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Alyn Shipton schrieb in seiner eingehenden und auf aktuellem Kenntnisstand beruhenden Darstellung der Jazz-Geschichte: Der Piano-Ragtime sei langsam und fast unmerklich in Jazz umgewandelt worden und der junge Fats Waller habe diesen Prozess im Jahr 1923 mit seiner ersten Plattenaufnahme im Stride-Stil vollendet. Afro-amerikanische Pianisten wie Eubie Blake, James P. Johnson, Willie „The Lion“ Smith und Fats Waller hätten mit den grundlegenden Komponenten des Piano-Ragtime begonnen und sie eine Stufe weiter geführt. Das „Um-Ta“-Spiel1) der linken Hand sei intensiviert und dann oft aufgebrochen worden und im Spiel der rechten Hand sei ein neues Vokabular für die Improvisation herausgebildet worden. Der Übergang vom Piano-Ragtime zum Stride sei ein klares Beispiel für die Mutation eines afro-amerikanischen Sub-Genres in ein anderes.2) – Shipton führte im Detail aus, wie der „Um-Ta“-Rhythmus zunehmend aufgelockert wurde: Zum Beispiel setzte die linke Hand kurz aus oder fügte Passagen mit Boogie-Woogie-Figuren ein.3) Sie konnte auch mehrere Einzelnoten anstelle des Akkords spielen4), immer wieder so genannte „broken tenths“ (gebrochene Dezimen) einwerfen oder den „Um-Ta“-Rhythmus vorübergehend umkehren5).
Die kunstvolle Ausgestaltung und Weiterentwicklung rechtfertigt es aber aus folgenden Gründen wohl nicht, separate Musikkategorien und einen Wechsel von einer zur anderen (von Ragtime zu Jazz in Form von Stride) zu konstruieren und damit die Kontinuität zu zerreißen:
Die Bezeichnung „Stride“ (Schreiten) bezieht sich auf das Hin- und Herspringen der linken Hand zwischen Basstönen und Akkorden, das den „Um-Ta“-Rhythmus erzeugt.6) Dieses weitgehend fixierte, relativ einfache Grundmuster wird vom komplizierteren, variierenden Spiel der rechten Hand auf spannende Weise überlagert, was den speziellen Reiz solcher Klaviermusik ausmacht.7) Das sind die Grundeigenschaften der weit zurück reichenden Piano-Rag-Tradition und zwangsläufig jeder Musik, die sich mit dem Namen „Stride“ auf diese Eigenschaften bezieht.
Mit dem Stride-Spiel und den Überlagerungen diente die Rag-Musik seit jeher dem Tanz und anderer schwungvoller Unterhaltung in afro-amerikanischen Kneipen und dasselbe tat die als „Stride“ bezeichnete Klaviermusik später in Vergnügungsvierteln und auf Rent-Partys8). Sowohl die Funktion als auch die Art und Weise, wie sie erfüllt wurde, waren also im Wesentlichen identisch.
Die Unterscheidung von Ragtime und Jazz-Klavierspiel erschien in der Jazz-Literatur früher sinnvoll, da unter Ragtime lediglich die in Notenschrift überlieferten Kompositionen von Pianisten wie Scott Joplin verstanden wurden und Ragtime somit nicht den improvisatorischen Charakter des Jazz hatte. Nun ist jedoch offensichtlich, dass diese Kompositionen nur die sichtbar gebliebene Spitze eines Ragtime-„Eisbergs“ bildeten9) und das weit verbreitete afro-amerikanische Rag-Klavierspiel in Kneipen großteils improvisiert war. Der legendäre Ragtime-Pianist Eubie Blake sagte: „Ragtime ist Synkopierung – und Improvisation – und Akzentuierung. Und wenn Du die alten Jungs spielen gehört hättest, wüsstest Du, was Improvisation ist – und Akzentuierung.“10)
Eubie Blake bezeichnete noch um 1970 sein Klavierspiel als Ragtime.11) Als er am 1. Juli 1960 auf dem Newport Jazz Festival neben Willie „The Lion“ Smith, Donald Lambert und anderen vorgestellt wurde12), klang er nicht wesentlich anders als Smith und Lambert, die als typische Stride-Pianisten gelten.13) Der Unterschied der Spielweisen ist zwischen Blake und Lambert jedenfalls um vieles geringer als zwischen Lambert und späteren Pianisten des Jazz, etwa McCoy Tyner. Es ist daher unangemessen, Blake und Lambert zwei unterschiedlichen Musikkategorien (Ragtime und Jazz) zuzuordnen, Lambert und Tyner jedoch derselben (Jazz).
Shipton argumentierte, dass Stride-Pianisten auf Rent-Partys häufig Wettkämpfe austrugen und dadurch Extravaganz zu einem wesentlichen Bestandteil der Stride-Musik geworden sei. Ein erfolgreicher Pianist habe nicht nur schwierige ausgeschriebene Kompositionen Note für Note brillant spielen müssen, wie es Ragtime-Pianisten taten, sondern ebenso kompetent im Hinzufügen seiner eigenen Variationen in ähnlichem Stil sein müssen.14) – Die Behauptung, Ragtime-Pianisten hätten lediglich Kompositionen wiedergegeben, ist aber wohl ein Relikt der früheren Auffassung, Ragtime sei lediglich komponierte Musik gewesen. Wie der in Kneipen gespielte Ragtime klang, bleibt mangels Tonaufzeichnung im Dunkeln. Doch waren offenbar bereits damals die Voraussetzungen für gekonnte Improvisationen gegeben, denn auch die Piano-Rag-Spieler trugen Wettkämpfe aus15). Eubie Blake bezeichnete die in den 1890er Jahren angesehenen Pianisten seiner Heimatstadt Baltimore als „Piano-Haie“.16) Sie waren in der Regel nicht notenkundig17) und konnten schon deshalb nicht Kompositionen Note für Note wiedergeben. Das schloss jedoch nicht virtuose Improvisation aus, wie das Beispiel des legendären Stride-Meisters Donald Lambert zeigt, der anscheinend ebenfalls nicht Noten lesen konnte18). Es mag sein, dass das technische und musikalische Niveau durch die so genannten Stride-Pianisten anstieg, doch scheint ihre Spielweise in ihren Grundzügen durchaus der von Pianisten wie Eubie Blake entsprochen zu haben.
Der Vorstellung, dass der Piano-Ragtime erst im New Yorker Raum allmählich in den Stride-Stil und damit in Jazz überführt wurde, widerspricht, dass Jelly Roll Morton bereits lange davor in New Orleans Piano-Jazz gespielt haben soll. Shipton schrieb, dass durch Morton eine zur Stride-Entwicklung „parallele Umwandlung des Ragtime zu Jazz“ erfolgte. Morton sei jedoch eine Einzelperson gewesen und habe nicht wie die Stride-Pianisten eine „Schule“ oder Bewegung gebildet.19) – Dem steht aber Folgendes entgegen: Nach Shiptons eigener Aussage war bereits Mortons Vorgänger Tony Jackson als „vollendeter Improvisator und Melodiker“ für die „Entwicklung des Jazz bedeutend“ und in Mortons Augen der Beste unter vielen solchen Pianisten in New Orleans. Außerdem verbreitete Jackson durch langjähriges Reisen und lange Aufenthalte in Chicago seine musikalischen Ideen, wie Shipton schrieb.20) Morton reiste ebenfalls weit umher und hielt sich vor allem in Kalifornien und Chicago auf. Der bedeutende Stride-Pianist James P. Johnson erlebte als angehender Musiker im Jahr 1911 einen Auftritt Mortons in einem New Yorker Nachtklub. Morton war mit vielen angesehenen Ragtime-Pianisten des Mittleren Westens und Ostens bekannt und beteiligte sich an Klavierspiel-Wettkämpfen. Auch andere Pianisten aus New Orleans, zum Beispiel ein hoch gelobter Sam Davis, tourten und verbreiteten ihre Musik schon im ersten Jahrzehnt nach 1900.21) – Ob diese improvisierenden Ragtime-Pianisten aus New Orleans den Vertretern anderer Ragtime-Zentren überlegen waren und einen wesentlichen Einfluss ausübten, lässt sich wohl nicht mehr feststellen. Ihre Spielart des Piano-Ragtime hatte jedenfalls schon damals Eigenschaften, aufgrund der sie ebenso zum frühen Jazz-Klavier-Spiel zu zählen ist wie das, was später Stride genannt wurde. Da sowohl sie als auch Pianisten aus anderen Gegenden häufig umherzogen und untereinander in Konkurrenz gerieten, ist wohl anzunehmen, dass fortgeschrittene Spielweisen rasch übernommen wurden und daher weit verbreitet waren.
Als „Ragtime-Ära“ gilt die Zeit von den späten 1890er Jahren bis ungefähr 1917.22) Der Stride-Piano-Stil entwickelte sich nach Shiptons Darstellung vor allem in den Jahren 1917 bis 1923.23) Das Jahr 1917 war auch jenes, in dem die erste Gruppe, die sich „Jazz-Band“ nannte, mit ihrer ersten Schallplatte eine „Jazz“-Mode auslöste. Die damaligen großen Ensembles, die „Syncopated Orchestras“ genannt wurden und großteils eine Art Ragtime spielten, wechselten aber nicht auf der Stelle in einen anderen Musikstil. Vielmehr bildete ihre Musik dann gegen Mitte der 1920er Jahre in New York die Basis, aus der Musiker wie Paul Whiteman, Fletcher Henderson und Duke Ellington die ersten Formen der so genannten Jazz-Bigband entwickelten.24) Diese Bigbands spielten anfangs immer noch weitgehend eine orchestrierte Art von Ragtime25), auch wenn die Bezeichnung „Ragtime“ offenbar nicht mehr als zeitgemäß empfunden wurde. Als James Reese Europe, der Leiter eines der erfolgreichsten afro-amerikanischen „Syncopated Orchestras“, im Jahr 1919 starb, wurde in der Todesanzeige behauptet, er sei für die Popularität des „Jazz“ verantwortlich gewesen und sein Spitzname sei daher „Jazz-King“ gewesen.26) „Jazz“ war damals wohl einfach das neue Modewort und es wurde nahezu allem angeheftet, was modern erscheinen sollte.
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