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„Ich höre mir Louis Armstrong an und höre da etwas, was ich in allem hören möchte, das ‚Jazz‘ genannt wird.“ (Sonny Rollins)1)

Der Jazz brachte mit seinem großartigen Bewegungsgefühl, seinem ausdrucksstarken Sound und seiner intelligenten Lässigkeit eine Belebung nach Europa, die eine Alternative zur damals bereits eher bedrückenden, verfahrenen europäischen Kultur bot. Bewegliche, an frischem Wind interessierte Europäer bereiteten dieser für sie exotischen afro-amerikanischen Musik eine Bühne, zunächst vor allem in Frankreich.2) Der afro-amerikanische Schlagzeuger Max Roach, der erstmals im Jahr 1949 mit Charlie Parker dorthin kam, sagte: „Die Atmosphäre in Frankreich war freundlich. Wir empfanden das als sehr angenehm, weil wir [als Afro-Amerikaner in den USA] eine feindselige Umgebung gewöhnt waren. Auch in Frankreich war man sehr besorgt um seinen Besitz und seine Geschichte. Aber das Ganze hatte eine freundliche Note. Und so soll es auch sein. Es ist nicht gut, die Türen zu verrammeln, damit niemand ‘rein kann.“3) In Deutschland fehlte eine solche Offenheit noch länger, da die fatale ideologische Verirrung auch nach dem Zusammenbruch nicht sofort weichen wollte4), und in Großbritannien „verrammelte“ die heimische Musikergewerkschaft von 1934 bis 1956 die „Türen“5). Nach der Überwindung vielerorts bestehender Vorbehalte wurde Europa jedoch insgesamt ein für die Existenz vieler Jazz-Musiker wichtiger Gastgeber. Gewiss wurde diese fremde Musikkultur oft missverstanden und mit verfehlten Projektionen befrachtet, ursprünglich zum Beispiel mit einer primitivistischen Deutung6) und später häufig mit einer anti-autoritären, nonkonformistischen und politischen Interpretation. Aber das Spektrum der Auffassungen und Interessen war zweifelsohne schon immer vielfältig. Gemeinsam war den meisten europäischen Jazz-Anhängern stets eine Vorliebe für afro-amerikanische Musiker.7)

Vom Jazz-Interesse europäischer Hörer profitierten auch viele europäische Jazz-Musiker. Ihre Lebensbedingungen waren in der Regel deutlich besser als die der Jazz-Musiker in den USA8) und einige Europäer hatten beträchtlichen Erfolg9). In den europäischen Spielarten spiegelte sich der andersartige kulturelle Hintergrund und als in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre junge Europäer den Ideen der Free-Jazz-Bewegung folgten, entfernten sie sich besonders weit von der Jazz-Tradition. Sie führten wilde, lärmende, eher an Performance-Kunst erinnernde als musikalische Aktionen auf, die für die Jazz-Geschichte belanglos sind, aber in der deutschsprachigen Jazz-Literatur Bedeutung erlangten.
Mehr dazu: Emanzipation

Im Jahr 2001 begann der britische Jazz-Kritiker Stuart Nicholson, die Behauptung zu verbreiten, der Jazz würde in Amerika stagnieren, sich in Europa hingegen weiterentwickeln. Dabei reduzierte er den „amerikanischen“ Jazz weitgehend auf die traditionelle Linie, die Wynton Marsalis repräsentierte, und diese irreführende Darstellung verwendeten auch andere immer wieder, um europäische Entwicklungen als die einzigen kreativen auszugeben.
Mehr dazu: Ausblendung

Was Nicholson als neuen, europäischen Jazz pries, bestand aus unterschiedlichen Spielarten. Größtenteils waren sie leicht zugänglich, da sie keine Vertrautheit mit der spezifischen Kunst des Jazz erforderten, und kamen daher bei einem größeren Publikum an. Ihr kommerzieller Erfolg war sogar das primäre Argument, auf das Nicholson seine Behauptung stützte. So modisch diese europäischen Produktionen daherkamen, so wenig enthielten sie von jenen musikalischen Qualitäten, die die bedeutenden Werke der Jazz-Geschichte auszeichnen.
Mehr dazu: Trendige Verpackung

Auch Musiker aus der älteren europäischen Free-Jazz-Generation wurden nun als führende Innovatoren des Jazz gerühmt, obwohl sie weit davon entfernt waren, Meister im Sinn dieser Musiktradition zu sein.
Mehr dazu: Free-Garde

In der deutschsprachigen Jazz-Literatur wurde eine generelle Unterstützung und Bevorzugung europäischer Musiker unübersehbar. Nahezu jede europäische Musikproduktion, die improvisatorische Elemente enthielt, wurde als Jazz ernst genommen. Kritik an amerikanischen Jazz-Musikern, besonders an afro-amerikanischen Traditionalisten wie Marsalis, war immer wieder zu lesen, aber kaum Kritik an Europäern, selbst wenn die Jazz-Anteile in ihrer Musik noch so gering und schwach waren. Nahezu alles, was von der Jazz-Tradition abwich (Elemente aus Folklore, „Klassik“, europäische Avantgarde, Pop), schien als europäische Innovation willkommen zu sein. Es wurden sogar beträchtliche theoretische Verrenkungen mit Argumenten wie Globalisierung und neuer Ästhetik unternommen, um zu begründen, warum die Maßstäbe der afro-amerikanischen Jazz-Tradition für europäische Musiker nicht mehr gelten sollten. Der Name „Jazz“, der durch die Leistungen der Jazz-Tradition mit Ansehen verknüpft ist, wurde aber weiterhin in Anspruch genommen. Charlie Parker, John Coltrane, Sonny Rollins, Thelonious Monk, Miles Davis, Max Roach und so weiter überzeugten mit ihrer Musik. Kämen in Europa vergleichbare Beiträge zu dieser Musiktradition zustande, würde sich die Diskussion über globalisierte Ästhetik, kulturellen Besitz und so weiter erübrigen.
Mehr dazu: Enteignung

Gefördert scheint im deutschsprachigen Raum bloß noch die heimische Szene zu werden, kaum mehr der Jazz an sich – so wie Wirtschaftsförderung stets eine Unterstützung heimischer Unternehmen bedeutet. Jazz als großartige, wenn auch fremde Kultur verlor offenbar rapide an Wertschätzung, soweit nicht Interessen regionaler Akteure betroffen sind.
Mehr dazu: Heimische Lobby

Für (afro-)amerikanische Musiker ging mit dem erschwerten Zugang zum europäischen Markt eine wichtige ökonomische Grundlage verloren, denn das kulturelle Interesse europäischer Hörer war für anspruchsvollen Jazz eine wichtige Unterstützung. Die Behauptung, eigene europäische Vorstellungen würden im Jazz nun gleichwertig neben einem aus der Jazz-Tradition abgeleiteten Jazz-Verständnis stehen, wird als Anmaßung im Kampf um Marktanteile wahrgenommen und es wurde die Frage aufgeworfen, ob in dieser Ablösung und Besitzergreifung eine rassistische Tendenz zu sehen ist.
Mehr dazu: Rassismus-Frage

Mit der Entfernung von der afro-amerikanischen Jazz-Kultur entzogen sich einheimische Musikpublizisten die Möglichkeit, ein in dieser Kultur gegründetes Verständnis und Gespür zu entwickeln, sodass oberflächliche Eindrücke, Jazz-ferne Kunstvorstellungen und Marktinteressen die Oberhand gewannen.
Mehr dazu: Kritikverfall

Die europäische Entwicklung trifft nicht zuletzt die Jazz-Hörer. Die meisten von ihnen haben nicht die Zeit und Energie, zu hinterfragen, was ihnen als aktueller Jazz verkauft wird, und sich selbst Kenntnisse zu verschaffen. Für viele dürfte daher kaum merkbar sein, wie Zugänge verloren gehen, wichtige Beiträge in einem Schwarm von Eintagsfliegen versinken und die gesamte Musikart Jazz missverstanden wird – zum Teil als Entspannungsmusik mit ein wenig Kunstanspruch, zum Teil als elitäre, schwer nachvollziehbare „moderne Kunst“, die keine wirkliche Befriedigung verschafft, zum Teil als bunte Mischung aus spaßigem Sich-Ausleben. Manchem Hörer mögen verdünnte europäische Jazz-Versionen entgegenkommen, da sie nicht das Entwickeln eines Feelings für eine etwas fremdartige Musikkultur erfordern. Man kann sich als Jazz-Kenner fühlen, sobald man an „nordischer“ Stimmungsmusik, an Opern-Melodien in italienischem Jazz, an andalusischem Flair in französischer „imaginärer Folklore“ oder an irgendwie „polnischer“ Melancholie Gefallen findet.

Wer aber wirklich Jazz schätzt, ist nicht damit zufrieden, wenn ihm unter dem Etikett „Jazz“ etwas anderes verkauft wird. Natürlich ist es vorstellbar, dass auch japanische Musiker eine Art Flamenco spielen. Ob die von ihnen hervorgebrachte Musik tatsächlich als Flamenco zu bezeichnen ist und welche Qualität sie hat, ist aber selbstverständlich nach den Kriterien der in Spanien entwickelten und von spanischen Meistern repräsentierten Tradition zu beurteilen. Was Jazz ist und welche Musiker als seine maßgeblichen Meister anzusehen sind, haben Musikkritiker in einem jahrzehntelangen Prozess herausgearbeitet.10) Wer eine Musik „Jazz“ nennt, bringt unausweichlich die mit diesem Begriff verbundenen Kriterien ins Spiel. Zu behaupten, es gebe von nun an eine Art von Jazz, für die andere Kriterien gelten, ist wie das Beurteilen von Flamenco nach japanischen Musikvorstellungen.

In einem Interview mit dem 68-jährigen afro-amerikanischen Pianisten McCoy Tyner sagte der Interviewer: „Heute sagen viele, dass der Jazz seine neuen Impulse in Europa bekommt. Es gibt den Begriff Euro-Jazz.“ Tyner antwortete: „Die Schallplatten-Industrie und Musik-Journalisten erfinden immer wieder neue Trends und Begriffe, um junge Menschen zu beeinflussen und das Geschäft anzuheizen. Ich halte nichts davon.“11)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1991, S. 97
  2. QUELLE: Ekkehard Jost, Le Jazz en France, in: Klaus Wolbert [Hrsg.]: That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, 1988, S. 313-328
  3. QUELLE: Dokumentarfilm Reflections. New York–Paris von Jéróm de Missolz/Eric Sandrin, 1998
  4. Horst Lippmann: Der französische Jazz-Kritiker Charles Delaunay habe ihm 1949 telefonisch mitgeteilt, dass Coleman Hawkins nach Paris kommt, und ihn gefragt, ob er für ihn Konzerte in Deutschland vermitteln kann. Er habe daraufhin die „ganzen etablierten Konzertdirektionen“ angerufen, die allerdings noch „sehr stark von der Nazi-Zeit geprägt“ gewesen seien. Er habe Antworten erhalten wie: „Coleman Hawkins? Wer ist denn das? Was! Ein Schwarzer! Ach du liebes bisschen, Jazzmusik! Das ist ja wohl Urwaldmusik!“ Keiner sei bereits gewesen, einen Auftritt Hawkins‘ zu veranstalten, woraufhin er es selbst gemacht habe. Bis zu einer Tournee des Modern Jazz Quartets im Jahr 1957 seien einige Konzertsäle für Jazz sogar generell tabu gewesen. Da Jazz nicht als künstlerisch wertvoll betrachtet wurde, sei stets eine 25-prozentige Vergnügungssteuer zu entrichten gewesen. Bis Jazz in angesehenen Konzertsälen aufgeführt werden konnte, seien „lange, lange und schwere, schwere Kämpfe“ erforderlich gewesen. (QUELLE: Günther Huesmann, Geburt und Werdegang des Jazzfestivals, Gespräch mit Horst Lippmann, in: Klaus Wolbert [Hrsg.]: That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, 1988, S. 675)
  5. QUELLE: Charles Fox, Jazz in England, in: Klaus Wolbert [Hrsg.]: That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, 1988, S. 437 und 441
  6. zum Beispiel durch eine 1918 gegründete französische Künstlergruppe (QUELLE: Ekkehard Jost, Le Jazz en France, in: Klaus Wolbert [Hrsg.]: That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, 1988, S. 316f.) – Zum Begriff „primitivistisch“ im Artikel Ghetto-Musik: Link
  7. QUELLE: Ekkehard Jost, Le Jazz en France, in: Klaus Wolbert [Hrsg.]: That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, 1988, S. 314
  8. schon allein durch die viel geringere Konkurrenz als etwa in New York, außerdem durch den höheren künstlerischen Status des Jazz in Europa, durch die sozialeren Verhältnisse und schließlich durch eine vergleichsweise kräftige öffentliche Förderung
  9. zum Beispiel Django Reinhardt, Jacques Loussier, Chris Barber, Jan Garbarek
  10. Näheres im Artikel Echter Jazz: Link
  11. QUELLE: Hans Hielscher, Jazz-Legende McCoy Tyner: Ich halte nichts von Trends, 1. März 2007, Internetseite der Zeitschrift Spiegel, Internet-Adresse: http://www.spiegel.de/kultur/musik/jazz-legende-mccoy-tyner-ich-halte-nichts-von-trends-a-468524.html

 

 

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