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Jo Jones1): Swing sei eine wirklich einfache Sache, aber es gebe Dinge, die man nicht beschreiben kann, Dinge, die noch nie beschrieben worden sind, und Swing zähle zu ihnen. Die beste Art zu sagen, was Swing ist, sei, entweder mit oder ohne Gefühl zu spielen. Swing sei wie Schönheit – etwas, das man nicht beschreiben kann.2)
Dennoch wurden etliche Versuche unternommen, das Wesen des Swingens und Groovens theoretisch zu ergründen. Letztlich behielt Jo Jones Recht: Wie alle Dinge des Empfindens ist das Swing- und Groove-Feeling nicht analytisch erfassbar. Doch lieferten die Erklärungsversuche einige Anhaltspunkte dafür, wie diese rhythmischen Wirkungen zustande kommen dürften und in welcher Weise sich stark auf diese Qualitäten bezogene Musik von anderer, insbesondere klassischer europäischer unterscheidet. Eine neuere theoretische Arbeit zu diesem Thema, die näher an das Wesen afro-amerikanischer und afrikanischer Rhythmuskultur herankommt als frühere Arbeiten, ist die vom Jazzpianisten Vijay Iyer3) im Jahr 1998 vorgelegte Dissertation mit dem Titel Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics4). Iyers Eltern waren beide aus Indien in die USA eingewanderte Akademiker. Sie sorgten dafür, dass er ab dem dritten Lebensjahr klassischen Geigenunterricht erhielt, den er bis zu seinem 18. Lebensjahr fortsetzte. Daneben entwickelte er autodidaktisch sein Klavierspiel.5) Er studierte Physik6) und war bereits über zwanzig Jahre alt, als persönliche Erfahrungen mit afrikanischer und afro-amerikanischer Rhythmuskultur sein „musikalisches Bewusstsein“ erheblich veränderten, wie er sagte.7) Er kam also nicht aus einem Umfeld, durch das ihm afro-amerikanische Groove-Kultur von klein auf vertraut gewesen wäre, sondern näherte sich ihr erst später von außen her an. Wohl dadurch und mit seiner schriftlichen Gewandtheit konnte er in wissenschaftlicher Weise anderen Außenstehenden eine Vorstellung von den Besonderheiten jener afrikanischen und afro-amerikanischen Musiktraditionen vermitteln, in denen Groove ein zentrales Element bildet. Ihm selbst halfen seine musikwissenschaftlichen Forschungen nach eigener Aussage, ein besserer Musiker zu werden.8) Allerdings blieb er auch später, als er längst ein vielfach preisgekrönter Jazzpianist war, ein nicht stark swingender, groovender Musiker. Letztlich ist Groove (Swing) nun einmal keine über Theorie zugängliche Qualität. Steve Coleman, der Iyer im Jahr 1994 half, von der wissenschaftlichen Laufbahn zu einer Karriere als Jazzmusiker zu wechseln9), wies darauf hin, dass es bei Groove und Swing auf etwas völlig anderes als intellektuelles Verstehen ankommt. Er kenne sehr intelligente Leute, die diese Dinge intensiv studierten und glauben, dass sie sie verstehen, aber das Feeling ihrer Musik zeige etwas anderes. Er meine das nicht negativ, denn es gebe nun einmal viele verschiedene Zugänge und Werthaltungen.10)
Iyer vertrat in seiner Dissertation eine neuere Sichtweise der Kognitionswissenschaft, die von „Embodiment“ (Verkörperung) spricht und damit Folgendes meint: Die geistigen Funktionen11) werden stets von einem Körper hervorgebracht und sind daher stark von den körperlichen Bedingungen geprägt. Die Sinneswahrnehmung und die Körperbewegung haben sich gemeinsam entwickelt und sind daher eng miteinander verbunden. Dazu kommen die Einflüsse der Umgebung, insbesondere auch der Kultur. Alles Geistige ist daher „situated“ – eingebettet in biologische (körperliche), psychologische und kulturelle Zusammenhänge. Diese Sichtweise des Embodiments bezog Iyer auf die Musik: Sowohl das Musikmachen als auch das Wahrnehmen von Musik sind eng mit körperlichen Aspekten und dem kulturellen Umfeld verbunden. Eine besondere Rolle spiele die körperliche Komponente in der Rhythmik west-afrikanischer und afro-amerikanischer Groove-Musik, deren grundlegenden Charakter Iyer zu erfassen versuchte. Er berücksichtigte dabei vielfältige Aspekte und stützte sich auf zahlreiche aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Mit seinem Ansatz des Embodiments erlangte seine Arbeit im akademischen Bereich erhebliche Bedeutung und wurde häufig zitiert, wie eine Ethno-Musikwissenschaftlerin feststellte.12) Iyer wies später darauf hin, dass die Betonung des Embodiments nicht im Sinne jener Vorurteile zu verstehen sei, nach denen afro-amerikanische Kultur im Gegensatz zur europäisch-westlichen körperlich, sinnlich, intuitiv und weniger geistig, formal und logisch wäre.13)
Eigene auszugsweise Übersetzung von Iyers Dissertation ins Deutsche: Link
Frühere Modelle, die das Phänomen des Swingens erklären sollten, stützten sich primär auf die Musiktheorie, die im Zusammenhang mit der europäischen Konzertmusik entwickelt wurde. Im deutschsprachigen Raum wurden solche Erklärungsversuche bereits ab dem Ende der 1940er Jahre unternommen und ihre Deutungen sind zum Teil nach wie vor im Umlauf. Sie tragen aber nicht wirklich etwas zum Verständnis von Swing und Groove bei, sondern können allenfalls gerade durch ihre Abwege interessant sein, da sie zeigen, wie weit die europäisch-akademische Herangehensweise von wirklichem Gespür entfernt war. Der Schweizer Musikwissenschaftler Jan Slawe war der Erste dieser deutschsprachigen Theoretiker und er postulierte: „Als Grundlage der jazztheoretischen Forschung gelten die Erkenntnisse der klassischen Musiktheorie und ihre Forschungsmethoden.“14) Und noch das im Jahr 1986 von Carlo Bohländer15) vorgestellte Denkgebäude ist von einem „unübersehbaren Eurozentrismus“ geprägt.16) Er ging von einer Allgemeingültigkeit des europäischen Rhythmussystems mit seinen Betonungsregeln 17) aus und bewegte sich im Wesentlichen nur im europäischen Notensystem18), das den für ein Swingen entscheidenden subtilen rhythmischen Ausdruck nicht abbilden kann. Ekkehard Jost fasste die nach seiner Auffassung „plausibelsten Argumente“ derartiger Swing-Theorien zusammen und betrachtete dabei die „Konfliktbildung“ zwischen rhythmischen Schichten als zentralen Aspekt.19) Bereits Slawe erklärte Swing als Folge eines rhythmischen Konflikts zwischen der Regelmäßigkeit des Rhythmus und ihrer Durchbrechung, zwischen Grundrhythmus und Melodierhythmus, zwischen sich überlagernden Rhythmen (Polyrhythmik) sowie zwischen den sprachähnlichen Akzenten und dem Rhythmus der Begleitung. Alfons M. Dauer20) führte die Konfliktbildung auf eine Herkunft des Jazz aus afrikanischen Musikkulturen zurück. Er sah bereits im Verhältnis von Offbeats21) zum Beat22) einen ständigen Wechsel zwischen Spannung und Entspannung. Joe Viera23) erweiterte die vorhergehenden Deutungsversuche durch ein Modell von „Beschleunigungsakzenten“: Über einem gleich bleibendem Grundrhythmus bewirken geringfügig verschobene Töne den Eindruck von Beschleunigungen. Er wies auch darauf hin, dass die Art zu swingen stark variiert, in Abhängigkeit vom Tempo des Stückes, aber auch von Musiker zu Musiker und zwischen verschiedenen Jazzstilen. Bohländer entwickelte reichlich komplizierte Überlegungen, die Swing vor allem mit einer Überlagerung des europäischen Taktsystems durch eine unregelmäßige Akzentuierung, die aus Afrika stamme, erklären sollen.
Wer den swingenden Charakter des Jazz schätzt, erlebt jedoch keinen Konflikt, sondern gerade eine besondere Flüssigkeit. Ein Konflikt tritt letztlich wohl nur in Bezug auf das europäische Notensystem auf: An dessen starre Regelmäßigkeiten und Betonungsregeln halten sich swingend spielende Musiker nicht. Ihr Abweichen von einem exakt gleichmäßigen Puls erweckt absolut nicht den Eindruck eines Konflikts mit dem Puls, sondern bewirkt im Gegenteil ein verstärktes Erleben des Hauptpulses (Beats).24) Auch west-afrikanische Rhythmen wurden von westlichen Wissenschaftlern als konflikthaft beschrieben25) und in Bezug auf sie ist dieser Höreindruck aufgrund ihrer anspruchsvollen Mehrschichtigkeit verständlich. Ein swingender Jazzrhythmus muss hingegen keineswegs eine Komplexität aufweisen, die die Orientierung des Hörers entsprechend herausfordert, und umgekehrt haben die komplexen, mehrschichtigen Rhythmen west-afrikanischer Traditionen nicht den im Jazz verbreiteten Swing-Charakter. Ein Konflikt, der aufgrund von rhythmischer Mehrschichtigkeit empfunden wird, kann daher nicht der entscheidende Faktor für die Entstehung des Swing-Gefühls sein. Letztlich zeigt sich hier schlicht eine Unangemessenheit des auf die europäische Konzertmusik abgestellten musiktheoretischen Blickwinkels. Nach Erläuterungen des aus Ghana stammenden Musikwissenschaftlers Kofi Agawu ist die Feststellung eines rhythmischen Konflikts im Übrigen auch in Bezug auf west-afrikanische Musik nicht zutreffend. Sie widerspreche dem Verständnis der Musiker, die mit ihren konkurrierenden Akzenten vielmehr das Vergnügen steigern, das Ohr erfreuen und zu einer geistigen Erneuerung anregen wollen.26)
Der Jazzkritiker Joachim-Ernst Berendt kam zum Schluss, es sei „mittlerweile so viel über swing geschrieben worden, dass man dazu neigen möchte, es als endgültig hinzunehmen: swing lässt sich nicht in Worte fassen“.27) Er fügte dann jedoch eine weitere Erklärung hinzu: Swing sei durch die Begegnung eines afrikanischen und eines europäischen Zeitgefühls entstanden.28) Doch bestehen in so grundlegenden Funktionen des Nervensystems wie Zeitgefühl gewiss keine generellen Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Kulturen und die Behauptung, Afrikaner hätten ein grundsätzlich anderes Zeitgefühl als wir Europäer, lässt sie als exotische Wesen erscheinen. Die Exotisierung afrikanischer Musikkulturen war unter ihren früheren westlichen Erforschern aufgrund der großen Schwierigkeiten, afrikanische Musik aus der Perspektive europäischer Musikwissenschaft zu verstehen, gang und gäbe. Kofi Agawu führte detailliert vor Augen, dass diese westlichen Sichtweisen auf Missverständnissen beruhten und afrikanische Rhythmik in ihren Grundzügen nicht anders funktioniert als die anderer Kulturen der Welt.29)
Berendt nannte als eines der Merkmale des Jazz „ein besonderes Verhältnis zur Zeit, das mit dem Wort swing gekennzeichnet wird“.30) Die Vorstellung von einem „besonderen Verhältnis zur Zeit“ mutet esoterisch an, kann aber wohl in folgender Weise verstanden werden: In der europäischen Kunstmusik trat das Komponieren, also das Gestalten von Musik als Notenschrift in den Vordergrund und Noten geben abstrakt bemessene Zeitabschnitte an (Berendt sprach von der „absoluten“, „gemessenen“ Zeit31)). Mit dem Schwergewicht auf notierte Kompositionen verlor das Spielen der Musik, das Gestalten und Erleben im Moment (Berendt: die „relative“, „gelebte“ Zeit32)) etwas an Bedeutung. Iyer machte diesen Unterschied mit dem Denkansatz des „Embodiments“ deutlich.33) Die Vorliebe des Jazz für eine spontane Gestaltung als Besonderheit34) anzusehen, heißt jedoch, schriftliche Komposition als die Norm zu betrachten. Tatsächlich ist aber bei einer weltweiten Betrachtung von Musikkulturen eher die europäische Konzentration auf Schriftlichkeit ungewöhnlich. Auch in europäischer Volksmusik können Rhythmen in durchaus lebendiger Weise gespielt werden und in der Konzertmusik selbst werden ausdrucksvolle Tempoveränderungen eingesetzt, die von einer „absoluten“, „gemessenen“ Zeit abweichen. Außerdem erklärt ein Vorrang des gefühlten Rhythmus gegenüber abstrakter Zeitgliederung noch nicht jene spezielle Form einer lebendigen Rhythmus-Gestaltung, die Swing genannt wird. Und vor allem verschafft ein Grübeln über so etwas wie ein „besonderes Verhältnis zur Zeit“ kein Gespür oder Verständnis für musikalische Qualitäten wie Swing und Groove.
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