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Freiheit


„Zunächst verlässt Armstrong […] den 4/4-Takt, so wie man eine langsam fahrende Straßenbahn alter Bauart verlassen konnte, und singt, versetzt gegen das Grundmetrum, in einem 3/4-Takt weiter, springt […] wieder auf das alte Gleis (den 4/4-Takt) zurück, scattet den Break im Original-Metrum herunter, aber nur, um sofort wieder abzuspringen und erneut das Spiel 3/4- gegen 4/4-Takt […] aufzunehmen …“1) So wie Louis Armstrong vom Rhythmus des Songs ab- und wieder auf ihn aufsprang, so handhabte er auch die Harmonien des jeweiligen Songs in freizügiger Weise.2) Damit trieb er bereits in den 1920er Jahren ein beeindruckendes Spiel mit der vorgegebenen Struktur eines Stückes und entfaltete dabei Gewandtheit, Einfallsreichtum und persönlichen Ausdruck. Diese Kunst Armstrongs erscheint wie ein Abbild seiner Lebenskunst: Er wuchs in bitterarmen, zerrütteten Verhältnissen auf, in denen an jeder Ecke Gewalt drohte, und kam in dieser Welt voller Abgründe nicht nur zurecht, sondern entwickelte dabei noch spielerische Leichtigkeit und Charme. Das komplexe Geschehen um sich im Auge zu behalten, von ihm aber nicht nur getrieben zu werden, sondern sich in ihm zugleich als Person zu entfalten, ist eine elementare Herausforderung des Lebens. Die Jazz-Improvisation scheint sie in ein musikalisches Spiel zu übertragen, indem im Einklang mit einer Art Song und im Zusammenspiel mit einer Band eine eigene, möglichst kunstvolle „Geschichte erzählt“ wird.

Charlie Parker verdichtete in den 1940er Jahren die Strukturen der Songs, die als Improvisationsgrundlagen dienten, erhöhte damit die Herausforderung und erhob sich in seinen Soli zu atemberaubenden Kunstflügen. Er und Meister wie Bud Powell wurden bei der Entfaltung ihrer Improvisationen von den Strukturen des zugrundeliegenden Stückes nicht behindert, sondern geradezu beflügelt. Ihre Meisterschaft war für die Mehrheit der Musiker, die ihnen folgten, dann jedoch eine überfordernde Vorgabe. So wurde aus der musikalischen Sprache der Meister eine Art Bebop-Regelwerk geformt, das wesentlich weniger Gestaltungskraft verlangte. Nur ein Musiker wie John Coltrane konnte das Spiel mit Strukturen auf ebenso hohem Niveau in eigener Weise fortsetzen. Andere griffen zum Teil auf ältere Modelle zurück und gewannen aus der Kombination mit Bebop-Elementen neue Möglichkeiten. So ging Miles Davis zwar aus Parkers Band hervor, knüpfte aber mehr an die Spielweise des älteren Lester Young an und dünnte harmonische Strukturen aus, um Raum für sein ästhetisches, berührendes Spiel zu schaffen. Er galt nach 1955, nachdem Parker gestorben war, als bedeutende Figur des aktuellen Jazz.

Mit einem Modell radikaler Reduktion der Improvisationsgrundlage trat am Ende der 1950er Jahre dann der Alt-Saxofonist Ornette Coleman hervor und sein Konzept wurde von vielen als eine Art musikalische Befreiung empfunden. In seiner Musik waren die Improvisatoren bei der Gestaltung ihrer Melodielinien wesentlich weniger an vorgegebene harmonische, rhythmische und formale Raster gebunden, sodass sich die musikalische Struktur weitgehend erst aus den Improvisationen selbst ergab.3) Lediglich diente der durchgehende Beat4) als Leitlinie und das komponierte Thema am Anfang des Stückes als Ausgangspunkt5). Ein Akkordschema eines Songs war für ihn ein entbehrlicher und hinderlicher „Hintergrund“ und so sagte er: „Lasst uns die Musik spielen, nicht den Hintergrund!“6) Auch wies er den Schlagzeuger seiner Band an, nicht Vier- oder Acht-Takt-Phrasen zu spielen7), um eine solche rhythmische Gliederung zu vermeiden8). Coleman ging es um melodische Gestaltung mit „Vertrauen in den eigenen unmittelbaren Ausdruck“, was für ihn „etwas genauso Natürliches wie das Atmen“ war.9) Eines seiner Alben wurde „Free Jazz“ (1960) genannt und dieser Titel diente dann zur Bezeichnung der gesamten von Ornette Coleman und dem Pianisten Cecil Taylor in den späten 1950er Jahren ausgelösten Bewegung, die vielen jungen Musikern eine Befreiung von den komplizierten Strukturen der alten Meister und eine Eröffnung neuer Möglichkeiten des eigenen Ausdrucks verschaffte.10) Ornette Coleman sagte jedoch: „Ich habe die Musik, die ich schrieb, nie Free-Jazz genannt.“11) Und Vijay Iyer erklärte: „Den Albumtitel Free-Jazz habe ich immer als bedeutungsvollen Witz begriffen, schließlich gibt es Tempo, Ensemblespiel, Ordnung, Absicht, Systematik und die Klangwelt dieser Platte hat nichts mit dem zu tun, was man heute unter Free-Jazz versteht.“12) Tatsächlich wird Ornette Colemans Musik weitgehend13) von einem verlässlichen Beat getragen und sie hat stets eine „Art von Grundklang“ mit einem zentralen Ton, der als „tonales Zentrum“ bezeichnet wird und auf den sich die Musiker in loser Weise bezogen14). Dieser Grundton konnte allerdings von den Improvisatoren im Zuge der Gestaltung ihrer melodischen Linien spontan verschoben werden15) und in der Musik von Colemans späterer, in den 1970er Jahren gegründeten Band Prime Time16) schienen mehrere tonale Schwerpunkte gleichzeitig zu bestehen17). Ornette Coleman hatte ein umfassendes Konzept mit einer Reihe von Gestaltungsmethoden18) entwickelt, für das er den von ihm nur vage umschriebenen Begriff „Harmolodik“ verwendete.19) Musiker mussten eine Menge lernen, um in seiner Band seinen Auffassungen entsprechend mitwirken zu können.20)

Den Freiraum, den Coleman durch die geringen Strukturvorgaben schuf, nutzte er vor allem zur Entfaltung seines melodischen Talents.21) Die Art, wie er in seinen Improvisationen einen melodischen Einfall nach dem anderen jeweils aus dem vorhergehenden entwickelte, wirkt natürlich und logisch wie eine frei fließende Erzählung.22) Zu dieser Wirkung trägt auch die Einfachheit23) und Volkstümlichkeit seiner musikalischen Sprache sowie seine expressiven, ungeschliffenen Klangfarben bei. Der erzählerische Fluss und die Verwendung von Motiven waren allerdings keine Neuheiten im Jazz, sondern schon lange vor Coleman typische Elemente der Jazz-Improvisation.24) Eine Besonderheit von Colemans Konzept war jedoch sein Anliegen, den Strom der melodischen Ideen des Improvisators möglichst wenig durch strukturelle Vorgaben zu binden25), und dieser Ansatz wurde dann später von innovativen Musikern wie den Saxofonisten Sam Rivers26) und Henry Threadgill27) weitergeführt.28) So sehr eine reduzierte Grundstruktur vielen Musikern die kreative Entfaltung erleichtert, so verringern sich damit aber auch die Bezugsebenen beim Hören der Musik. Eine durch rhythmische und harmonische Zyklen reich gegliederte Musik stellt quasi einen mehrdimensionalen musikalischen Raum mit vielfältigen Bezügen dar, in dem sich die Improvisationen bewegen. Dementsprechend mehrschichtig kann das Hörerlebnis sein. Durch ein raffiniertes Spiel mit dem grundlegenden Raster können geschickte Improvisatoren die melodische Ausdruckskraft noch erhöhen. Sie können aus dem Raster heraus- und wieder eintreten, es zeitweise durchbrechen und spannende Parallelbewegungen vollziehen, wie es Charlie Parker auf brillante Weise betrieb.29) Dieser Reichtum geht verloren, wenn vorgegebene Strukturen weitgehend vermieden werden.

Ornette Colemans Musik Ende der 1950er Jahre scheint zu einem erheblichen Teil von Charlie Parker beeinflusst und nach dem ersten Höreindruck sogar noch gewagter zu sein. Das Wagnis eines Heraustretens und Abhebens besteht in Wahrheit jedoch kaum, weil die grundlegende Ordnung ohnehin fast jede Entwicklung zulässt. Vijay Iyer sagte, er schätze Ornette Coleman für seine „strukturellen Innovationen“, die „aus der Imitation von Oberflächlichkeiten, wie man sie aus dem Bebop30) kennt,“ resultierten. „Auf den ersten Blick mochte sich das sogar wie Bebop anhören, doch Musiker hörten sofort, dass in seinem Ansatz ganz neue Möglichkeiten des Ausdrucks lagen. Seine Ensemblestrukturen vermitteln die Illusion von Ordnung und innerer Einheit.“31) Die Innovationen Ornette Colemans und andere wegweisende Ansätze aus den 1950er Jahren brachten zweifelsohne insofern eine wertvolle Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten mit sich, als jenseits der aus Songs abgeleiteten rhythmischen und harmonischen Raster Raum für neue Formen der Strukturierung geschaffen wurde. Ob das Reduzieren vorgegebener Struktur beziehungsweise ihr Ersatz durch eine „Illusion von Ordnung“ allein bereits einen Fortschritt darstellt, ist jedoch fraglich. Auch eine tatsächliche Ordnung schränkt nicht zwangsläufig einen freizügigen Ausdruck ein.32)

Steve Coleman sagte zur Frage der Freiheit und des Festlegens von Strukturen unter anderem: „Es geht um Übereinkommen und manchmal, eigentlich oft, ich sag Dir die Wahrheit, läuft es auf die Ebene der Geschicklichkeit hinaus. Es läuft darauf hinaus, was man machen kann. Denn einige Musiker sind auf einem ausreichend hohen Niveau, um tatsächlich einen Kick daraus zu beziehen, dazu fähig zu sein, die Struktur präzise beizubehalten und gleichzeitig darin völlig frei zu sein. Und oft ist das für mich der Kick beim Hören von dem, was Art Tatum oder Charlie Parker gemacht haben. Sie klingen völlig frei und gleichzeitig gibt es da dieses sehr hohe Niveau der Struktur.“33) Damit wird auch folgende Aussage des Tenor-Saxofonisten Fred Anderson, der selbst dem Bereich des Free-Jazz verbunden war34), verständlich: Er habe beim Erscheinen der ersten Alben von Ornette Coleman sofort gespürt, wie sehr er von Charlie Parker beeinflusst war. „Doch Parker schien mir noch wesentlich freier zu sein.“35)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.
  1. QUELLE: Abbi Hübner, Louis Armstrong. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1994, S. 145 (zur Aufnahme des Stücks Hotter Than That von Louis Armstrong and His Hot Five, 1927)
  2. Näheres im Artikel Harmonik: Link
  3. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 43
  4. Ekkehard Jost: Es gäbe zwar in fast allen Aufnahmen Colemans aus der Epoche, die Ende der 1950er Jahre begann, einen pulsierenden Beat „mit eindeutiger Tendenz zum 4/4-Takt“, doch sei die Takteinteilung „nicht selten irrelevant“. Wo die „Eins“ ist, könne zumindest aus Colemans Phrasierung nicht abgeleitet werden. (QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002, S. 67)
  5. Peter Niklas Wilson: „[…] am Charakter, an der intervallischen und rhythmischen Struktur des Themas orientieren sich Colemans Soli (und die seiner Mitspieler) durchaus.“ (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 43)
  6. QUELLE: Martin (T.) Williams, The Jazz Tradition, 1993/1970, S. 236, eigene Übersetzung – Ornette Coleman: „Wenn ich einem Akkordschema folge, kann ich mein Solo auch gleich schreiben. […] Lasst uns die Musik spielen und nicht den Background.“ (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 225)
  7. Wynton Marsalis: „Ed Blackwell, einer seiner großen Schlagzeuger […] erzählte, dass Coleman ihm verbot, Vier- oder Achttaktphrasen zu spielen. Weil er ständig auf der Such nach spontanerem und direkterem Zusammenspiel war, sagte er oft: Spiel meine Phrasen nicht zu Ende, Mann, denn Coleman spielte keine geraden Taktgruppen, sondern eine einzige.“ (QUELLE: Wynton Marsalis, Jazz, mein Leben, 2010, S. 144)
  8. Peter Niklas Wilson: „Von Anfang an gibt es in Colemans Musik eine Tendenz, das regelmäßige 4/4-Metrum zu durchbrechen, es – unter Beibehaltung eines stetigen beats – flexibel nach den Anforderungen der melodischen Linie zu neuen, unregelmäßigen Einheiten umzugruppieren […].“ (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 80)
  9. Im Begleittext zu seinem Album Something Else! (1958) erklärte Coleman: „Ich glaube, dass die Musik eines Tages sehr viel freier sein wird. Dann wird man beispielsweise das Schema einer Melodie vergessen und die Melodie selbst wird zum Schema werden und muss nicht mehr in konventionelle Raster gezwängt werden. Die Erschaffung von Musik ist etwas genauso Natürliches wie das Atmen. Ich glaube, dass Musik wirklich etwas Freies ist und dass man sich an ihr erfreuen sollte, egal auf welche Weise.“ (QUELLE: John Litweiler, Das Prinzip Freiheit, 1988, S. 28, Quellenangabe: Nat Hentoff, Covertext zu Something Else!)
  10. Henry Threadgill beschrieb Ornette Colemans damalige Wirkung plastisch: Link – Dave Holland: Ornette Coleman sei aus einer Zeit gekommen, in der „die Musiker von immer komplexeren Akkordfortschreitungen fasziniert waren. Ornette hatte darauf eine völlig neue Antwort, er konnte diese Wechsel spielen, aber er musste es nicht. Wie die alten Bluesmusiker spielte auch er nicht immer die 12-Takte-Form, manchmal eben nur 5 ½ Takte und dann 6 Takte einen anderen Akkord. Er brachte diese alte Idee in einen neuen musikalischen Kontext, das befreite die Musiker von der Form.“ (QUELLE: Christian Broecking, Ornette Coleman. Klang der Freiheit, 2010, S. 112f) – Wynton Marsalis: Colemans Stil war „so innovativ, weil durch die frei fließenden Ideen endlose Wiederholungen von melodischen Klischees vermieden wurden, die in gängige Harmonieschemata passen.“ (QUELLE: Wynton Marsalis, Jazz, mein Leben, 2010, S. 144f.) – Greg Osby: Ornette Coleman habe „eine neue Welt der Möglichkeiten für die improvisierenden Musiker eröffnet. Und er hat die Musik von überholten Restriktionen befreit. Er hat den Musikern neue Farben, ein neues rhythmisches Gefühl und den Mut zu Veränderung gegeben.“ (QUELLE: Christian Broecking, Ornette Coleman. Klang der Freiheit, 2010, S. 103f.)
  11. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 39, Quellenangabe: Interview mit Ralph Quinke
  12. QUELLE: Christian Broecking, Ornette Coleman. Klang der Freiheit, 2010, S. 111
  13. Ausnahmen bilden so genannte Rubato-Balladen (langsame Stücke mit „freiem“ Rhythmus).
  14. QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002/1975, S. 60 – Bei der „modalen“ Spielweise wird durch die jeweilige Skala (Tonleiter) ein Material vorgegeben, beim Spielen zu einem „tonalen Zentrum“ nicht. „Beiden Methoden ist die Gefahr einer gewissen Statik gemeinsam, deren Kompensation von den individuellen Ausdruckscharakteristika der jeweiligen Musiker abhängt.“ (QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002, S. 61) Nach Peter Niklas Wilson unterschied sich Colemans Spielweise vom Konzept des „modalen“ Jazz dadurch, dass bei ihm dieser Grundton „im Verlauf der Improvisation nach der freien Entscheidung des Solisten wechseln“ kann. Um ein „tonales Zentrum können sich […] tonale ‚Nebenzentren‘ etablieren“ und „diese harmonischen Wechsel ergeben sich […] wie von selbst als Folgeerscheinung einer primär melodischen Konzeption, die man […] als ‚motivische Kettenassoziation‘ deuten kann“. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 45) Charlie Haden: „Technisch gesprochen, handelt es sich um eine fortwährende Modulation in der Improvisation, die sich an den Vorgaben der Komposition orientiert, an der inneren Vorstellung des Musikers und am gegenseitigen Aufeinander-Hören.“ (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 46)
  15. Peter Niklas Wilson: In Colemans Spiel im Quartett und Trio habe es „oft eine Abfolge diverser tonaler Zentren (oder eines Zentrums und diverser ‚Nebenzentren‘)“ gegeben. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 80)
  16. Ornette Coleman spielte Anfang der 1970er Jahre in Joujouka (Marokko) mit „Meistermusikern“ einer alten Tradition, der magische, heilende Kräfte nachgesagt wurden. Nach einem Bericht des Journalisten Robert Palmer sagte Coleman damals: Er habe sein Leben lang entweder Tanzmusik gespielt, die ihn künstlerisch einschränkte, oder aber seine eigene Musik, die ihm zwar Freiheit der Erfindung gab, aber nicht jenen körperlichen Kontakt mit dem Publikum, den er aus seiner Jugend kannte, als er Rhythm-and-Blues spielte. In Joujouka habe er erlebt, dass man beides zugleich haben kann. Entsprechendes wollte er offenbar selbst verwirklichen, indem er mit seiner Band Prime Time (mit E-Gitarren und E-Bass) eine Musik mit Funk-artigen Rhythmen und einem orchestralen Gruppenklang zu spielen begann. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 63-65) Der Sound der Band bestand allerdings aus einer nicht leicht erträglichen konstanten Mischung aus Konsonanz und Dissonanz, aus dem sich kaum bewegende Improvisationen herausheben (zum Beispiel Alben Dancing In Your Head und Body Meta, beide 1975/76). Später näherte Coleman diese Musik in einigen Aufnahmen (zum Beispiel Album Virgin Beauty, 1988) mehr populärer Musik an.
  17. Peter Niklas Wilson: Das Zusammenspiel von Prime Time werde „oft als Gleichzeitigkeit mehrerer tonaler Schwerpunkte […] erlebt“. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 80)
  18. Zum Beispiel berichtete der Bassist Jimmy Garrison: Er habe sich schließlich gezwungen gesehen, sich mit Colemans Konzepten auseinanderzusetzen, und als er wenigstens einen kleinen Teil davon verstand, habe ihm das geholfen. Ein wesentlicher Aspekt von Colemans Theorie sei, „dass, wenn man den Ton C nimmt, dieses C die Tonika von C sein kann, aber auch die große Terz von As, die Quinte von F, die None von B. Wenn man also weiß, dass jeder Ton Bestandteil eines ganzen Spektrums von Tönen sein kann, dann schult man sich, auf diese Art zu denken, und als Ergebnis kommt man auf Melodien, von denen man vorher nicht wusste, dass es sie gibt.“ (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 46) Peter Niklas Wilson beschrieb mehrere typische Verfahren Colemans: „metrische Öffnung“ (Gruppierung der melodischen Linien zu unregelmäßigen Einheiten), „Polymodalität“ (der bereits genannte Bezug auf tonale Zentren), „Terztransposition“ (Verschiebung melodischer Elemente um das Intervall einer kleinen Terz), „harmolodische Parallelführung“ (Instrumente spielen dieselbe Melodie, jedoch in der Tonhöhe versetzt) und „orchestrales Klangideal“. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 80-82)
  19. Martin Kunzler: Der Begriff „‚Harmolodics“ sei erstmals im Begleittext des Albums Skies Of America (1972) aufgetaucht. Es handle sich dabei „eher um eine Philosophie und Psychologie des Zusammenspiels denn um eine Musiktheorie“. (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 226) Peter Niklas Wilson: „Harmolodics“ sei ein Art „offenes Reservoir von Verfahren, derer sich Coleman auf unterschiedliche Weise, je nach der musikalischen Situation, je nach den Charakteristika seiner Mitspieler bedient“ beziehungsweise eine Art „musikphilosophisches Programm mit dem Ziel, individuelle Kreativität zu inspirieren“. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 79)
  20. Peter Niklas Wilson: Alle Musiker, die längere Zeit mit Coleman spielten, hätten bezeugt, dass diese Zusammenarbeit „zwangsläufig einer profunden musikalischen Ausbildung gleichkommt“. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 90)
  21. Wynton Marsalis: „Er ist ein herausragender Melodiker, vielleicht sogar der melodischste Musiker der Jazzgeschichte, und konstruierte auf intelligente Weise einen Stil, der statt wechselnder Harmonien häufig wechselnde Gefühlszustände in den Vordergrund stellte.“ „Er spielte wie zu der Zeit, als noch niemand wusste, wie man zu Harmonien improvisiert, damals, als es nur Melodien und Stimmeffekte gab.“ – „Seine Improvisationsweise sagt uns oft mehr als der Ansatz vieler Musiker mit umfassenderen Kenntnisse.“ (QUELLE: Wynton Marsalis, Jazz, mein Leben, 2010, S. 144 und 146) Terence Blanchard, der wie Marsalis der traditionellen Linie aus New Orleans angehört: „Ich sehe ihn so gar nicht als Free-Jazz-Musiker. Ich höre wunderschöne Melodien und Akkordfolgen, die zwar nicht im traditionellen Sinn gespielt werden, aber dennoch da sind.“ (QUELLE: Christian Broecking, Ornette Coleman. Klang der Freiheit, 2010, S. 112)
  22. Gunther Schuller: „Kurze Motive werden aus jeder nur denkbaren Richtung angegangen, werden sequenzierend auf vielfache Weise bearbeitet, bis sich daraus ein Übergang zu einem neuen, kontrastierenden Motiv ergibt, das dann seinerseits auf ähnliche Weise entwickelt wird, nur um zu einem weiteren Glied in der Kette musikalischer Gedanken zu führen – und so fort […].“ (QUELLE: Begleittext des im Jahr 1961 aufgenommenen Albums Ornette!, Übersetzung aus: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 45) Ekkehard Jost prägte für diese Spielweise den Begriff „motivische Kettenassoziation“, in Anlehnung an Ketten freier Assoziation in der Psychologie. (QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002/1975, S. 61)
  23. Peter Niklas Wilson: Die Rhythmik von Colemans Musik sei „oft von einer Klarheit und Einfachheit, die auf den Jazz vor dem Bebop zurückweist“ und seine Soli seien „über weite Strecken schlicht diatonisch bis zur Simplizität“. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 40 und 45)
  24. Peter Niklas Wilson: 1.) Ein Spiel mit Motiven sei bereits bei Sonny Rollins und in älteren Jazzstilen zu finden. – 2.) „Motivisch oder thematisch strukturierte Improvisationen sind keineswegs Erfindungen von Sonny Rollins, sondern lassen sich von Louis Armstrong bis Thelonious Monk durch die Jazzgeschichte verfolgen – wobei gerade Monk von entscheidendem Einfluss für Rollins gewesen sein wird.“ (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1991, S. 45 und 79) – Ekkehard Jost erklärte auch John Coltranes Spielweise zum Teil als „motivische Entwicklung“ (QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002, S. 110-114), was Vijay Iyer in Frage stellte (Näheres: Link). Iyers Argumentation könnte wohl auch in Bezug auf Ornette Colemans Spiel berechtigt sein.
  25. Ekkehard Jost: Colemans Einsetzen von Motiven sei insofern neuartig, als er „motivisches Material“ nicht (wie Rollins) bloß aus dem Thema ableitete, sondern „im Verlauf seiner Improvisation vom Thema melodisch unabhängige Motive“ erfand und weiterverarbeitete – vergleichbar mit dem Schreiben aus dem „Bewusstseinsstrom“ (stream of consciousness) heraus in der Literatur (James Joyce). (QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002/1975, S. 61)
  26. Sam Rivers: „Ich versuche, Geschichten wie Homer zu erzählen und organisiere sie wie Joyce. Meine Musik ist ein Bewusstseinsstrom. Einfach reden, die Gedanken fließen und sich selbst ordnen lassen". (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Jenseits der Kategorien, Internetseite der FMP/Free Music Production, Internet-Adresse: http://www.fmp-label.de/fmplabel/catalog2liner/fmpcd099_o.html; Wilson erwähnte, dass diese Aussage aus einem von Wolf Kampmann geleiteten Interview mit Sam Rivers stammt. Dieses Interview scheint das in der Zeitschrift JazzThing, wahrscheinlich in der Nummer 58, veröffentlichte zu sein.) Sam Rivers: „Bei aller Bescheidenheit glaube ich, mein Hauptbeitrag ist, dass ich der Schöpfer einer besonderen Free-Form im Jazz bin. Als Ornette Coleman auftauchte, spielte er thematisches Material, das aus dem Blues kam, und improvisierte darüber. Cecil Taylor ist Avantgarde. Er spielte Themen und improvisierte darüber. Dave Holland und ich hatten kein thematisches Material. Es war spontane Kreativität, völlig improvisiert und jede Nacht war unterschiedlich. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich für meine Beiträge Anerkennung erhielt. Es soll mir einer sagen, wer damit begonnen hat, wenn nicht ich.“ (QUELLE: Artikel von Ted Panken in der Zeitschrift DownBeat, 1999, Internet-Adresse: http://tedpanken.wordpress.com/2011/12/27/sam-rivers-1923-2011-r-i-p-a-downbeat-article-from-1999-and-interviews/, eigene Übersetzung)
  27. Henry Threadgill: „Es ist komisch, wenn Leute Dinge sagen wie der Abschnitt in 5/4. Und ich sage: Ich würde gerne wissen, wo das ist. Und die Band sagt: Wir würden das auch gerne wissen. Ich weiß nicht, wo du das gehört hast! Denn grundsätzlich denke ich in Vierteln – von Beat zu Beat, Penny zu Penny, Dollar zu Dollar. Ich brauche kein Schlagzeug, das im selben Metrum spielt wie die Band, denn das ist wirklich überflüssig. Im Rhythmus sprechen sie vom zweiten Beat, dem ersten Beat und dem ersten Akzent und zweiten Akzent. Wenn man Metrum gegen Metrum setzt, dann erhält man das. Dann verliert man jedes Metrum und das ist es, was ich wirklich möchte. Ich mag kein Gefühl von einem Metrum, denn wenn man ein Metrum spürt, dann fühlt man Unterteilung. Das Eine ist vorbei, das Nächste kommt. Das steht dem Fluss im Weg. Der Fluss ist alles – im Film, im Theater, in der Literatur, in der Architektur, im Tanz, in der Musik.“ (QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Henry Threadgill. part 3, 21. Mai 2011, Iversons Internetseite DO THE MATH, Internet-Adresse: https://ethaniverson.com/interview-with-henry-threadgill-part-3/, eigene Übersetzung)
  28. Steve Coleman über Ornette Coleman und Henry Threadgill: Link
  29. Mehr dazu im Artikel Sprachkunst: Link
  30. Musik Charlie Parkers und anderer
  31. QUELLE: Christian Broecking, Ornette Coleman. Klang der Freiheit, 2010, S. 110 – Denardo Coleman (Ornette Colemans Sohn, Schlagzeuger): „Man kann Dinge machen, die nach den Maßstäben der Musiktheorie merkwürdig sind, und doch kann das Ohr dabei dasselbe Gefühl von Auflösung und Ordnung haben.“ (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 226)
  32. Siehe dazu im Artikel Miles-Davis-Fusion: Link
  33. Johannes Völz, Improvisation, Correlation, and Vibration: An Interview with Steve Coleman, Anfang 2003, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/improvisation-correlation-and-vibration-an-interview-with-steve-coleman/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  34. Er war Mitglied der 1965 in Chicago gegründeten, der Avantgarde zugewandten Musikervereinigung AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians) und führte von 1982 bis zu seinem Tod im Jahr 2010 einen Jazzclub, der zu einem häufig „Anderson-Universität“ genannten Zentrum der Chicagoer Avantgarde wurde. (QUELLE: Christian Broecking, Jeder Ton eine Krankenstation, 2007, S. 69-72)
  35. QUELLE: Christian Broecking, Jeder Ton eine Krankenstation, 2007, S. 71

 

 

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