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Untergrund
Die um 1900 in der Uptown von New Orleans lebende afro-amerikanische Bevölkerung hinterließ keine damals verfassten Berichte über ihre Musik-Subkultur und für andere Gesellschaftsschichten war sie uninteressant sowie praktisch unzugänglich.1) Ein Interesse von Historikern an den Anfängen des Jazz entstand erst spät und es blieben viele Ungereimtheiten, offene Fragen und zweifelhafte Legenden bestehen.2) Der Musikwissenschaftler Lawrence Gushee suchte nach Anhaltspunkten für eine spezifische, afro-amerikanische Tanzmusik von New Orleans des späten 19. Jahrhunderts, aus der sich der Jazz entwickelt haben könnte,3) und fand trotz einiger Berichte qualifizierter Beobachter über die damalige Szene zunächst nichts Brauchbares. Er zog daraufhin ein „raueres, schäbigeres“ Tanzen im Unterschichtmilieu in Betracht, obwohl dafür naturgemäß kaum Belege zu erwarten waren, denn dieses Milieu war nicht zuletzt auch durch die Rassentrennung von der „weißen“ bürgerlichen Welt und ihrer Berichterstattung abgeschnitten. Doch dachte Gushee, es müsse diese Art des Tanzens existiert haben, zumal alte Zeitzeugen mehrfach in Interviews berichteten, dass sich die Musik und das Tanzen nach Mitternacht drastisch veränderten. Schließlich stieß Gushee tatsächlich auf Hinweise in der Presse. Im Jahr 1911 wurde in einer Zeitschrift berichtet, dass einige in New York gerade in Mode gekommene erotische Tänze bereits 15 Jahre zuvor zur Musik einer afro-amerikanischen Kapelle in einer alten „Neger-Tanzhalle“ des Vergnügungsviertels von New Orleans getanzt wurden. Nach den Ortsangaben des Zeitungsartikels könnte diese Tanzhalle ein Lokal gewesen sein, in dem der Kornettist Buddy Bolden, der öfters als erster Jazz-Musiker genannt wird, spielte.4) – Auch wenn diese Anhaltspunkte kein detailliertes Bild ergeben, so belegen sie doch die Existenz der lebendigen afro-amerikanischen Szene von New Orleans, aus der nach Berichten von Musikern die charakteristischen Spielweisen des frühen Jazz kamen.
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- Das Versinken in dunkler Vergangenheit ist das Schicksal jeder Volkskultur, an der kein rechtzeitiges Interesse entsteht, um durch Aufnahmen oder zumindest Beschreibungen und Notenschriften dokumentiert zu werden. Desinteresse trifft besonders eine missachtete, für kulturlos erachtete Minderheit wie die der Afro-Amerikaner.
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Alyn Shipton: Die Historiker hätten lange gebraucht, bis sie Musiker, die am Hervorbringen des Jazz beteiligt waren, darüber befragten. Nur wenige der ersten Jazz-Musiker-Generation seien vor 1880 geboren worden, viele der bedeutendsten nicht vor 1900. Trotz dieser Tatsache und obwohl die ersten wissenschaftlichen Historiker des Jazz, die in den späten 1930er Jahren schrieben, direkten Zugang zu einem breiten Spektrum von Pionieren hatten, seien die Ursprünge des Jazz bemerkenswert unklar geblieben. Die orale Geschichtsschreibung sei in ihren Anfängen gewesen und frühe Untersuchungen des Jazz seien großteils von Schallplatten-Sammlern durchgeführt worden, die von den Schöpfern der Musik ein wenig entfernt waren. Vor allem aber sei der Jazz lange Zeit lediglich als ein Zweig kurzlebiger populärer Musik betrachtet worden. Erst seit Mitte der 1930er Jahre, als in der Kritikerpresse auf beiden Seiten des Atlantiks Diskussionen über Duke Ellingtons Musik begannen, werde der Jazz im Sinne einer Kunstform debattiert. Und es habe noch einmal einige Jahre gebraucht, bis eine ernsthafte historische Erforschung begann, die häufig eher von enthusiastischen Amateuren als von Akademikern betrieben worden sei. (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 1f.)
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QUELLE: Lawrence Gushee, The Nineteenth-Century Origins of Jazz, Zeitschrift Black Music Research Journal, Jahrgang 14, Nummer 1, Selected Papers from the 1993 National Conference on Black Music Research, Frühjahr 1994, S. 1-24
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Lawrence Gushee: Oscar Montel Samuels habe am 1. Juli 1911 in der Zeitschrift Variety [New Yorker Wochenzeitschrift der Unterhaltungsindustrie] unter dem Titel New Orleans makes a claim geschrieben: „Jetzt, wo in New York ein Ansturm erotischer Tänze begonnen hat, darf dazu festgehalten werden, dass New Orleans die Heimat der Grizzly-Bear-, Turkey-Trot-, Texas-Tommy- und Todolo-Tänze ist. Diese fragwürdige Ehre erhielt bisher San Francisco. Vor 15 Jahren wurden diese Tänze jedoch in der Customhouse- und der Franklin-Straße, im Herzen von New Orleans‘ Tenderloin [Vergnügungsviertel] zum ersten Mal getanzt, in einer alten Neger-Tanzhalle. Die Begleitmusik wurde von einer farbigen Band gespielt, die nie kopiert wurde. Die Band wiederholte oft dieselbe Auswahl, aber spielte nie dasselbe zwei Mal. Die in der unteren Schicht von New Orleans Gesellschaft derzeit populären Tänze sind der Te-na-na und der Bucktown-Slow-Drag. Sie finden vielleicht ebenso ihren Weg auf die Bühne – wenn die Autoritäten es erlauben.“ [eigene Übersetzung] – Lawrence Gushee: Die Kreuzung der Customhouse- und der Franklin-Straße sei zweifelsohne eine bemerkenswerte Adresse im Verzeichnis der Tanzhallen von New Orleans. Zwischen 1900 und 1915 seien drei der vier Ecken von diesen Tanzhallen besetzt worden, von Shotos-Honky-Tonk, der 101-Ranch und dem Pig-Ankle-Tonk. Eine der Ecken werde in einem Stadtplan von einer Kneipe besetzt, die sowohl 101-Ranch als auch 28 genannt wurde. Erstere sei die neuere Bezeichnung. Es sei anzunehmen, dass 28 die alte Hausnummer war. Es werde behauptet, dass 28 ein Treffpunkt von Buddy Boldens Band war (Quellenangabe: Al Rose/Edmond Souchon, New Orleans Jazz. A Family Album, 1967, S. 220) und es gebe ein paar entsprechende Abschnitte in Bill Russells Essay in Jazzmen (Quellenangabe: Frederic Ramsey jr./Charles Edward Smith, Jazzmen, 1939, S. 34). (QUELLE: Lawrence Gushee, The Nineteenth-Century Origins of Jazz, Zeitschrift Black Music Research Journal, Jahrgang 14, Nummer 1, Selected Papers from the 1993 National Conference on Black Music Research, Frühjahr 1994, S. 20)
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