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Jazz-Stile


Im Jazz-Journalismus waren seit jeher Ausdrücke wie Hot-Jazz, Sweet-Jazz, Symphonic-Jazz, Swing, Dixieland, Bebop und so weiter gebräuchlich, mit denen gewisse Erscheinungsformen, Tendenzen und Strömungen des Jazz-Bereichs auf plakative Weise benannt wurden. Solche Ausdrücke wurden dann auch in Darstellungen der Jazz-Geschichte verwendet, wenn es darum ging, über einzelne Musiker hinausgehende Entwicklungen zu bezeichnen. Obwohl sie stark vereinfachen, vergröbern und verzerren, etablierten sie sich in der Literatur und Pädagogik bald als „Jazz-Stile“, mit denen praktisch das gesamte Jazz-Spektrum eingeteilt und der Verlauf der Jazz-Geschichte dargestellt wurde. Dieses „Stile“-System ist in vieler Hinsicht irreführend und spiegelt vor allem wider, wie Jazz-Kritiker im Lauf der Geschichte die aktuellen Entwicklungen der Jazz-Szenen wahrnahmen, einzuordnen versuchten und um ihre Beurteilung rangen. Indem sie jeweils für einen längeren Zeitabschnitt einen einzelnen „Stil“ hervorhoben, nahmen sie eine rigorose Bewertung vor, denn sie unterstellten damit, dass die vom „Stil“ erfassten Jazz-Beiträge die bedeutendsten der jeweiligen Zeit waren. Diese Bewertung wurde nicht rückblickend aus einer größeren Perspektive getroffen, sondern in der jeweiligen Zeit und unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklungen, wie sie für die Jazz-Kritiker erkennbar waren. Als „weiße“ Nichtmusiker waren sie Outsider und hatten als Beurteilungsbasis nur ihren kulturellen Hintergrund aus klassischer Bildung und ihr eigenes Verständnis von Jazz zur Verfügung. Wie im Journalismus üblich, griffen sie häufig eher oberflächliche Aspekte für eine beeindruckende „Story“ auf, in der es mehr um Umbrüche, Neuartigkeit, Modernität, gesellschaftliche, politische Anliegen, Bildungsstatus, Exotik und Lebensschicksale ging als um schwerer erfassbare, tiefgründige Qualitäten. Ihre kompetent wirkenden musikalischen Erläuterungen beruhten in Wahrheit oft auf Missverständnissen. So sagte zum Beispiel Steve Coleman, nachdem er bereits 25 Alben in 18 Jahren aufgenommen hatte und in unzähligen Konzerten aufgetreten war: Er habe noch nie eine Besprechung seiner Musik gesehen, die irgendetwas darstellte, was tatsächlich geschehen war – wenn Kritiker versuchten, über die Musik in technischer Hinsicht zu sprechen. Kein einziges Mal! Sie sollten daher nicht versuchen, die Musik zu besprechen, sondern einfach darüber reden, wie sie sie empfinden.1) – Die in mehrfacher Hinsicht laienhaften Sichtweisen der Jazz-Kritiker führten immer wieder von der Linie, die Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane repräsentierten, weg und wurden erst nachträglich etwas zurechtgerückt.

Manche neueren Darstellungen der Jazz-Geschichte entwerfen ein breiteres Bild, indem sie eine Beschreibung der „Stile“ mit einem Herausstellen einzelner bedeutender Musiker abwechseln und ergänzend weitere bemerkenswerte Entwicklungen der jeweiligen Zeit anführen. Tatsächlich kommt in der Jazz-Geschichte (wie auch in anderen Musiktraditionen) bestimmten Musikern eine so herausragende Bedeutung zu, dass ein Bezug auf sie oft „Stil“-Bezeichnungen ersetzten kann. Kennt man ein wenig ihre Musik, so verschafft ein Verweis auf sie ein klareres und lebendigeres Bild als die diffusen „Stile“. Aber nicht jede Bewegung im Jazz, die von mehreren Musikern gebildet wurde, kann mit einer einzelnen stellvertretenden Figur erfasst werden. Daher ist zum Beispiel für jene Bewegung junger Musiker der 1940er Jahre, zu denen Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk, Max Roach und andere zählten, der übliche Name Bebop kaum entbehrlich, auch wenn er als Stil-Begriff unzutreffend ist2). Um bestimmte Tendenzen der späten 1950er, der 1960er Jahre und darüber hinaus zu benennen, ist eine Bezeichnung wie Free-Jazz erforderlich, so problematisch sie auch ist. Die Modewelle der Bigband-Musik, die 1935 mit Benny Goodman als Star begann, bediente sich des Begriffs Swing und wird wohl auch heute noch am besten damit bezeichnet. Fusion ist zweifelsohne ein passender Ausdruck für die Bestrebungen in den 1970er Jahren, Jazz mit Rock oder Funk zu verbinden, um ein großes, jugendliches Publikum anzusprechen. Auch andere Bezeichnungen für Jazz-Richtungen, die auf einer spezifischen Idee beruhen, wie zum Beispiel Third-Stream (Verbindung von Jazz mit „klassischer“ Musik), erscheinen als sinnvoll. Eine solche Verwendung etablierter Etiketten wie Swing, Bebop und so weiter unterstellt nicht das Bestehen eines einheitlichen musikalischen Stils, sondern benennt lediglich eine Bewegung, Tendenz, Modeströmung oder Idee.

Die „Jazz-Stile“ spielen in der Literatur jedoch eine so große Rolle, dass man trotz ihrer Fragwürdigkeit nicht umhin kommt, sich mit ihnen näher zu beschäftigen.
Mehr dazu: Stile im Einzelnen

 

Jazz-Entwicklung

Die Darstellung der Jazz-Geschichte als Abfolge von Stilen ergibt das Bild einer linearen Entwicklung, der noch dazu oft eine innermusikalische Logik zugesprochen wurde.3) Der einflussreiche deutsche Jazz-Kritiker Joachim-Ernst Berendt ging im Hineindeuten eines logischen Fortschreitens besonders weit. Das starke europäische Interesse an Free-Jazz, das mit der politischen Studentenbewegung im Zusammenhang stand, beflügelte in den 1970er Jahren die Fortschrittsidee noch. Der Musikwissenschaftler Ekkehard Jost beschrieb den Free-Jazz gar als einen Zielpunkt der Jazz-Entwicklung und seine Sichtweise übte im deutschsprachigen Raum ebenfalls einen starken Einfluss aus. In den 1980er und 1990er Jahren löste sich das Konzept einer gesetzmäßigen Stil-Fortschreitung dann in einer viel beklagten „Unübersichtlichkeit“ des Jazz auf. Berendts und Josts Interpretationen der Jazz-Geschichte ließen nun den Eindruck entstehen, der Jazz wäre aus den Fugen geraten oder an einem unausweichlichen Endpunkt angelangt. Die beiden Autoren waren in unterschiedlichen Positionen lange Zeit so präsent, dass ihre Auffassungen im deutschsprachigen Raum weit über ihre Zeit hinaus nachwirken.
Mehr dazu:
Berendts Stil-Esoterik
Josts Progressivität
Hörgewohnheiten

In Wahrheit verlief die Jazz-Entwicklung stets in viele unterschiedliche Richtungen und neue Spielweisen ersetzten bestehende nicht, sondern traten neben sie. So wurde zum Beispiel in den 1960er Jahren, die in der Jazz-Literatur vor allem als die Zeit des Free-Jazz erscheinen, wesentlich mehr Dixieland als Free-Jazz gespielt.

Mit der wachsenden Vielfalt entstanden unter anderem immer extremere, weiter von populärer Musik entfernte Jazz-Formen und so gewannen offenbar manche Jazz-Kritiker den Eindruck, der Jazz strebe aufgrund einer inneren Logik in eine gewisse Richtung. Diese Wahrnehmung erinnert an die Auffassung, die biologische Entwicklung habe sich auf den Menschen als „Krone der Schöpfung“ hinbewegt. Tatsächlich führte die Evolution aber nicht deshalb zu immer komplizierteren Lebewesen, weil das ihre Logik, ihr Sinn oder Zweck gewesen wäre, sondern aus einem simplen Grund: Da die Entwicklung des Lebens mit den allereinfachsten Wesen begann, konnten neue Lebensformen nur komplizierter sein. Noch einfachere Wesen als die Einzeller am Anfang waren schlicht nicht möglich. Die ständige Ausweitung der Vielfalt der Lebensformen musste somit in Richtung größerer Komplexität gehen und auf diese Weise entstand eben irgendwann auch eine so komplizierte Erscheinung wie der Mensch, der nur in seinen eigenen Augen eine besondere Bedeutung hat.

Vergleichbar mit der Evolution arbeiten im Jazz ständig viele Musiker daran, Eigenes, Neues zu schaffen und damit ein Publikum zu erreichen. Die stilistische Bandbreite nahm daher ständig zu und nachdem der Jazz als eine Art Volksmusik mit einfachen Harmonien und Rhythmen begann, musste die laufende Erweiterung zwangsläufig dazu führen, dass manche Musiker in schwerer zugänglichen Musikbereichen nach ihrem eigenen Weg suchten. Sie fanden auch dafür ein Publikum, wenn auch ein zunehmend kleineres, bis schließlich manche nur mehr von Subventionen oder Lehrtätigkeiten leben können. Diese Entwicklung zu immer Schrägerem, schwerer Erträglichem ist jedoch nur eine von zahlreichen Richtungen, in die die Gestaltungsmöglichkeiten ausgeweitet wurden. Viele Musiker beschritten andere Wege der Erweiterung: in Richtung Latin-Musik, europäische Konzertmusik, Soul und Funk, Rock, elektronische Sounds, afrikanische, indische Musik, Hip-Hop und so weiter. Sie kombinierten andere Instrumente, reduzierten die Besetzung oder dehnten sie zu Orchestern aus, griffen ältere Stile wieder auf, mischten das Unterschiedlichste und es entstanden viele verschiedene Szenen, Gruppen und Hörerkreise.

John Coltrane sagte: „Ich hatte nie das Gefühl, dass der Jazz in irgendeine einzige Richtung geht; er geht in alle Richtungen. Jazz ist mit Emotion verknüpft und es gibt alle Arten von Emotion, die ausgedrückt werden.“4)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Johannes Völz, Improvisation, Correlation, and Vibration: An Interview with Steve Coleman, Anfang 2003, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/improvisation-correlation-and-vibration-an-interview-with-steve-coleman/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  2. Näheres dazu im Artikel Stile im Einzelnen: Link
  3. siehe dazu im Artikel Echter Jazz folgende Stelle (insbesondere auch die Fußnote): Link
  4. QUELLE: Cris DeVito [Hrsg.], Coltrane on Coltrane, 2010, S. 200

 

 

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