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Rassismus-Frage


Wolfram Knauer, Leiter des Jazzinstituts Darmstadt, berichtete 2008 nach einem längeren Aufenthalt in den USA: „Wenn man eine Weile in New York lebt, hört man oft, wie wichtig Europa für die amerikanischen Musiker ist und wie schrecklich es für sie sein muss, dass ihnen im Moment der westeuropäische Markt wegbricht. Für europäische Veranstalter sind amerikanische Bands zunehmend weniger interessant, wenn sie nicht zu den Stars des Business gehören. Die amerikanischen Musiker nehmen das aber fast als Boykott wahr und sind zum Teil verärgert und beleidigt. Sie vermuten dahinter europäischen Protektionismus. Es ist nicht leicht, ihnen klar zu machen, dass der Grund nicht so sehr in einem kulturellen Antiamerikanismus zu suchen ist, sondern vielmehr im stärker gewordenen innereuropäischen Wettbewerb nach dem Mauerfall. Amerika wird im Laufe dieses Prozesses zunehmend uninteressant. Aber die amerikanischen Musiker haben immer Europa gebraucht, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.“1)

Der „weiße” amerikanische Ethnomusikwissenschaftler und Jazz-Pianist William Bares schrieb im Jahr 2010, nachdem er die Entwicklung der europäischen Jazz-Szene studiert hatte2): „Afro-amerikanische Musiker kämpfen in den USA nach wie vor um finanzielle wie künstlerische Anerkennung […]. Nun stoßen Afro-Amerikaner auf eine ähnliche kulturelle Ignoranz in Europa […]. Wenn auch die augenblickliche Flut an amerikakritischer Stimmung im europäischen Jazz die Amerikaner ohne Ansehen der Person zu treffen scheint, so zielt dieses europäische Bemühen, sich von der amerikanischen Jazzgeschichte loszusagen, doch besonders auf die Afro-Amerikaner, da es ihre zentralen ästhetischen Beiträge zur Musikgeschichte quasi […3)] begräbt.“4) Ein seit langem in Berlin lebender afro-amerikanischer Musiker ist nach Bares Bericht sehr besorgt, dass die Hörer „die wichtigen Botschaften aus dem Blick verlören, die afro-amerikanische Musik der europäischen Kulturszene auch heute noch böten“5). Der „neue Eurozentrismus in der europäischen Jazzbranche“ habe bereits zu erheblichen Veränderungen geführt. So habe sich die einst einladende Berliner Jazzszene zu „einer der am meisten segregierten Jazz-Szenen“ gewandelt, die der in Berlin lebende Afro-Amerikaner „in seinem ganzen Leben gesehen hat“.6) Nach Bares Erfahrung ist Berlin jedoch „wahrlich kein Sonderfall“. „Kulturelle Verleugnung afro-amerikanischer Traditionen“ würde „zurzeit überall in Europa stattfinden“ und er frage sich, „wie es möglich ist, dass der Jazz, der doch einst das Modell für musikalische und soziale Unangepasstheit war […], in Europa so völlig umgedeutet und zum Teil einer politischen Agenda gemacht werden konnte, die den Rückzug in vorgefertigte nationale Identitäten in der Musik unterstützt“.7)

In einem Interview, in dem Bares zu seiner Doktorarbeit befragt wurde, sagte er außerdem: „Als Dizzy Gillespie und eine Menge anderer Musiker aus den 1950ern sagten, Jazz sei eine internationale Musik, meinten sie, dass Jazz eine internationale Musik mit afro-amerikanischen Sensibilitäten ist. Es ist eine partizipative Musik. Egal wo auf der Welt Jazz gespielt wird, können Leute zusammenkommen und eine tolle Zeit miteinander verbringen. Der überragende Triumph des Jazz im heutigen globalen Zeitalter besteht darin, dass er eine globale musikalische Lingua France wurde, die jeder versteht. Aber in Wahrheit ist es ein Turm zu Babel, eine Menge kleiner Mikro-Sprachen, die niemand wirklich versteht. Ich denke, das ist ein Verrat an dem, was die Musiker aus den 1950ern erhofften. Teil des Problems ist, dass Musiker Jazz mehr als Kunstmusik denn als Volksmusik betrachten. Man achtet darauf, woher eine Volksmusik kommt. Zum Beispiel würde man nicht sagen, dass man ein amerikanischer Flamenco-Musiker ist, ohne Flamenco zu verstehen. Aber eine Menge europäischer Musiker sagen, sie wären Jazz-Musiker, ohne die Wurzeln der Jazz-Musik zu erkunden. [… …] Es ist interessant, sich die politische Rhetorik Europas anzuhören, das erklärt, dass es über all die Jahre gegenüber Afro-Amerikanern tolerant gewesen sei und Amerika umgekehrt rassistisch wäre. Sie haben sich jedoch nicht ihre kolonialistische Vergangenheit eingestanden und erkennen nicht, dass ihr Reichtum auf der Ausbeutung des Restes der Welt beruht. Wenn ich anti-europäisch klinge, so habe ich das nicht immer so empfunden. Als ich zum ersten Mal hierher kam, haute mich all diese neue und kreative Musik um, aber zuletzt begann ich zu sehen, dass der Kaiser oft keine Kleider hat.“8)

Es ist nicht jede Vorliebe für „weiße“ oder afro-amerikanische Musiker rassistisch. Auf dem kleinen Jazz-Markt mit den viel zu vielen Anbietern besteht harte Konkurrenz und europäische Musiker fühlten sich oft benachteiligt, weil Hörer amerikanische, speziell afro-amerikanische Musiker als authentischer wahrnahmen. Das mag unter heimischen Musikern immer schon ein gewisses Maß an Ressentiments hervorgerufen haben und nicht jeder Versuch, der Konkurrenz aus Amerika entgegenzuwirken, war geschmackvoll. So ließ sich etwa der erfolgreiche deutsche Trompeter Till Brönner auf einem Album aus dem Jahr 20009) mit einer dunkelhäutigen Frau abbilden, die ihn von hinten umarmt, während er sich mit seiner Trompete in der Hand in eine andere Richtung wendet. Er stellte sich damit als „coolen Typen“ dar, der scheinbar das Begehren der „schwarzen“ Frau nicht zu erwidern nötig hat. Sowohl hinsichtlich des Frau/Mann-Themas als auch der „Rassen“-Problematik ist diese Selbstdarstellung nicht besonders feinfühlig. In seinem Album German Songs verjazzte Brönner alte deutsche Schlager und verkaufte so mit Deutschtümelei im Wesentlichen eine Nachahmung afro-amerikanischer Musik.10) Das Bild von sich rundete er im Übrigen durch Auftritte in Begleitung von Models, durch Weinkennertum und exquisite Kleidung ab11). Brönner war zwar der mit Abstand erfolgreichste, jedoch nicht einzige deutsche Musiker, der auf solche Weise nach oben strebte.12) Wer wirklich an Jazz interessiert ist, mag das alles nicht besonders einladend finden, aber auch nicht weiter relevant.

Wirklich problematisch ist hingegen, dass europäische Musiker, Publizisten, Leute aus allen Bereichen der Jazz-Szene seit Jahrzehnten auf ein verändertes Jazz-Verständnis des Publikums hinarbeiten: Jazz soll nicht mehr als eine afro-amerikanische Musik mit diversen Ablegern betrachtet werden, sondern als eine Musikart, die zwar ursprünglich überwiegend von Afro-Amerikanern hervorgebracht wurde, sich jedoch nun in unterschiedlichen, gleichberechtigt nebeneinander bestehenden Formen fortentwickelt, insbesondere auch in einer eigenständigen europäischen Form mit eigenen ästhetischen Konzepten. Niemand habe einen ausschließlichen „Besitzanspruch“13). Das ist ein auch in anderen Wirtschaftsbereichen herrschender Jargon des Marktes. Es ist bedauerlich, dass man von keinem europäischen Musiker einen Einwand dagegen hört. Was ist eine Kunst wert, wenn in ihr der Respekt vor den Schöpfern und Meistern fehlt?

Der Jazz ist noch dazu die Musik einer diskriminierten Minderheit, die immer wieder ihrer identitätsstiftenden Kulturgüter beraubt wurde. Für afro-amerikanische Musiker ist Jazz nicht bloß eine Kunstmusik, die zu spielen mehr Spaß macht als „Klassik“, sondern ein wesentlicher Teil ihrer kulturellen und sozialen Identität, und sie sind mit wesentlich schwierigeren Umständen konfrontiert als die vielfach geförderten Europäer. Die von Meistern wie Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane und Steve Coleman hervorgebrachte Musik mit ihren speziellen Qualitäten und Botschaften stellt die größte kulturelle Leistung auf dem Gebiet der US-amerikanischen Musik dar. Angesichts der weit verbreiteten, zum Teil rassistisch bedingten Missachtung dieser Leistung wäre eine besonders sensible Wahrung des Respekts erforderlich.

Vijay Iyer, ein angesehener amerikanischer Pianist indischer Abstammung, bejahte 2015 in einem Interview die Frage nach Rassismus im Jazz und sagte: Wenn man sich die Jazz-Geschichte ansieht, dann stelle man fest, dass es immer schon so war, von der ersten Jazz-Schallplatte der Original Dixieland Jass Band an. Das sei eine Gruppe „weißer“ Typen gewesen, die afro-amerikanische Musik imitierten. Von Anfang an, vor hundert Jahren, sei dieser Mist abgelaufen. Das sei eine Sache, die die gesamte Jazz-Geschichte zusammenhält: das Streben „Weißer“, etwas in Besitz zu nehmen, das von den afro-amerikanischen Leuten kommt, sie dieser kulturellen Identität zu berauben oder einfach darüber zu urteilen, was sie ist, was sie nicht ist und wo die Grenzen sind.14)

Der ältere afro-amerikanische Pianist Muhal Richard Abrams brachte die Kränkung durch mangelnden Respekt vor seiner Kultur im Jahr 1982 auf folgende Weise zum Ausdruck: „Seit Generationen läuft es darauf hinaus, dass sie die schwarze Musik imitieren, sie von ihren Wurzeln trennen und dadurch ihre Herkunft verdunkeln. Und das ist bei den Leuten zur Gewohnheit geworden. Sie tun es quasi automatisch. Genau in dieser Zeit tun sie das auch. Und sie merken nicht einmal, dass sie uns beleidigen.“15) Der afro-amerikanische Posaunist George E. Lewis ergänzte: „Diese Verletzung mag sehr allgemein sein, aber sie trifft persönlich.16)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Hans-Jürgen Linke, Jazz ist auch ein Missverständnis, 8. August 2008, Internetseite der Zeitung Frankfurter Rundschau, Internet-Adresse: http://www.fr.de/kultur/interview-jazz-ist-auch-ein-missverstaendnis-a-1165999
  2. Bares arbeitete damals an einer PhD-Arbeit als Student der Harvard-Universität und hatte die letzten Jahre in Europa verbracht, um die Überschneidung von Jazz und nationaler Identität in der Schweiz, in Italien, Norwegen und Deutschland zu erforschen. (QUELLE: Internet-Seite des Harvard Center for European Studies Berlin, Internet-Adresse: http://www.ces.fas.harvard.edu/german_studies/berlin_archive/William_Bares_Interview.html)
  3. … „unter einem Berg europäischer Separate-But-Equal-Ideologien und -Institutionen“ … Darunter verstand Bares Folgendes: „Weiße“ Amerikaner hielten „die schwarzen und weißen Kultursphären für nahezu ein Jahrhundert seperate but equal, bevor sie eine Lösung fanden, die beiden Seiten annehmbar erschien. Seit der Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze in den 1960er Jahren hat die öffentliche Wertschätzung und Vorbildfunktion afro-amerikanischer Errungenschaften auf bestimmten kulturellen Gebieten Amerikas Kulturleben im Ganzen gestärkt.“ (QUELLE: Wolfram Knauer [Hrsg.], Albert Mangelsdorff. Tension/Spannung, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 11, 2010, S. 167)
  4. QUELLE: Wolfram Knauer [Hrsg.], Albert Mangelsdorff. Tension/Spannung, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 11, 2010, S. 166
  5. QUELLE: Wolfram Knauer [Hrsg.], Albert Mangelsdorff. Tension/Spannung, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 11, 2010, S. 167
  6. Bares: Die Entwicklung führte nach Auskunft des in Berlin lebenden afro-amerikanischen Musikers dazu, „dass die einst einladende Berliner Jazzszene sich komplett gewandelt habe. Jetzt sei sie … ‚one oft he most segregated jazz scenes I’ve ever seen in my whole life. There’s a few that hang out and mix, you know. It ain’t just me … when I look at this scene, there’s some jazz clubs here I would never be able to play, and I don’t think too many of my boys would play there …“ (QUELLE: William Bares in: Wolfram Knauer, Albert Mangelsdorff. Tension/Spannung, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 11, 2010, S. 167)
  7. QUELLE: Wolfram Knauer [Hrsg.], Albert Mangelsdorff. Tension/Spannung, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 11, 2010, S. 168
  8. QUELLE: Internet-Seite des Harvard Center for European Studies Berlin, Internet-Adresse: http://www.ces.fas.harvard.edu/german_studies/berlin_archive/William_Bares_Interview.html, eigene Übersetzung
  9. Album Chattin' with Chet
  10. QUELLE: William Bares in: Wolfram Knauer [Hrsg.], Albert Mangelsdorff. Tension/Spannung, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 11, 2010, S. 171
  11. QUELLE: William Bares in: Wolfram Knauer [Hrsg.], Albert Mangelsdorff. Tension/Spannung, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 11, 2010, S. 171
  12. QUELLE: Wolfram Knauer [Hrsg.], Albert Mangelsdorff. Tension/Spannung, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 11, 2010, S. 176 bis 184
  13. Huesmann: „In der globalisierten und vernetzten Welt verliert der Jazz des US-amerikanischen und des eurozentrischen Zuschnitts zunehmend seinen Anspruch auf Alleinvertretung. […] Mancher afroamerikanische Jazzkritiker/musiker steht dieser Entwicklung mit gemischten Gefühlen gegenüber. […] Es gibt kein Besitzrecht auf den Jazz.“ (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 2005, S. 94)
  14. QUELLE: Anil Prasad, Vijay Iyer. Degrees of choice, 2015, Internet-Adresse: http://www.innerviews.org/inner/iyer2.html
  15. QUELLE: Ekkehard Jost, Jazzmusiker, 1982, S. 197
  16. QUELLE: Wolfram Knauer [Hrsg.], Jazz und Gesellschaft, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 7, 2002, S. 244

 

 

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