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Bereits in den 1980er und 1990er Jahren war der Jazz aus der Sicht des deutschen Jazz-Kritikers Ekkehard Jost von einer „großen Unübersichtlichkeit eines so nie dagewesenen stilistischen Pluralismus“ geprägt.1) Die Vielfalt des Musikbereichs, der „Jazz“ genannt wird, war tatsächlich im Laufe seiner Geschichte gewachsen, aber schon in den 1920er Jahren beträchtlich. Im Jahr 1926 sagte der amerikanische Komponist George Gershwin, das Wort „Jazz“ werde für so viele unterschiedliche Sachen verwendet, dass es aufgehört habe, irgendeine bestimmte Bedeutung zu haben.2) Dass der Jazz dann doch Gestalt annahm, ist nicht auf ein Abnehmen der Vielfalt, sondern auf eine Schärfung des Jazz-Begriffs zurückzuführen.3) Jazz-Anhänger und besonders jene unter ihnen, die als Jazz-Kritiker hervortraten, rangen in oft hitzigen Debatten um Bewertungen und gaben ihre Erfahrungen in den weit verbreiteten Hot-Clubs weiter. Vieles, was sich als „Jazz“ erfolgreich verkaufte und oft im Vordergrund stand, wurde von ihnen als „kommerziell“ identifiziert und abqualifiziert. Sie entwickelten ein gewisses Verständnis für die spezifischen Qualitäten des Jazz, das allerdings von neuen Erscheinungsformen immer wieder herausgefordert4), gedehnt und schließlich von der Free-Jazz-Bewegung in grundlegender Weise in Frage gestellt wurde.5)
Wird zum Beispiel den rauen Klängen des Free-Jazz-Saxofonisten Albert Ayler und des „freien“ Schlagzeugers Sunny Murray Bedeutung eingeräumt, hört die Raffinesse eines Art Tatum, Charlie Parker und Max Roach auf, genereller Maßstab für Jazz-Qualität zu sein. Im Jahr 1976 sagte der Saxofonist Sam Rivers, der selbst zum Free-Jazz gezählt wird: „Heute kann es passieren, dass jemand auf die Bühne kommt und mit uns spielen will und absolut keine Ahnung hat […] und er bekommt unter Umständen dafür noch einen riesigen Applaus. […] Ich glaube, diese Leute sind ein Produkt der 1960er Jahre. […] Keiner wollte irgendwelche Harmonien hören und keiner wollte irgendeine Form hören.“6) – Misst man John Coltranes letzter Begleitband, die Rhythmus und Harmonie radikal auflöste, denselben Rang bei wie seinem Quartett mit McCoy Tyner und Elvin Jones, so reduziert das zwangsläufig den Stellenwert von Jones‘ großartigem Groove und Tyners bestechender Harmonik. Nach der Auflösung des Rhythmus in manchen Spielarten des Free-Jazz begannen Jazz-Kritiker wie Jost, die den Free-Jazz als maßgebliche Weiterentwicklung des Jazz betrachteten, die Auffassung zu vertreten, dass die rhythmische Qualität des Swingens und Groovens keine wesentliche Eigenschaft des Jazz mehr ist.7) Dabei galt diese rhythmische Qualität gemeinsam mit der Improvisation seit jeher als zentrales Merkmal des Jazz. – Die Anerkennung der auf ein großes Publikum ausgerichteten Fusion-Bewegung untergrub ebenso früher entwickelte Qualitätsvorstellungen. Stellt man Aufnahmen wie das Miles-Davis-Album Bitches Brew auf eine Stufe mit den Meisterwerken Tatums, Parkers und Coltranes, so relativiert das unausweichlich den Wert der komplexen Kunst dieser Meister zugunsten eindrucksvoller Klänge.8) – Weitere Entwicklungen, die wiederum Anhänger fanden, zerrten ebenfalls am traditionellen Jazz-Verständnis. So begann zum Beispiel die von Wynton Marsalis repräsentierte traditionelle Linie, in den Darstellungen der Jazz-Entwicklung Raum einzunehmen, während frühere Wiederbelebungsversuche (selbst das in den 1940er Jahren begonnene, sehr populäre Dixieland-Revival)9) meistens nur am Rande erwähnt wurden. Wenn Marsalis einen prominenten Platz in der Jazz-Geschichte erhält, so wird damit ein weiteres Wesensmerkmal der Jazz-Tradition, nämlich die schöpferische Eigenständigkeit der Leitfiguren, in Frage gestellt und dem Jazz ein „klassischer“ Status verliehen, wie er einer in der Entwicklung weitgehend abgeschlossenen Musikkultur entspricht. – Schließlich fanden auch „Jazz“ genannte Formen von Popmusik und elektronischer Entspannungs- oder Party-Musik reichlich Eingang in Darstellungen der Jazz-Geschichte. So wurden Erscheinungen wie Pop-Jazz-Gesang, Smooth-Jazz, Acid-Jazz, New-Age-Jazz10), Hip-Hop-Jazz, Nu-Jazz (Lounge-Jazz) und Verbindungen von Jazz mit elektronischer Tanzmusik (Drum 'n' Bass, Techno, House und Jungle) als Jazz-Stile der 1980er und 1990er Jahre angeführt11), obwohl sie für die musikalische Entwicklung des Jazz völlig belanglos sind. Diesen Modetrends eine solche Bedeutung zu verleihen, widerspricht dem künstlerischen Anspruch des Jazz, um dessen gesellschaftliche Anerkennung Musiker und Kritiker nahezu die gesamte Jazz-Geschichte hindurch rangen.
Die viel geforderte Offenheit und Wertschätzung für die unterschiedlichsten Erscheinungsformen von „Jazz“ brachte somit unweigerlich eine immer nebulosere Vorstellung von seinen maßgeblichen Qualitäten mit sich. Das zeigt sich zum Beispiel in der 2005 erschienenen Fortführung von Joachim-Ernst Berendts einflussreichem Jazzbuch durch Günther Huesmann: Berendt stellte für jedes Jahrzehnt einen oder zwei repräsentative Musiker heraus, etwa Charlie Parker und Dizzy Gillespie für die 1940er Jahre, Miles Davis für die 1950er, John Coltrane und Ornette Coleman für die 1960er Jahre. Bei seiner Wahl des Gitarristen John McLaughlin für die 1970er Jahre war es bereits irritierend, McLaughlin in der Reihe von Parker und Coltrane zu sehen. Auch Wynton Marsalis und David Murray für die 1980er Jahre konnten nicht wirklich vor der Vergangenheit bestehen. Aber Huesmanns Entscheidung für John Zorn als Vertreter der 1990er Jahre ist schlicht unverständlich. In Huesmanns Augen stellte Zorn als radikaler „Stile-Zertrümmerer“12) eine Gleichwertigkeit jedes auch noch so banalen Musikstils her und darin sah Huesmann eine für den Jazz und die „postmoderne“ Welt zukunftsweisende „Pluralität“.13) Solche Ideen entsprechen in keiner Weise mehr der Musiktradition, die Louis Armstrong, Parker und Coltrane repräsentieren, und es ist kaum eine radikalere Auflösung jeder Vorstellung von einer spezifischen Jazz-Qualität vorstellbar als diese Huldigung völliger Beliebigkeit.14) Das Überbordwerfen der Jazz-Tradition bei gleichzeitiger weiterer Inanspruchnahme des „Markenzeichens“ Jazz liegt in einem seit Längerem bestehenden europäischen Trend. Diese letztlich von Marktinteressen angetriebene Entwicklung führte (zumindest im deutschsprachigen Raum) zu einem Verfall der Jazz-Kritik und des Jazz-Verständnisses.
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Einer der erfolgreichsten europäischen Jazz-Musiker, der norwegische Saxofonist Jan Garbarek, sagte im Jahr 2009: „Wer soll das alles noch kaufen? Keiner hat mehr den Überblick oder die Zeit, sich damit zu befassen. Der Markt explodiert und möglicherweise gibt es auch von mir viel zu viele Aufnahmen. […] Jedes Mal, wenn ich in ein Plattengeschäft gehe, dann erblicke ich diese Unmenge von Tonträgern und bin fassungslos. Täglich kommen tausend neue dazu. Selbst wenn ich nach etwas ganz Bestimmtem suche, verliere ich nach 15 Minuten den Überblick und die Geduld. Dann muss ich einfach raus. […] Da gibt es inzwischen so viel Bullshit, mit dem sich die wirklich interessanten und guten Dinge in eine Reihe stellen lassen müssen.“15) – Tatsächlich stehen mehr als genug exzellente Aufnahmen aus der Jazz-Geschichte zur Verfügung, um Hörer laufend mit bestem Jazz zu versorgen. Das allermeiste des krassen Überangebots an ständig neuen Aufnahmen, von dem Garbarek sprach, erreicht bei weitem nicht das Niveau der Meister der Jazz-Geschichte.
Der afro-amerikanische Saxofonist Sam Rivers, der in den 1970er Jahren den bekanntesten Loft16) New Yorks betrieb, erzählte: „Manchmal kommen junge Typen zu mir auf die Bühne, die kaum einen Ton spielen können, die aber unbedingt mit mir spielen wollen. Früher ließ ich diese Leute ja mitspielen. Aber dann empfand ich es häufig als beleidigend, dass sie die Musik meiner Gruppe und damit den ganzen Abend zerstörten.“ Nun reagiere er anders: „Wenn sie auf die Bühne hochkommen, dann sage ich ihnen gewöhnlich: Was kannst du dem noch hinzufügen? Du hast hier gesessen und hast mich zwei Stunden lang spielen gehört, hast gehört, wie wir die Intensität gesteigert haben. Was kannst du zu alledem noch hinzufügen? […] Sie grinsen mich an oder starren mich an. Und sie versuchen es nicht noch einmal.“17) – Sam Rivers Frage stellt sich auch für alle Neuerscheinungen des Jazz-Marktes: Wer kann der großartigen Sammlung von herausragenden Aufnahmen, die der Jazz im Laufe seiner Geschichte hervorgebracht hat, noch etwas Hörenswertes hinzufügen? Welche Aufnahmen bereichern die bestehende Palette von Meisterwerken, die bereits die unterschiedlichsten Stilbereiche umfasst? Welche Aufnahmen sind es wert, ihnen Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen, statt die bekannten Meister zu hören? Die Wahrheit würde dem Jazz-Geschäft und damit auch den meisten der (im Verhältnis zum kleinen Jazz-Publikum) viel zu vielen18) Musikern den Boden entziehen. Es ist äußerst schwierig, dem Reichtum der auf Tonträgern verfügbaren Jazz-Geschichte etwas wirklich Wertvolles hinzuzufügen, und es gelingt dementsprechend selten.
Die technischen Mittel der Tonaufzeichnung sind für den Jazz ein unschätzbarer Segen, denn ohne sie hätte all die im Laufe der Jazz-Geschichte hervorgebrachte Kunst, in der die Improvisation zentrale Bedeutung hat, nicht festgehalten und verbreitet werden können. Der kreative Akt der Improvisation, die Feinheiten der spontanen Gestaltung und die Persönlichkeit, die dabei zum Ausdruck kommt, sind im Jazz so wichtig, dass jedes Nachspielen als Plagiat und jede Nachahmung als fragwürdig erscheint. Es gibt im Jazz daher praktisch kein Wiederaufführen der Meisterwerke. Die Meister selbst konnten ihre Werke häufig nach einiger Zeit nicht mehr in gleicher Weise wiederholen, sondern spielten Neues. Eine Aufführungspraxis, wie sie in der europäischen Konzertmusik üblich ist, und eine Pflege, wie sie in der Volksmusik durch das Spielen alter Lieder erfolgt, sind im Jazz somit ausgeschlossen. Das Reproduzieren „klassischer“ Musik ließ sie in gewisser Weise erstarren und Volksmusik mag so manches an altem Sinnzusammenhang verloren haben, aber das Aufführen in einem entsprechenden gesellschaftlichen Rahmen verleiht den alten Stücken immer wieder Bedeutung in der Gegenwart. Während etwa Mozarts oder Verdis Musik in prächtigen Inszenierungen als große Ereignisse mit Medienresonanz präsentiert werden, kann man Charlie Parkers Musik nur in schlechter Klangqualität von Speichermedien hören – ohne visuelle Eindrücke und mehr oder weniger alleine, denn es gibt keinen Anlass für entsprechende Hörveranstaltungen. Mangels Veranstaltungen haben die Medien auch nichts über Parkers Musik zu berichten und so ist selbst im Jazz-Bereich Parker in die Vergangenheit entschwunden, während die um mehr als 150 Jahre älteren Kompositionen Mozarts in der Öffentlichkeit immer wieder gegenwärtig sind. Vor der Verbreitung des Fernsehens war noch eine gewisse Radio-Hörkultur verbreitet, die der Vermittlung der Jazz-Meisterwerke entgegenkam, doch nun stellt der bunte, flüchtige „Event“-Konsum eine erdrückende Konkurrenz dar.
Chance des Neuen
Das Handicap der berühmten Werke der Jazz-Geschichte ist zugleich die Chance des Neuen, und zwar für Musiker, Musikproduktionsfirmen, Konzertveranstalter, Kritiker … für alle Aktiven der Jazz-Szene. Sie müssen laufend mit Neuem Interesse wecken, um ihre Beschäftigung in Gang zu halten. So wie es sich kein Musiker leisten kann, statt seiner Musik die von John Coltrane zu empfehlen, so kann sich kein Jazz-Magazin damit begnügen, monatlich bekanntzugeben, dass der Jazz-Markt wieder nichts Kaufenswertes hervorgebracht hat. Jazz-Kritiker sind darauf angewiesen, dass Firmen und Musiker laufend neue Aufnahmen liefern, die sie besprechen können, und die Firmen und Musiker brauchen die Kritiker, die ihre Musikproduktionen (mit positiven Bewertungen) vorstellen. Konzertveranstalter können keine toten Meister präsentieren und ihr Publikum schwindet zwangsläufig mit der Zeit, wenn sie nicht auch ein jüngeres ansprechen können. Die weitere Lebensfähigkeit der gesamten Jazz-Szene hängt von einem ständigen Nachwuchs an Musikern, Aktivisten und vor allem auch Hörern ab. Sie kann nicht allein von der Erfahrung der Alten leben, sondern braucht auch das Feuer der Jungen. Nur in lebendigen Szenen konnten die Meisterwerke der Jazz-Geschichte entstehen.
Der afro-amerikanische Saxofonist Von Freeman sagte: „Je besser du dich in der Musik auskennst, desto weniger kannst du akzeptieren, was die meisten Leute machen. Siehst du, einen wirklich großen Musiker kannst du immer akzeptieren. Aber dann findest du sehr schnell heraus, dass es davon nur eine Handvoll gibt. Eine Menge Leute werden große Musiker genannt. Man macht eine Menge Reklame für sie und alles möglich drum herum. Und vielleicht würden sie wirklich einmal groß werden, wenn man ihnen eine Chance gäbe. Aber die meisten von ihnen bleiben im Geld-Syndrom hängen. […] Im Allgemeinen wirst du herausfinden, dass jeder, der etwas wirklich Kreatives macht, welcher Hautfarbe er auch immer ist, in der Regel ein armer Schlucker ist. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob Armut wirklich ein Teil davon ist? Ich weiß es einfach nicht.“19) – Don Byas, ein weiterer alter afro-amerikanischer Meistersaxofonist, sagte: „Dieser Mann [Charlie Parker] konnte blasen! Man hört sich jetzt seine Musik an und man fragt sich, wovon Leute reden, wenn sie jemanden mit ihm vergleichen. Wen zum Teufel willst du mit Bird20) vergleichen? Selbst Trane [John Coltrane] war von ihm beeinflusst, auch wenn der viel weiter ging. Aber Bird war sein Idol.“21)
Garbarek fand: „Niemand kann wie Charlie Parker spielen, obwohl es hunderte und tausende Musiker versuchten – so zu leben wie er, seine Phrasen zu spielen, so frei, schnell und bestechend wie er. Aber man hat keine Chance. Man gibt es am besten auf der Stelle auf – und denkt über etwas anderes nach.“22) – Parker als Leitbild „auf der Stelle aufzugeben“ und „über etwas anderes nachzudenken“, kann aber eben zu jener Entfernung von den speziellen Qualitäten der Jazz-Tradition führen, die den Jazz zu einem uferlosen, unübersichtlichen Sammelbecken beliebiger Musikproduktionen macht. Coltrane war sehr wohl auf Parker bezogen und schuf damit eine eigene Musik, die eine weitere Facette derselben Musiktradition auf höchstem Niveau bildet. Steve Coleman tat das einige Zeit später ebenso.23)
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