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Vijay Iyer im Zusammenhang mit west-afrikanischer Trommelmusik: „Die wichtige Orientierungsrolle der Glockenmuster und das komplizierte Zusammenspiel der ineinander greifenden zyklischen Muster verlangen hochgradige Fähigkeiten sowohl im Analysieren der gehörten Szene als auch in der konzentrierten Teilnahme. Diese kognitiven Fähigkeiten werden in der westlichen tonalen Musik selten betont; sie tendiert dazu, weniger geschichtet und weniger rhythmisch dicht auf der Tactus-Ebene zu sein.“1)
Ein anschauliches Bild von diesen „kognitiven Fähigkeiten“ bietet John Miller Chernoff in seinem Buch Rhythmen der Gemeinschaft unter anderem durch folgende Ausführungen:
„Als Anfänger in der afrikanischen Trommelmusik wird man angehalten, sich nur auf das zu konzentrieren, was man selbst spielt; wer zu sehr auf das hört, was die anderen machen, verliert die Orientierung und kommt draus.“2)
„Wenn man anfängt, Trommeln zu lernen, kümmert man sich nur um den eigenen Beat, um ihn nicht zu verlieren, - trotzdem hört man die anderen auch. Wird man dann sicherer und – wie die Afrikaner sagen – schlägt sich die Trommel irgendwann selbst, dann kann man vielleicht der Musik als Ganzes lauschen. Durch diese Art des Zusammenfügens einzelner Rhythmen zu einem kreuzrhythmischen Gebilde entsteht das Musikstück als einheitliches, geschlossenes Ganzes. Erst durch die Kombination mehrerer Rhythmen entsteht überhaupt ein Stück, und die einzige Art, diese Musik richtig zu hören und den Beat zu finden, besteht darin, einen Metronom-Sinn zu entwickeln, um wenigstens zwei unterschiedliche rhythmische Abläufe gleichzeitig hören zu können. Man kann das trainieren, indem man versucht, so viele Einzelrhythmen wie möglich herauszuhören und voneinander zu unterscheiden, wobei man sich einem der Rhythmen mehr annähern sollte als den anderen. Wie gut man dabei ist, kann man an der Zahl der wahrgenommenen Rhythmen erkennen.“3)
„Im Dagomba-Gebiet [in Nord-Ghana] habe ich beispielsweise nur ein einziges Mal einen führenden Dondon-[Trommel]-Spieler unter 30 Jahren gesehen, obwohl die meisten Trommler schon als kleine Jungen mit dem Üben beginnen und Musiker zu Veranstaltungen begleiten.“4)
„Beim ‚Zhem’-Tanz spielen eine führende und beliebig viele begleitende Dondon-Trommeln zwei unabhängige, präzise miteinander verzahnte Rhythmen. Das ergibt ein dichtes, faszinierendes Gewebe, ohne dass sich beide Muster an einem Punkt treffen. Wieder kann man die Rhythmen nur spielen, wenn man jedem Instrument sein eigenes Metrum zuerkennt: Die führende Dondon vermittelt ein Dreivierteltakt-Gefühl, die Begleittrommeln lassen sich als Vierer zählen. Die kontrastierenden, gegeneinander gesetzten rhythmischen Muster und Schwerpunkte dieser Musik nennt man ‚Kreuzrhythmen’. Die unterschiedlichen Rhythmen entstehen von selbst, in wechselnder, verwickelter Beziehung zueinander, ähnlich wie Töne in der westlichen Musik, die Harmonien bilden. Bei polymetrischer Musik scheinen sich die einzelnen Rhythmen unsere Aufmerksamkeit streitig zu machen. Und kaum haben wir einen Rhythmus erhascht, da verlieren wir auch schon wieder seine Spur und hören einen anderen. In Musik wie ‚Adzogbo’ oder ‚Zhem’ ist es nicht leicht, überhaupt einen konstanten Beat zu finden. Dieses westliche Konzept eines Hauptschlages oder Pulses scheint abwesend, und ein westlicher Hörer, der die komplizierten Rhythmen nicht wahrnehmen kann und seine üblichen Hörgewohnheiten beibehält, verliert ganz einfach die Orientierung. […] Jeder Rhythmus für sich ist ganz einfach, aber die Kombination mehrerer rhythmischer Parts kann beim westlichen Hörer Verwirrung stiften.“5)
„Ein guter Rhythmus, der sich noch steigern will, sollte sowohl eine Lücke zwischen den anderen Rhythmen füllen, als auch selbst wiederum eine neue Leerstelle schaffen, die gefüllt werden kann. Ein einziger Ton an der richtigen Stelle platziert, beweist die Kraft eines Trommlers besser als die Ausführung einer ganzen, technisch komplizierten Phrase. Ein guter Trommler hat die Fähigkeit, alle Rhythmen gleichzeitig zu hören und dann noch Platz für seinen eigenen zu finden. Er balanciert mit seinem Schwerpunkt immer am Rande des Chaos und macht aus den vereinzelten und miteinander streitenden Rhythmen ein Ganzes.“6)
Für die Kunst hoch entwickelter Groove-Musik scheint im „westlichen“ Kulturkreis oft das Verständnis zu fehlen, wie zum Beispiel der folgende Ausschnitt des mehrfach gerühmten7) Buchs Das wohltemperierte Gehirn von Robert Jourdain zeigt, in dem Musik aus der Perspektive der Gehirnforschung erläutert wird:
„Es herrscht ein Krieg der Rhythmen! Auf der einen Seite stehen Anhänger des Metrums8), für die der Kunstmusik9) eine ganze Dimension fehlt und die dem Zuhörer eine Form des Rhythmus vorenthält, die für viele zur Hauptstütze10) der Musik wurde. Auf der anderen Seite beschweren sich die Anhänger der klassischen Musik, dass die Besessenheit vom Rhythmus alles trivialisiert, was sie berührt, und unsere niedersten Instinkte anspricht wie Fastfood. Wo die einen in metrischen Verläufen musikalische Entwicklungsmöglichkeiten erkennen, sehen die anderen nur ein stumpfsinniges Metronom, einen unaufhörlichen Radau, der genauso wenig künstlerisch ist wie ein Graph auf Millimeterpapier.11) Wo die eine Seite die höchste Steigerung des Entzückens in der Architektur der großen Form empfindet, sieht die andere Seite sterile Überintellektualisierung12).“13)
Die amerikanische Musikerin Jen Shyu erhielt ab dem 7. Lebensjahr „klassischen“ Klavierunterricht und ab dem 8. Lebensjahr Geigenunterricht, spielte bereits mit 13 Jahren als Solistin in einem Sinfonieorchester und studierte später Opern-Gesang.14) Mit 25 Jahren stieß sie zur Band des Jazz-Saxofonisten Steve Coleman und nachdem sie dieser Band bereits drei Jahre lang als Sängerin angehörte, sagte sie im Herbst 2006 Folgendes: Die große Herausforderung in Colemans Band sei für sie nach wie vor der Rhythmus, denn es gäbe da etwas, mit dem sie als klassische Musikerin nie zu tun hatte. Am schwierigsten fand sie die verschiedenen, gleichzeitig ablaufenden Zyklen in Colemans Musik, das gleichzeitige Tun mehrerer Dinge.15) – In einem Workshop erklärte sie im Jahr 2004: „Was ich alleine übe, ist hauptsächlich zu versuchen, so viele Parts wie nur möglich gleichzeitig zu spielen. Das ist der herausfordernde Teil. Man hat zwei Hände, zwei Füße und einen Mund und so versucht man, so viele Parts, wie man nur kann, zu spielen, mit seinem eigenen Körper.“16) – Jen Shyus Aussagen machen somit (ähnlich wie die oben angeführten Erläuterungen Chernoffs zu afrikanischer Musik, nun jedoch auf den Jazz bezogen) die besonderen Fähigkeiten deutlich, die die rhythmische Mehrschichtigkeit einer komplexen Groove-Musik erfordert.
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