Floyd verändert das Rollen seines Körpers mit dem Rhythmus der Schläge. In der seltenen Situation, dass der Kämpfer mit derselben Hand verdoppelt, erkennt Floyd das und improvisiert, indem er den Rhythmus seines Rollens mit einer Serie von „Richtungsänderungen“ anpasst. Das Bemerkenswerte ist das Timing. Alle Kämpfer haben einen Rhythmus in ihren Bewegungen, der von einem erfahrenen Gegner nach einigen Runden des Boxens getimet werden kann. Es gibt gewöhnlich insgesamt drei unterschiedliche rhythmische Formen: das, was ich den Set-up-Rhythmus nenne (vorbereiten zum Schlagen oder warten um zurückzuschlagen, abhängig vom Stil des Boxers), der Rhythmus der Angriffsbewegung und der Rhythmus der Abwehrbewegung. Floyd variiert, wie viele großartige Boxer, diese Rhythmen in subtiler Weise, sodass es für Gegner schwer ist zu timen, und Floyd kann nahtlos von einem Rhythmus zum anderen gleiten, ohne jeden Bruch im Ablauf. Normalerweise wird sich der Gegner nicht einmal bewusst, dass der Wechsel eingetreten ist, und dann ist es zu spät.
Das ist etwas, was sehr schwer beizubringen ist. Ein Boxer muss das selbst herausfinden. Die Art, wie es gemacht wird, ist ähnlich wie die meisten Formen des Tanzes der Leute der afrikanischen Diaspora (und wie in anderen Sportarten wie Basketball, Football, Capoeira und so weiter), wo es eine Gewandtheit in der Richtungsverlagerung gibt, die auf Timing beruht. Ich verwende gerne die Analogie zur Improvisation in der Musik: Da gibt es ein Gefühl, in einer Zone zu sein, während der man das Spiel der Rhythmen im Verlauf der Zeit visualisierst und sich alles in einer Art Zeitlupen-Tanz bewegt. Der Geist arbeitet auf einer Ebene, wo die Zeit außer Kraft gesetzt zu sein scheint und wo die sich ständig verändernden „Pfade der Möglichkeiten“ vor einem zu liegen scheinen.
Bei einem meisterhaften Boxer wie auch Musiker ist eine Menge Vorbereitung im Spiel. Die verschiedenen „Pfade der Möglichkeiten“ wurden studiert, ausgearbeitet, analysiert und verinnerlicht, sodass der Geist und der Körper schließlich darin trainiert sind, auf die dynamischen Konfigurationen, die sich in der Realität ergeben, reflexartig zu antworten. Die Kunstfertigkeit zeigt sich, wenn sich die Muster unerwartet verändern und ein anderer Fluss aufgebaut wird. Der Meisterboxer (oder Musiker) muss dann den Wechsel timen und die Antwortmuster mitten im Flug anpassen. Natürlich wird ohne intensive Einsicht, Erforschung und Training nichts davon zustande kommen. Doch ist zunächst einmal das Erkennen dieser Dynamiken entscheidend für die Frage, wie man sich vorbereitet und trainiert.
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Kreatives Improvisieren ist in vielen Aspekten den Boxtechniken, die ich hier beschreibe, sehr ähnlich. Beim Improvisieren muss man nicht nur auf die dynamische Struktur der Komposition, die man spielt, reagieren, sondern auch auf die Möglichkeiten, die sich aus den Beiträgen der anderen Instrumentalisten ergeben. In gewisser Weise ist die Musik selbst dein „Gegner“. Eine der Herausforderungen ist es, seine Reaktionen im laufenden Funktionsfenster der Zeit auszuführen, während man sich auch mit den Nuancen der Struktur befasst. Zusätzlich muss der Musiker die Details des spontanen Komponierens von musikalischen Phrasen zustande bringen, die das darstellen, was man in seiner Musik zu „sagen“ versuchst. Das problemlos zu tun, ohne sein Gleichgewicht zu verlieren, ist nicht einfach. Es muss eine fein abgestimmte und laufend angepasste Balance entwickelt werden, um auf die sich verändernden musikalischen Bedingungen reflexartig reagieren zu können. In dieser Hinsicht ist es ähnlich wie bei den Reaktionen eines großartigen Boxers.
Das ist in jeder Musik und bei jedem Boxen so, in der afrikanischen Diaspora geht es aber bei diesem Balanceakt zusätzlich genauso sehr um Stil (also WIE es gemacht wird) als darum, WAS gemacht wird. Stil ist in der afrikanischen Art des Seins schon immer wichtig gewesen. Für die Großstadtkinder sind das Feilen an ihren Fähigkeiten im Basketballspiel, das Einwerfen des Balls in den Korb und die Art, „wie“ es gemacht wird, gleich wichtig. Dasselbe gilt für die unzähligen Jam-Sessions der Musiker oder Freestyle-Sessions der MCs. Das Wichtigste am Stil ist der Rhythmus, das Timing und die „Geschicklichkeit“. Das gilt für das Tanzprogramm der Nicholas Brothers genauso wie für eine Charlie-Parker-Improvisation. Wenn auch der Inhalt auf hohem Niveau ist, dann beginnt es die Form von hoher Kunst anzunehmen.
Diese Rhythmen kann man als sich verändernde Muster von Klang im Wechsel mit Stille betrachten. Wenn man Meister wie den Boxer James Toney oder den Schlagzeuger Max Roach mit Rhythmen spielen sieht und hört, dann ist das wie ein Zickzack-Lauf durch einen Hindernisparcours mit einem gewissen Stil.
Verändern der Geschwindigkeit und Richtung, Schwenken und Drehen, Abtauchen, Schaukeln, Zurückrudern, Ausweichen, Täuschen, Weben, Seitwärtsgleiten, Abwinkeln – all das ist Teil eines Repertoires an persönlichen Eigenheiten des ständigen Ausbalancierens, das die Perspektive des Beobachters laufend verändert, sodass eine Art geschickte Bewegungsgeometrie entsteht. Ich bezeichne diese verschiedenen Typen von ausgleichenden Bewegungstechniken als „Modalitäten des Rhythmus“. Das sind Fähigkeiten, die man am deutlichsten bei den Meistertrommlern in West-Afrika findet und ich assoziiere mit dieser Modalität immer das Meistertrommeln.
Gemeinsam mit der Bewegung und der Form haben die Gebilde aus Klang und Stille einen gewissen „Groove“ an sich, einen Swing, der nicht mit Worten adäquat beschrieben werden kann, sondern erfahren werden muss. In einer gewissen Analogie verbinde ich Offensive mit Klang und Defensive mit Stille. Der nahtlose Übergang zwischen den beiden, zwischen Ebbe und Flut der unterschiedlichen „Seinsweisen“, ist hier das entscheidende Konzept.
Diese Tradition wurde immer vom Meister zum Studenten weitergegeben, hauptsächlich durch ein Erfahren des „Gefühls“ dieser Modalitäten sowie durch Verwendung von Analogien zur Weitergabe von Information. Der Einblick, der durch diese Erfahrungen erreicht wird, und die Fähigkeit, diese Erfahrungen umzusetzen, sind es, was Meister hervorbringt.
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