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In Darstellungen der Jazz-Geschichte werden häufig folgende so genannte Jazz-Stile mit folgender ungefähren zeitlichen Zuordnung genannt:
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Diese Kategorien sind (zumindest als Stile) aus folgenden Gründen fragwürdig:
In den Jahren 1921 bis 1923 kamen die ersten Jazz-Aufnahmen afro-amerikanischer Bands1) aus New Orleans zustande und damit die ersten, die als authentisch für solche Musik anzusehen sind.2) Erste Spielweisen, die als Form von Jazz betrachtet werden können, sollen jedoch bereits um 1900 entstanden sein. Somit begann die Jazz-Entwicklung mit einer mehr als 20 Jahre langen Phase, über die nur rückblickende und oft widersprüchliche Schilderungen verfügbar sind. In dieser langen Zeit wurden die Spielweisen, die in den Aufnahmen aus den frühen 1920er Jahren zu hören sind, erst allmählich entwickelt. Keinesfalls wurde von Anfang an und dann zwei Jahrzehnte hindurch unverändert in einem einheitlichen Stil gespielt. Das Stilschema beginnt somit bereits mit einer unrealistischen Annahme. – Die Bezeichnung Dixieland-Jazz wird meistens für die Nachahmung der afro-amerikanischen Spielweisen in New Orleans durch „weiße“ Musiker verwendet. Solche „weiße“ Bands konnten bereits ab 1917 Aufnahmen machen, spielten jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung denselben Stil.3)
Chicago-Jazz
Der historisch bedeutsame Jazz im Chicago der 1920er Jahre war vor allem jener, den die afro-amerikanischen Musiker aus New Orleans dort aufnahmen und der nach dem Stilschema New-Orleans-Jazz genannt wird. Zunächst war das die Musik von King Oliver und seiner Band und dann besonders die von Louis Armstrong und seiner Hot-Five/Seven-Band. Armstrongs überragende Bedeutung besteht allerdings gerade darin, dass er in diesen Aufnahmen die Spielweisen aus New Orleans mit seinen brillanten Soli zunehmend sprengte und einen neuen Stil entwickelte.4) Ausgerechnet für diesen entscheidenden Schritt der Jazz-Entwicklung sieht das Stilschema keinen Platz vor. Denn der Ausdruck Chicago-Jazz bezieht sich nicht auf Armstrongs Musik, sondern auf einen Kreis junger „weißer“ Musiker, die Armstrong und andere Musiker aus New Orleans auf ihre Weise nachahmten. Außerdem wichen diese in unterschiedlichem Maß und in unterschiedliche Richtungen von ihren Vorbildern ab, sodass sich daraus kein einheitlicher Stil ergab. Als Talentiertester unter ihnen galt der Kornettist Bix Beiderbecke, der in seiner weichen, beschaulichen und „klassisch“ beeinflussten Art mit dem ähnlich ausgerichteten Saxofonisten Frank Trumbauer einzelne hübsche Aufnahmen machte. Manche „weiße“ Musiker sahen in Beiderbecke eine Leitfigur aus ihrer eigenen „Rasse“ und als solche wirkt er bis heute nach. Für die von Afro-Amerikanern vorangetriebene weitere Entwicklung des Jazz spielte Beiderbecke jedoch keine Rolle.5) Was die „weißen“, so genannten „Chicagoer“ hervorbrachten, war somit weder ein durchgängiger Stil, noch ein für die Jazz-Geschichte so bedeutender Beitrag, dass er es rechtfertigen würde, die 1920er Jahre ihnen zuzuschreiben. Das Stilschema übergeht mit seiner Konzentration auf den Beiderbecke-Kreis außerdem die bedeutenden Entwicklungen in New York. Dort bestand eine lebhafte Szene virtuoser Stride-Pianisten und Duke Ellington machte gegen Ende des Jahrzehnts erste bis heute bedeutende Aufnahmen mit einer Jazz-Bigband.
Swing
Die lange Zeit herrschende, auf Rassismus beruhende Dominanz „weißer“ Musiker schlug sich im Stilschema auch in Bezug auf die 1930er Jahre nieder. Swing war eine ab 1935 in Gang gekommene, erfolgreiche Tanzmusikmode, die von „weißen“ Bigbands, insbesondere der von Benny Goodman, ausgelöst und angeführt wurde. Sie beruhte auf verwässerten afro-amerikanischen Spielweisen und ließ afro-amerikanische Bands nur beschränkt zum Zug kommen.6) Indem das Stilschema diese Swing-Mode bei der Betrachtung der 1930er Jahre in den Mittelpunkt rückt, folgt es kommerziellen Gesichtspunkten, wo es allein auf die Entwicklung des Jazz im Sinn seiner eigenen, besonderen Qualitäten ankommen sollte.7) Die musikalisch bedeutenden Innovationen fanden nicht auf der Goodman/Glenn-Miller-Schiene mit ihrem American-Way-of-Life-Flair statt. Duke Ellingtons Musik war nie Swing und sie entwickelte sich seit Mitte der 1920er, ohne je von einer Stilkategorie in eine andere zu wechseln. Für Fletcher Hendersons Band gilt dasselbe und die besonders elegant und stark swingende, Blues-geladene Musik, die Count Basies Band aus Kansas City mitbrachte, wird ebenfalls missverstanden, wenn sie im Rahmen von Swing-Klischees wahrgenommen wird. Pianisten wie Earl Hines und Fats Waller wechselten nicht ihre Spielweise, nachdem in den 1930er Jahren die so genannte Swing-Ära begann. Sie waren nahtlos mit Vorgängern wie James P. Johnson und Willie „Lion“ Smith verbunden, die bereits in den 1910er Jahren bedeutend waren. Keine Stilkategorie kann die musikalisch bedeutenden Aufnahmen der 1930er Jahre als mehr oder weniger einheitliche Art von Musik einfangen und von vorhergehenden abgrenzen. Welche Gemeinsamkeit sollte in den 1930er Jahren zum Beispiel die Basie-Band mit Art Tatums Solo-Aufnahmen gehabt haben, die sie nicht auch mit Ellingtons, Earl Hines und Armstrongs Musik der 1920er Jahre hatte? Die vielfältigen Entwicklungen in ihrer Kontinuität ohne willkürliche Stilabgrenzungen zu betrachten, ergibt ein viel realeres und lebendigeres Bild.
Anhänger populärer Swing-Musik8) mussten um 1945 den Eindruck haben, die damals erscheinenden ersten Aufnahmen von Dizzy Gillespie und Charlie Parker wären eine völlig neue, revolutionäre Art von Jazz. Diese neue Musik wird in der Jazz-Literatur Bebop genannt und häufig als erste Form von „modernem“ Jazz verstanden, da sie keine populäre Form der Unterhaltung mehr bot, sondern aufmerksames Zuhören verlangte. Der abrupte Wechsel von Unterhaltung zu Zuhören zeigt sich jedoch nur, wenn die Bebop-Musiker den populären Swing-Bigbands wie der von Benny Goodman gegenübergestellt werden. Tatsächlich erforderten schon lange davor viele Jazz-Aufführungen aufmerksames Hören, zum Beispiel Louis Armstrongs Soli, die er in den 1920er Jahren in Chicago präsentierte9), die damaligen Wettkämpfe der Stride-Pianisten in afro-amerikanischen Kneipen und auf Rentpartys in New York10), die ambitionierten Kompositionen Duke Ellingtons in den 1930er Jahren11), die Solo-Improvisationen des Pianisten Art Tatum in diversen Lokalen und die anspruchsvolle Interpretation des Songs Body and Soul in der Aufnahme des Tenor-Saxofonisten Coleman Hawkins aus 1939. Ab Mitte der 1930er Jahren entstand in New York auf der 52. Straße (in der Nähe des Broadways) eine Reihe florierender Lokale, in denen kleine Bands einem überwiegend „weißen“ Publikum Jazz zum Zuhören (nicht zum Tanzen) boten.12) Zu diesem Zeitpunkt muss es in New York also eine ausreichend große Zahl von Jazz-Anhängern gegeben haben, die diese Musik als hörenswerte Kunst verstanden, was vor allem auf das Wirken der damaligen Hot-Clubs und etlicher Jazz-Kritiker13) zurückzuführen ist.14) Einen speziellen Reiz hatten für Jazz-Fans die so genannten Jam-Sessions15), die als besonders authentisch galten16), und daher ließen die Lokale der 52. Straße simulierte Jam-Sessions von bekannten Musikern aufführen.17) Das Verlangen nach möglichst echtem, nicht kommerziell angepasstem Jazz bereitete dann den Boden für den Auftritt der Bebop-Musiker.18) Ab Mitte der 1940er Jahre erhielten sie mit ihren Bands Engagements auf der 52. Straße19) und ihre häufige Zusammenarbeit mit traditionelleren Musikern, insbesondere mit dem als Swing-Musiker geltenden Tenorsaxofonisten Coleman Hawkins, half ihnen, sich ein Publikum zu erschließen20).
Auch in musikalischer Hinsicht bauten die Bebop-Musiker weitgehend auf den Errungenschaften Älterer auf.21) Ihre Musik zeichnete sich durch eine Steigerung im Wesentlichen bereits vorhandener Qualitäten aus, nicht durch grundsätzlich neue. Was damals vielen als Bruch mit der Tradition erschien, wurde längst als organische Weiterentwicklung erkannt. Die Abgrenzung durch einen eigenen Namen (Bebop) verschleiert die Verbundenheit mit den Vorgängern. Dieser Verbundenheit widerspricht nicht, dass die jungen Musiker in sehr kreativer Weise ihre eigenen Spielweisen und ihren jeweiligen persönlichen Ausdruck entwickelten. Charlie Parker übte mit seinen locker fließenden, geschmeidigen, raffinierten melodischen Linien zwar einen starken Einfluss aus22) und andere wurden ebenfalls zu Vorbildern. Auch etablierten sich in ihren Bands gewisse Formen des Zusammenspiels. Doch entwickelten die führenden Vertreter der Bebop-Bewegung einen ausgeprägten individuellen Charakter. So war zum Beispiel das Spiel der beiden bedeutendsten Pianist der Bebop-Bewegung grundverschieden, wie folgende Aussage von Miles Davis deutlich macht: „Viele Leute sagten, dass [Thelonious] Monk nicht so gut Klavier spielen konnte wie Bud Powell, weil sie Bud wegen seiner Schnelligkeit für den besseren Techniker hielten. Es ist ganz großer Blödsinn, sie danach zu beurteilen, denn ihre Stile waren völlig verschieden. […] Beide waren irre Pianisten, sie hatten nur unterschiedliche Stile.“23) Die persönlichen Stile Monks, Powells und anderer Beteiligter dieses Musikerkreises in eine übergeordnete Stilkategorie namens Bebop zu zwängen, vergröbert die Sicht in unnötiger Weise. Entsprechend schwammig blieben die Versuche, Bebop anhand von Merkmalen zu beschreiben. Sie erschöpften sich weitgehend in einer Darstellung vordergründiger Aspekte und der Feststellung größerer Komplexität in den meisten musikalischen Aspekten.24) Aber die Musik von Art Tatum, John Coltrane und Steve Coleman ist ebenfalls kompliziert, ohne dass sie als Bebop-Musiker angesehen werden.
Die am stärksten verzerrende Auswirkung der Bebop-Kategorisierung besteht in einer Gleichsetzung von Original und simplifizierter Nachahmung: Ein anhand von Transkriptionen erlerntes Nachspielen der Musik Charlie Parkers ist etwas völlig anderes als das sehr kreative, tiefgründige, kunstvolle, persönliche Schaffen Parkers.25) Beides als ein und dieselbe Sache, nämlich als Bebop zu bezeichnen, ergibt daher eine massive Verfälschung. Parkers brillantes musikalisches „Storytelling“ wurde so von seiner Person abgelöst und daraus eine Art formelhafte Ware konstruiert, die beliebig kopiert werden kann. Wer Parker nachahmt, spielt nicht wie Parker Bebop, sondern ahmt lediglich Parker nach.
Ein paar Jahre lang erhielt die Bebop-Bewegung ehebliche öffentliche Aufmerksamkeit, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass Jazz in Form von Swing und Dixieland populär war und Bebop als aufsehenerregende, wenn auch problematische neue Form von Jazz erschien. Ende der 1940er Jahre war sein Reiz als irritierende Neuheit offenbar verblasst, sein Potential als Protestkultur für „weiße“ Jugendliche erschöpft und seine mangelnde Gewinnträchtigkeit offensichtlich.26) Das öffentliche Interesse verflüchtigte sich und Jazz-Kritiker stellten das Ende des Bebop fest.27) Die Musiker hörten jedoch keineswegs auf zu spielen, vielmehr schlossen sich ihnen viele jüngere an (unter anderem Sonny Rollins und John Coltrane) und in weiten Bereichen des Jazz schlug sich allmählich ein anhaltender Einfluss der Bebop-Bewegung nieder.
Max Roach sagte in den 1970er Jahren: „Wir leben in einer Gesellschaft, wo du jedes Jahr ein neues Auto haben musst und ein neues Modell von diesem und jenem. […] und genauso wird es gemacht, wenn eine neue Mode eingeführt werden soll: Dann wird einfach das, was vorher populär gewesen ist, für ‚out‘ erklärt oder für tot. Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass die Musik der 1940er-Jahre gestorben ist. Ich glaube, dass sie immer weiter und weiter lebt […]. Die Leute, die das alles geschaffen und entwickelt haben, Leute wie Art Tatum, Dizzy Gillespie, Charlie Parker und Bud Powell, sind immer noch die Impulsgeber für alles, was geschieht. In dieser Periode ist musikalisch so vieles geschehen, dass bis heute noch alle davon leben, und die Dinge auf der heutigen Szene, die sich nicht darauf beziehen, die kannst du vergessen, die verblassen daneben. John Coltrane war eine Weiterentwicklung der Dinge aus den 40er-Jahren, McCoy Tyner, Rahsaan Roland Kirk, sie alle.“28)
Nach dem einflussreichen deutschen Jazz-Kritiker Joachim-Ernst Berendt wurde der Jazz um 1950 „cool“29) und der italienische Jazz-Kritiker Arrigo Polillo überschrieb in seiner Jazz-Geschichte ein Kapitel mit den Worten „Der Jazz wird kühl“30). Doch begannen um 1950 die bedeutenden Innovatoren der 1940er Jahre (Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Bud Powell, Max Roach, Thelonious Monk und so weiter) keineswegs „kühl“ zu spielen und sie hörten auch nicht auf zu spielen. Das gilt ebenso für die vielen älteren Musiker wie Duke Ellington, Art Tatum, Coleman Hawkins und für den bei vielen Hörern beliebten, wieder belebten Dixieland-Jazz. Vielmehr geschah um 1950 Folgendes: Das Thema Bebop, das in den Medien auf oberflächliche Weise abgehandelt wurde, erschöpfte sich, ohne dass diese Musik ein größeres ernsthaftes Publikum gewonnen hätte. Auch für viele Jazz-Kritiker blieb sie schwer zugänglich.31) Polillo bezeichnete Parkers Spielweise noch im Jahr 1975 gar als „krankhaft“.32) Maßgebliche Kritiker fühlten sich am Ende der 1940er Jahre besonders von jenen Musikern angesprochen, die zwar an die Innovationen des Bebop-Musikerkreises anknüpften, ihre Musik jedoch in Richtung europäisch-klassischer Ästhetik lenkten.33) Die Kritiker schufen dafür den Begriff Cool-Jazz und priesen diese Richtung als modernsten, künstlerisch besonders anspruchsvollen Jazz-Stil. Berendt entdeckte damals sofort seine „Liebe zur coolness“, wie er sagte.34) Er nahm als erster Europäer Kontakt mit Lennie Tristano auf, dem „Hohenpriester des Cool-Jazz“35), widmete ihm in der ersten Ausgabe seines Jazzbuchs (1953) ein eigenes Kapitel als bedeutendsten Jazz-Musiker nach Charlie Parker36) und erklärte, der Cool-Jazz werde der Stil der 1950er Jahre werden37). Im Laufe der Jahre holte Berendt viele Musiker des Cool-Jazz und des „unmittelbar darauf entstandenen West-Coast-Jazz“ zu Konzerten nach Europa.38)
In der 1959 erschienenen Ausgabe seines Jazzbuchs fand Berendt dann jedoch, man könne nun „objektiver und von Entwicklungstendenzen unabhängiger über Jazz schreiben“ und es hätten sich Gesichtspunkte ergeben, die „in mancher Hinsicht das Gegenteil von dem sind, was man damals in den Jazz-Zeitschriften las“, als „Lennie Tristano das letzte Wort“ war.39) Tristano sei inzwischen zwar „nicht etwa abgetan“40), doch erhielt er nun kein eigenes Kapitel mehr. Berendts Darstellung des Jazz der 1950er Jahre wurde verwirrend: „Nach Tristano“ (als wäre Tristano bereits damals gestorben) habe sich das Gewicht zur amerikanischen Westküste verlagert, zum „West-Coast-Jazz“. Aber die Fachleute hätten immer wieder darauf hingewiesen, dass nach wie vor New York die eigentliche Hauptstadt des Jazz sei und man habe dem West-Coast-Jazz den East-Coast-Jazz gegenübergestellt. Jedoch scheine mittlerweile erwiesen zu sein, dass sowohl West-Coast-Jazz als auch East-Coast-Jazz weniger stilistische Begriffe als Verkaufsschlagwörter der Schallplatten-Firmen waren. Die wirkliche „Spannung in der Entwicklung“ sei nicht eine „Spannung zwischen Ost- und Westküste, sondern eine solche zwischen einer klassizistischen41) Richtung einerseits und der Gruppe junger Musiker zumeist schwarzer Hautfarbe, die einen modernen Bebop spielen, andererseits.“42) Allerdings behauptete Berendt auch, die „kühle Konzeption“ habe in eingeschränktem Sinn den „ganzen Jazz“ der 1950er Jahre beherrscht. In seinen späteren Ausgaben seines Jazzbuchs erklärte er, der Cool-Jazz sei bis zur Mitte der 1950er Jahre der „beherrschende“ Stil gewesen.43) Andere Autoren meinten, die Blüte des Cool-Jazz habe bereits 1953 geendet44) oder sei überhaupt nie wirklich zustande gekommen45). Es blieb auch unklar, welche Musiker alle zum Cool-Jazz zu zählen sind46), und letztlich erweist sich der Begriff Cool-Jazz selbst als nebulose Vorstellung, die sich weitgehend in Luft auflöst, sobald man sie näher betrachtet.
Mehr dazu: Cool-Jazz
Hardbop
Mitte der 1950er Jahre tauchte im Jazz-Journalismus der Ausdruck „Hard-Bop“ auf47) und er hatte seine Funktion in der von Berendt erwähnten Debatte der Jazz-Kritiker über den dominierenden „weißen“ „West-Coast-Jazz“ und den weniger beachteten afro-amerikanischen Jazz an der „East-Coast“ (New York). Die zur Glättung und zur europäischen Vorstellung von Kultiviertheit neigende „weiße“ Ästhetik wurde als weicher und kühler empfunden und die stärker mit afro-amerikanischen Traditionen verbundene Ästhetik als härter und vitaler.48) Mittlerweile ist die West-/Ostküsten-Debatte längst Vergangenheit und die von Charlie Parker zu Sonny Rollins und John Coltrane führende afro-amerikanische Entwicklungslinie als Zentrum der Jazz-Tradition etabliert. Die damit überflüssige Hardbop-Bezeichnung hat sich jedoch als vermeintlicher „Jazz-Stil“ festgesetzt und wird mit variierenden, ziemlich beliebigen Bedeutungen verwendet. Nach dem Buch Jazz-Styles (2012) von Mark C. Gridley, das in den USA als meistbenutzte Einführung in die Jazz-Geschichte gilt, kann Hardbop zumindest folgende vier Spielarten des Jazz der 1950er und 1960er Jahre bezeichnen:
eine graduelle Fortführung des Bebop, die oft nicht recht von der Musik seiner Begründer unterscheidbar ist (zum Beispiel die Musik von Clifford Brown, Max Roach und Sonny Rollins),
eine leicht singbare, auf Bebop beruhende Musik, die auch Funky-Jazz und Soul-Jazz genannt wird und Melodien mit bluesigem, gospel-artigem Charakter enthält, die von einfachen, sich ständig wiederholenden Figuren (zum Teil aus Lateinamerika) begleitet werden (zum Beispiel manche Songs von Horace Silver und den Adderley Brothers),
eine stark antreibende spätere Entwicklung, die ihre Wurzeln im Bebop hat und oft Folgendes enthält: a) Stücke, die auf eigenen Akkordfolgen beruhen, nicht auf denen von Popsongs [wie im Bebop üblich], b) improvisierte Linien, die sich von den bevorzugten Phrasen Charlie Parkers und Dizzy Gillespies unterscheiden (zum Beispiel die Musik von Art Blakeys Band der 1960er Jahre und des Art-Farmer/Benny-Golson-Jazztet; manche Autoren würden auch die Bands von Miles Davis in den späten 1950er und frühen 1960er Jahre dazuzählen, mit Ausnahme des Albums Kind of Blue),
ein neuer, in den 1960er Jahren aufgetretener Ansatz, der nicht völlig frei von Bebop ist, aber hauptsächlich auf eigenen Konzepten beruht, die jedoch nicht Teil der damaligen Free-Jazz-Bewegung waren; diese Stilgruppe sei sehr vielfältig und habe keinen eigenen Namen erhalten (zum Beispiel die Musik von Wayne Shorter, Joe Henderson, McCoy Tyner, Herbie Hancock und Freddie Hubbard) – Ein weiteres Beispiel sei die Aufnahme Masqualero (1967)49) des Miles-Davis-Quintetts, doch würden die meisten Musiker sie nicht Hardbop, sondern einfach „Mitte-60er-Miles-Davis“-Stil nennen. Viele Davis-Aufnahmen würden üblicherweise als Cool-Jazz klassifiziert werden, nicht nur Birth of the Cool, sondern auch die Aufnahmen aus den frühen 1950er Jahren mit Sonny Rollins, Horace Silver, Milt Jackson und anderen. Manche würden sogar sein Album Kind of Blue (1959) als Cool-Jazz bezeichnen, obwohl es eher in die Hardbop- oder Modal-Jazz-Kategorie passe.50)
In John Fordhams Großem Buch vom Jazz werden sogar die Alben Giant Steps (1959) von John Coltrane und Brillant Corners (1956) von Thelonious Monk als Beispiele für Hardbop angeführt.51) Dabei stellt das Giant-Steps-Album mit seinen komplizierten harmonischen Strukturen geradezu das Gegenteil zu den von Gridley im zweiten Punkt erwähnten simplen Soul-Jazz-Songs dar und Monks Musik war in den 1950er Jahren nicht wesentlich anders als zuvor, als er noch als Bebop-Musiker betrachtet wurde. Letztlich ist Hardbop also kaum etwas anderes als eine verwirrende Gepflogenheit.
Die von Musikern wie Art Tatum und Charlie Parker repräsentierte Tradition ist sehr anspruchsvoll, sodass es nur wenigen Musikern gelang, bedeutende kreative Beiträge zu ihr zu leisten (wie etwa Sonny Rollins) oder sie gar in eine eigene Richtung weiterzuführen, wie es John Coltrane schaffte. Ornette Coleman und Cecil Taylor demonstrierten Ende der 1950er Jahre dann jedoch eine mögliche Befreiung von den erdrückenden Vorbildern der Tradition.52) Ihr Beispiel ermutigte in den 1960er viele Musiker, mit unkonventionellen musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen zu experimentieren und die Idee einer Freiheit von etablierten musikalischen Regeln und Erwartungen brachte zwangsläufig ein besonders breites Spektrum an unterschiedlichen Spielweisen hervor.53) Die einzige verlässliche Gemeinsamkeit dieser Spielweisen ist, dass sie extremere Musikbereiche darstellen, die nur wenigen Hörern Genuss bereiten. Aber das allein rechtfertigt natürlich nicht, sie als stilistisch gleichartig zu betrachten.
Besonders irreführend ist ein Gleichsetzen der 1960er Jahre mit Free-Jazz, denn damals wurde eine breite Palette von Jazz-Formen gespielt und Free-Jazz wurde zwar debattiert, doch mangels Nachfrage in den USA nur wenig aufgeführt.54) Die großartigen Aufnahmen Coltranes aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre stellen keinen Free-Jazz dar und auch die des Miles-Davis-Quintetts der Jahre 1963 bis 1968 nicht. Es sind gerade diese Aufnahmen von Coltrane und Davis, die den stärksten Einfluss aus den 1960er Jahren auf nachfolgende Musikgenerationen ausübten. Dass sie im Stilschema dennoch keinen Platz finden, zeigt einmal mehr dessen Fragwürdigkeit. Manche Autoren versuchten, diese bedeutenden Aufnahmen mit einer weiteren, Modal-Jazz genannten Stilkategorie einzufangen. Der Begriff modal hat im Jazz jedoch wiederum ein schillerndes Spektrum an Bedeutungen55) und Aufnahmen, in denen Modalität eine Rolle spielt, müssen sich stilistisch durchaus nicht ähneln und von anderen gravierend unterscheiden.56)
Die Jazz-Entwicklung ging schon immer in mehrere Richtungen. Einerseits entstanden allmählich kunstvolle, zunehmend anspruchsvolle und schließlich schwer genießbare Spielweisen, auf der anderen Seite wurden im Übergangsbereich zu populärerer Musik die Möglichkeiten genutzt, ein breites Publikum zu erreichen. Bereits im erwähnten Soul-/Funky-Jazz gab es Rhythmen und Sounds aus dem so genannten Rhythm and Blues. Um 1970 begann Miles Davis, mit den „elektrischen“ Klängen und Rhythmen, wie sie in der populären Musik junger Leute modern waren, eher avantgardistisch anmutende Soundgebilde zu gestalten, die gegenüber seiner früheren Musik einen deutlichen stilistischen Bruch ergaben. Einige seiner ehemaligen Bandmitglieder folgten mit ihren eigenen Gruppen seinem Vorbild und näherten sich dabei noch stärker an populäre Musik an.57) Diese von Davis initiierte, auf ein großes jugendliches Publikum abgestellte Musik erschien so neuartig, dass die Schaffung einer eigenen Stilkategorie für sie mit der Bezeichnung Fusion (Rock-Jazz/Jazz-Rock) nahelag. Doch wurde das Fusionieren von Spielweisen des Jazz mit Elementen aus anderen Musikarten bald in so vielfältiger Weise betrieben und „elektrische“ Instrumente sowie funkige Rhythmen so selbstverständlich auch in anderen Kontexten verwendet, dass die Konturen der neu geschaffenen Kategorie verschwammen. Es ist schon lange nicht mehr sinnvoll, einen Wechsel der Stilkategorie festzustellen, wenn in einer Band ein E-Bass statt eines Kontrabasses oder ein Keyboard statt eines Klaviers (weil ein solches vielleicht gerade nicht verfügbar ist) eingesetzt wird, wenn eine E-Gitarre nicht mit dem schlanken Ton eines Wes Montgommery gespielt wird oder Rhythmen funky wirken. Lediglich in Bezug auf bestimmte Spielweisen, die deutlich den Rock-Jazz-Geist der beginnenden 1970er Jahre widerspiegeln, erscheint die Bezeichnung Fusion noch als angemessen.
In den 1970er Jahren war Fusion die kommerziell erfolgreichste Art von Jazz, aber keineswegs die einzige und auch nicht die musikalisch bedeutendste. Aus der Jazz-Perspektive betrachtet sind andere Aufnahmen aus den 1970er Jahren wesentlich interessanter, zum Beispiel die Musik von McCoy Tyner, Woody Shaw, Von Freeman und von Mitgliedern der Musikerkooperative AACM.
Endpunkt
Das Stilschema hob also für größere Zeitabschnitte jeweils eine bestimmte Entwicklung hervor, die Jazz-Kritikern als besonders bedeutsam erschien. Rückblickend betrachtet ist ihre Auswahl (wie dargestellt) großteils fragwürdig und für die Zeit ab 1980 gelang den Kritikern das Herausstellen eines „Stils“ nicht mehr. Zwar wurde noch versucht, für die 1980er und 1990er Jahre aus dem in den Medien breitgetretenen Konflikt zwischen der traditionsverbundenen Linie von Wynton Marsalis und Andersorientierten zwei gegensätzliche Stile abzuleiten. Doch gibt es seit jeher Bewahrer und Aufgeschlossene für Neues und ihre Meinungsverschiedenheiten sind einmal mehr, einmal weniger Gegenstand der Medien. Für traditionelle Richtungen ist charakteristisch, dass sie gerade keinen neuen Stil hervorbringen, und die Offenheit der Gegenposition ergibt allein keinen gemeinsamen Stil. Daher blieben die Versuche, aus der sich um Marsalis drehenden Kontroverse neue Stilkategorien zu bilden, besonders vage. Daneben wurde immer wieder die stilistische Vielfalt als Merkmal des aktuellen Jazz hervorgehoben. Doch ist auch die nicht neu. Sie nahm lediglich im Lauf der Jazz-Geschichte durch die zahllosen Versuche von Musikern, Eigenes zu entwickeln und Marktnischen zu finden, zwangsläufig zu. Neu war nach den 1970er Jahren allerdings, dass es nicht mehr gelang, die ohnehin schon seit Langem fragwürdige Konstruktion einer Abfolge von „Stilen“ fortzuführen.
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