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Free-Garde


Der deutsche Musikwissenschaftler, Jazz-Kritiker und Jazz-Musiker Ekkehard Jost schrieb in seiner Sozialgeschichte des Jazz (2003), die Entwicklung des „amerikanischen“ Jazz sei längst zum Stillstand gekommen und die „wichtigen kreativen Impulse des Jazz“ gingen „seit geraumer Zeit von Europa“ aus. Amerikanische Jazz-Kritiker würden diese Erkenntnis ignorieren, aber die Musiker würden es besser wissen.1) Welche „Impulse“ aus Europa er meinte, verriet Jost in seinem Buch nicht. Das ist umso merkwürdiger, als sich Jost zuvor fast hundert Seiten lang mit den neueren Entwicklungen des Jazz in den USA befasste und dabei ausführlich die traditionelle Linie von Wynton Marsalis kritisierte. Wenn europäische „Impulse“ wichtig waren, warum widmete er ihnen nicht mehr als eine geheimnisvolle Andeutung? Auf welche europäischen Musiker sich Jost bezogen haben dürfte, lässt sich aus seiner folgenden Aussage in einem Vortrag erahnen, den er 1998 hielt: „Gegenwartsbezogene und dabei relativ erfolgreiche Musiker vom Kaliber eines Michel Portal2), Louis Sclavis3), Gianluigi Trovesi4), Joachim Kühn5), Daniel Humair6), Tomasz Stanko7), Iréne Schweizer8) und und und … sucht man in den USA zurzeit vergeblich.“9)

Als „gegenwartsbezogen“ und „zeitgenössisch“ betrachtete Jost die Musik dieser Europäer deshalb, weil sie zumindest ursprünglich mit dem Free-Jazz verbunden waren10), der in seinen Augen nach wie vor die fortschrittlichste Form von Jazz darstellte.11) Jost partizipierte als Musiker selbst an einer milden Spielart von europäischem Free-Jazz. Die „freien“ Spielweisen waren jedoch längst nicht mehr neuartig, sondern wurden bereits seit Jahrzehnten gepflegt. Sie reflektierten vor allem Ideen der 1960er Jahre und erschienen angesichts neuerer Entwicklungen12) schon als etwas überholt oder als ein Seitenarm des Jazz, der im Verlauf der Zeit an Bedeutung verlor. Die von Jost genannten Europäer waren im Jahr 1998 bereits zwischen 45 und 63 Jahre alt und veränderten ihre Spielweisen nicht mehr wesentlich. Allenfalls reduzierten sie frühere Bemühungen, an „amerikanische“ Standards heranzukommen, und ließen in ihrer Musik stärker den kulturellen Hintergrund ihrer europäischen Herkunft hervortreten, nachdem sie die zunehmende Beliebtheit regionalen Flairs feststellten.13) Manche widmeten einzelne Alben sogar dezidiert bestimmten europäischen Traditionen, etwa italienischen Opern, der Dreigroschenoper von Bert Brecht und Kurt Weill, Volksliedern aus verschiedenen europäischen Regionen, Werken aus dem französischen Barock und so weiter.14)

Gewiss ist manches, das in dieser europäischen Szene entstand, durchaus kreativ und für andere Musiker der Szene mitunter auch ein „wichtiger Impuls“ (wie Jost meinte). Über ihren Bereich hinaus waren ihre Kreationen jedoch für den Jazz nicht bedeutend. Es besteht kein Anhaltspunkt für irgendeinen Einfluss dieser europäischen Musiker auf die musikalischen Entwicklungen in Jazz-Zentren wie New York. Jost selbst sah offenbar keinen solchen Einfluss und erwartete eher die Entstehung einer aus dem Jazz abgeleiteten, neuen, europäischen Art von Musik, die möglicherweise einen eigenen Namen erhalte. Er zitierte den italienischen Trompeter Enrico Rava, der davon sprach, dass die „Zukunft der Musik, die vom Jazz herkommt“, in Europa wäre und dass es vielleicht „in 20 oder 30 Jahren eine Musik geben wird, die wir die Tochter des Jazz nennen können“.15) Mittlerweile sind bereits 20 Jahre vergangen und die von Jost angedeuteten „Impulse“ aus der ehemaligen europäischen Free-Jazz-Szene führten weder zur Entstehung einer „Tochter des Jazz“ noch schlugen sie sich in irgendeiner Weise in der Jazz-Entwicklung außerhalb Europas nieder.

Ab 2011 bestritt Enrico Rava mehrere Konzerte mit Bearbeitungen von Popsongs des afro-amerikanischen Sängers Michael Jackson und brachte auch ein eigenes Album16) mit dieser Musik heraus. Er sagte, er halte Jackson für einen Giganten der Musik des 20. Jahrhunderts und er liebe seine Musik so sehr, dass er etwas mit ihr machen wollte.17) Eine solche verbale und musikalische Verneigung vor simplen Popsongs untergräbt die jahrzehntelangen Bemühungen vieler Musiker und Publizisten um Anerkennung des Jazz als kunstvolle Musik. Vor allem aber ist die Art bemerkenswert, wie Rava mit seiner Band diese Songs spielte. Er sagte, es beeindruckte ihn nicht nur Jacksons Musik, sondern auch sein Tanz, seine Bewegungen und seine Bühnenpräsenz.18) Ravas Interpretationen fehlt aber gerade eine solche Qualität der rhythmischen Bewegung. Die Band hatte trotz der Mitwirkung eines afro-kubanischen Perkussionisten einen schwachen Groove. Rava klang wie eine müde Nachahmung von Lester Bowie und Miles Davis und sobald sein Spiel nicht an afro-amerikanische Vorbilder erinnerte, war es schlicht farblos. Im Bereich eines pop-orientierten Jazz mit schillernder Bühnenpräsenz war Miles Davis in den 1980er Jahren das Pendant zu Michael Jackson. Ravas Projekt mutet im Vergleich dazu armselig an. Ein Trompetenspiel, das zu funkigen Rhythmen eine mit Jackson vergleichbare tänzerische Qualität entfaltet, präsentierte Freddie Hubbard bereits Anfang der 1970er Jahre19) so brillant, dass Rava von seinem Unterfangen besser gleich Abstand genommen hätte. Auf noch anspruchsvollere Weise betrieb Woody Shaw das kunstvolle Bewegungsspiel auf der Trompete. 1987 trat er zum Beispiel als Solist der Bigband des 67 Jahre alten Schlagzeugers Art Blakey in Japan auf. Sie spielten das aus den 1940er Jahren stammende Stück A Night in Tunisia und versetzten damit eine riesige Menge junger Zuhörer in helle Begeisterung.20) Ihre Musik war viel stärker, anspruchsvoller, schärfer und „cooler“ als alles, was Rava bei seinen Bemühungen, modern zu sein, gelang. – Dass europäische Jazz-Musiker von einer „emanzipierten“ europäischen Jazz-Tochter träumten und dass Jazz-Anhänger in Konzerthallen andächtig langweiligen Michael-Jackson-Verjazzungen lauschten, signalisierte einen Verfall der Jazz-Kultur in Europa. Publizisten wie Jost trugen wesentlich dazu bei, und zwar bereits durch ihre einseitige Präferenz für den so genannten Free-Jazz, insbesondere in der europäischen Version, die die Auflösung von Jazz-Qualitäten besonders konsequent betrieb.

Rava trat nach dem Michael-Jackson-Projekt wiederholt mit einer italienischen Band auf, die sich Living Coltrane Quartet nannte. Diese Band interpretierte John-Coltrane-Stücke und klang dabei im Verhältnis zu Coltranes großartigem Quartett wie eine Karikatur.21) Würde sich ein Musiker als „lebender Beethoven“ bezeichnen und vergleichsweise dilettantische Kompositionen zum Besten geben, könnte er anstelle eines Publikums nur mit vehementer Häme aus den Reihen der „Klassik“-Anhänger rechnen. Im Bereich der europäischen Jazz-Szene scheint so etwas hingegen niemanden mehr zu stören.

 

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  1. QUELLE: Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, 2003, S. 386
  2. Der Franzose Michel Portal arbeitete nur zum Teil im Jazz-Bereich und war vor allem auch Interpret klassischer und avantgardistischer europäischer Musik sowie ein Komponist von Filmmusik. Er spielte verschiedene Klarinetten und Saxofone sowie Bandoneon. Als Jazz-Musiker war er vor allem an einer „zunehmenden Theatralisierung“ und an „klanglichen Experimenten“ interessiert (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 1030). Mit der afro-amerikanischen Jazz-Tradition war sein Zugang wohl nie in stärkerem Maß verbunden.
  3. Musiker Mike Zwerin über Louis Sclavis: „Er hat absolut keine Ahnung davon, wie Mainstream-Jazz, Swing, Bebop – wie immer man es nennt – funktioniert.“ Sclavis habe selbst gesagt: „Ich war nie ein echter Jazz-Musiker.“ (QUELLE: Hans-Jürgen Schaal in: Peter Niklas Wilson [Hrsg.], Jazz-Klassiker, 2005, Band 2, S. 778).
  4. Der italienische Klarinettist Gianluigi Trovesi produzierte besonders bunte Mischungen aus „freier“ Improvisation, Jazz-Elementen zurück bis zu Dixieland, „klassischer“ Musik und europäischer Folklore.
  5. Der deutsche Pianist Joachim Kühn spielte in einer typisch europäischen Weise. Sie enthielt Elemente der „deutschen Romantik und des französischen Impressionismus“ (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 719) und tendierte zu einem großen, ausufernden, überladenen Klang, der an das Pathos „klassischer“ Werke erinnerte. Dazu schüttelte Kühn sein langes, lockiges Haar oft unentwegt im Stil europäischen Genie-Kults. Mit der Art, wie afro-amerikanische Jazz-Musiker das Klavier einsetzten, hatte Kühns Spielweise tatsächlich nur wenig gemeinsam.
  6. Im Jahr 1998 wurde der französische Schlagzeuger Daniel Humair 60 Jahre alt und er spielte schon seit vielen Jahren in seiner Art.
  7. Jazz-Publizist Hans-Jürgen Schaal: „Nachdenkliche Melodien, zeitlose Melancholie, dunkler Trompetenton, verhaltener Rhythmus: Das sind Tomasz Stankos Markenzeichen.“ (QUELLE: Hans-Jürgen Schaal, Zeitschrift JazzThing, Nr. 81, November 2009, S. 98) – Trotz aller „traurigen Unendlichkeit“, die in Stankos Musik zu hören sei und für seine polnische Heimat charakteristisch sein soll, trotz entsprechend düsterer Schwarzweißbilder des gealterten Mannes und trotz mancher melancholischen, schleppenden Ballade ist in Stankos Trompetenspiel wohl kaum ein Ton zu finden, der nicht an alte afro-amerikanische Vorbilder erinnert.
  8. Die Schweizer Pianistin Iréne Schweizer spielte schon lange ihre Art „freier“ Improvisation, die offenbar im Wesentlichen afro-amerikanischen Vorbildern nachempfunden ist.
  9. QUELLE: Ekkehard Jost, Europäischer Jazz. Sonderweg oder letzte Wahrheit?, Manuskript zu einem Vortrag bei der Music-Talks-Veranstaltung mit dem Thema Das Ende der Zukunft in Saalfelden am 27. und 28. August 1998
  10. Ekkehard Jost: „Was ich verdeutlichen will, ist, dass Free-Jazz als übergreifende Kategorie für eine Reihe von zum Teil stark divergierenden Personalstilen vielleicht nicht mehr so greifbar ist wie vor 20 Jahren, dass er als eine spezifische Spielhaltung jedoch durchaus lebendig geblieben ist, praktiziert von Musikern, für die er zwar nicht ausschließlich, jedoch die essentiellen Ausdrucksmittel bereitstellt.“ (QUELLE: Ekkehard Jost, Europäischer Jazz. Sonderweg oder letzte Wahrheit?, Manuskript zu einem Vortrag bei der Music-Talks-Veranstaltung mit dem Thema Das Ende der Zukunft in Saalfelden am 27. und 28. August 1998)
  11. Näheres im Artikel Josts Progressivität: Link
  12. etwa der Innovationen aus der M-Base-Bewegung
  13. etwa Tomasz Stanko, auch Enrico Rava (QUELLE: Wolfram Knauer, Blowin‘ Up a [European] Storm, in: Wolfram Knauer, Begegnungen. The World Meets Jazz, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 10, 2008, S. 118-128)
  14. Ekkehard Jost führte unter anderem folgende Alben an: Rava l‘opéra va von Enrico Rava (1993, mit Kompositionen von Puccini und Pergolesi), Die Dreigroschenoper von Joachim Kühn (1993), Famous Melodies von Joachim Kühn (1993, mit Kompositionen von Friedrich Holländer, Kurt Weill und Norbert Schulze), Carmen von Enrico Rava (1995), Europeana von Michael Gibbs und Joachim Kühn (1995, mit Bearbeitungen von Volksliedern aus Norwegen, Schottland, Finnland, Irland, Schweden, Frankreich, Deutschland und Spanien), Les Violences de Rameau von Louis Sclavis (1996, mit Kompositionen von Jean-Philippe Rameau), Weimarer Balladen von Ekkehard Jost selbst (1990).
  15. QUELLE: Ekkehard Jost, Europäischer Jazz. Sonderweg oder letzte Wahrheit?, Manuskript zu einem Vortrag bei der Music-Talks-Veranstaltung mit dem Thema Das Ende der Zukunft in Saalfelden am 27. und 28. August 1998
  16. Album Rava On The Dance Floor (Live-Aufnahme 2011)
  17. QUELLE: Michael J. West, Enrico Rava and Rome’s PM Jazz Lab Honor Michael Jackson, 19. März 2013, Internet-Adresse: https://jazztimes.com/features/enrico-rava-and-romes-pm-jazz-lab-honor-michael-jackson/
  18. QUELLE: Michael J. West, Enrico Rava and Rome’s PM Jazz Lab Honor Michael Jackson, 19. März 2013, Internet-Adresse: https://jazztimes.com/features/enrico-rava-and-romes-pm-jazz-lab-honor-michael-jackson/
  19. zum Beispiel im Stück Mr. Clean des Albums Straight Life (1970)
  20. QUELLE: Video-Aufnahme vom Auftritt der Art Blakey Big Band beim Mount Fuji Jazz Festival im August 1987, Internet-Adressen: https://www.youtube.com/watch?v=NByhKoNBgdY und https://www.youtube.com/watch?v=0ttz5AXT3q4 oder https://www.loc.gov/item/jots.200028200/
  21. QUELLE: YouTube-Video Living Coltrane Quartet & Enrico Rava @ Blue Note, von einem Auftritt in Mailand am 17. Februar 2013, Internet-Adressen: https://www.youtube.com/watch?v=j85Cb-quuzo und https://www.youtube.com/watch?v=UIiLoxJIKas; es gibt auch Internet-Einträge über Auftritte Ravas mit dieser Gruppe in den Jahren 2014 und 2016

 

 

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