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Mellow


Trotz der schlechten Aufnahme-Technik in der ersten Hälfte der 1920er Jahre ist in damals gemachten Aufnahmen erkennbar, dass der Sound der Band von King Oliver mit dem jungen Louis Armstrong „außerordentlich schön, reich und voll … mellow [milde, ausgereift, saftig] in der Klangfarbe wie ein guter Wein“ war (Gunther Schuller)1). In dieser Band spielte der Klarinettist Johnny Dodds mit, der wie King Oliver und Louis Armstrong aus New Orleans stammte. Dodds war dann in den Jahren 1925 bis 1927 an berühmten Aufnahmen Armstrongs2) beteiligt und leitete Ende der 1920er Jahre eigene Bands, unter anderem die Johnny Dodds Washboard Band. Schuller schrieb über diese Band Dodds, sie habe das „echte balmy [milde, balsamische] New-Orleans-Feeling“ gehabt.3) Neben Dodds war Sidney Bechet einer der bedeutendsten Klarinettisten aus New Orleans4) und der beeinflusste Duke Ellington nachhaltig, als er sich in den Jahren 1924/25 in New York aufhielt und eine Zeit lang in Ellingtons Band spielte. Ellington sagte später, die Klarinettisten aus New Orleans hätten im Gegensatz zum später üblichen pfeifenartigen Klang der Klarinetten noch ganz anders geklungen. Sie hätten die Holz-Klangfarbe gehabt, die er liebe. Es gebe im Klarinetten-Spiel nichts Vergleichbares zu diesem „Holz“.5)

Der Musikwissenschaftler Charles Keil stellte Mitte der 1960er Jahre fest, dass „mellow“ das am häufigsten verwendete Eigenschaftswort ist, mit dem eine gute Blues-Vorführung von Anhängern beschrieben wird.6) Nach einer typischen Aussage eines Blues-Fans müsse ein Blues-Sänger „Soul“ (Seele) haben, sonst sei er kein Blues-Musiker, sondern bloß Sänger.7) Der Jazz-Kritiker Joachim-Ernst Berendt erwähnte eine Rundfrage nach dem Wesen von Blues- und Soul-Musik, die eine afro-amerikanische Radio-Station unter ihren afro-amerikanischen HörerInnen durchführte. In den Antworten sei immer wieder das Wort „mellow“ aufgetaucht.8) – An der Entstehung der Soul-Musik hatte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Ray Charles einen wesentlichen Anteil, indem er Gospel-Anleihen in den Blues einführte. Gospel und Blues waren zwar schon immer musikalisch miteinander verbunden und wechselseitig beeinflusst, aber es wurde stets eine klare Trennung zwischen religiöser Musik und der „Teufelsmusik“ der Kneipen gewahrt. Ray Charles „riss die Absperrung zwischen Kanzel und Bühne nieder und gab Blueskonzerten eine transzendale Inbrunst, indem er ohne Scheu das Spirituelle mit dem Sexuellen verband. Bei Ray Charles waren Vergnügen (physische Befriedigung) und Glück (göttliche Erleuchtung) ein und dasselbe ….“9) – In gewisser Weise war jedoch bereits in vielen afro-amerikanischen Kirchen die religiöse Erfahrung stark mit sinnlichem Erleben verwoben, nämlich durch eine zentrale Bedeutung von rhythmischer Musik. Nicht nur die Vorstellung von höheren Sphären, sondern auch die unmittelbare Wirkung der Musik beglückte. Afro-amerikanische Kirchenmusik ist voller „Soul“ und „Mellowness“ und prägte schon lange vor der Entstehung der so genannten Soul-Musik das Musikempfinden vieler afro-amerikanischer Kinder und zukünftiger Musiker. Die Jazz-Sängerin Sarah Vaughan erklärte: „Du musst Soul in deinem Gesang haben, die Art Soul, die es im Spiritual gibt. Der Spiritual ist Teil meines Lebens."10) Und der Vibraphonist Milt Jackson sagte: „Was ist Seele im Jazz? Es ist das, was aus deinem Innern kommt … In meinem Fall, glaube ich, ist es das, was ich in der Musik meiner Kirche hörte und fühlte. Das war der mächtigste Einfluss meiner Laufbahn.“11)

Die Bedeutung afro-amerikanischer Kirchen für die Vermittlung einer spezifischen Musikerfahrung scheint ungebrochen weiter zu bestehen, wie folgende Erläuterungen Henry Threadgills (geboren 1944) zu seiner Jugendzeit in Chicago und der um 2012 bestehenden Situation zeigen: „Für uns gehörte die Musik zum Alltag, ganz besonders auch in der Schule. Was die jungen Musiker heute berichten, stimmt leider: Die Bundesregierung hat den Musik- und Instrumentalunterricht in den staatlichen Schulen ersatzlos gestrichen. Heute kann man Segmente der schwarzen Musik nur noch in der Kirche lernen. Als ich klein war, hab ich alle großen Gospel-Sängerinnen in der Kirche meiner Großmutter gehört, auch Mahalia Jackson. Sonntags mittags, nach der Kirche, ging mein Großvater mit uns zu den Blues-Musikern, die auf der Straße sangen. Muddy Waters hab ich oft gesehen. Das alles war für mich Heimat. Auch die fünf Kinos in der Nachbarschaft brachten Musik, immer nach den Aufführungen und bevor ein Komödiant die Bühne betrat, gab es Live-Musik – Art Blakey, Miles Davis, Dave Brubeck … die spielten alle im Kino um die Ecke. Es gab manchmal so viel Musik in der Community, dass weiße Musiker engagiert werden mussten, weil die schwarzen bereits ausgebucht waren. … Die Kirche ist heute der einzige Ort, wo ein Rest dieser einst blühenden Kultur bewahrt wird.“12)Ein ähnliches Bild ergibt folgende Aussage des wesentlich jüngeren amerikanischen Pianisten Vijay Iyer (geboren 1971), dessen Vorfahren aus Indien stammten und der seit vielen Jahren mit afro-amerikanischen Musikern zusammenarbeitet: „Tatsächlich ist die Kirche die geheime Musikschule der afro-amerikanischen Community. Nur wer mit und in der Kirche aufwächst, erlebt jenes einmalige Zusammenspiel von Ekstase und Katharsis, das untrennbar mit der dort gespielten Musik verbunden ist. Man hört sofort, welcher Schlagzeuger aus dieser Schule kommt.“13)

In der afro-amerikanischen Umgangssprache wird „durch die lange Dehnung und oft dunkle Einfärbung der Vokale eine gänzlich andere Klangfarbe erreicht“14). Wenn zwei Konsonanten aufeinanderfolgen (wie zum Beispiel bei der End-Silbe „ing“), wird häufig der zweite Konsonant weggelassen („talking“ wird zu „talkin“). Denn die typisch europäischen Kombinationen von Konsonanten wirken nach afro-amerikanischem Sprachempfinden als zu sperrig und werden daher durch weichere, leichter fließende Laute ersetzt. Das Englisch der Afro-Amerikaner hat viele weitere Eigenheiten in der Aussprache, im Vokabular und in der Grammatik, wobei sein spezieller klanglicher Charakter zentrale Bedeutung hat. Es wurde als „Spoken Soul“ bezeichnet15) und ein Schriftsteller sagte, es sei fast „mehr ein Sound als eine Sprache”16). Der warme, volle, weiche Klang der afro-amerikanischen Mundarten scheint sich im Mellow-Charakter afro-amerikanischer Musik widerzuspiegeln.

Die mit kraftvollem Ausdruck verbundene klangliche und emotionale Wärme afro-amerikanischer Musik findet sich auch außerhalb der USA, in anderen Teilen der afrikanischen Diaspora, zum Beispiel im Gesang des Afro-Brasilianers Milton Nascimento und in Afrika selbst etwa beim senegalesischen Sänger Youssou N’Dour, dessen Stimme sehr sanft und ausdrucksstark zugleich ist. Die Sängerin Neneh Cherry17) sagte: „In seiner Stimme liegt so viel Charisma, Stärke, Geschichte, Tiefe und – Schönheit.“18)

Das Mellow-Element in afro-amerikanischer Musik könnte sich also aus einer ursprünglich in West-Afrika beheimateten Ästhetik ergeben haben.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.
  1. QUELLE: Gunther Schuller, Early Jazz, 1986/1968, S. 55, eigene Übersetzung, eigene Hervorhebung des Wortes „mellow“
  2. Louis Armstrong and His Hot Five, Louis Armstrong and His Hot Seven
  3. QUELLE: Gunther Schuller, Early Jazz, 1986/1968, S. 201, eigene Übersetzung, eigene Hervorhebung des Wortes „balmy“
  4. Schuller nannte als die drei größten Klarinettisten der New-Orleans-Tradition: Sidney Bechet, Johnny Dodds und Jimmy Noon. (QUELLE: Gunther Schuller, Early Jazz, 1986/1968, S. 195)
  5. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 198, Quellenangabe: Carter Harman, Interview mit Ellington, 1964, zitiert in: Stuart Nicholson, Reminiscing in Tempo. A Portrait of Duke Ellington, 1999
  6. QUELLE: Charles Keil, Urban Blues, 1991/1966,  S. 122
  7. QUELLE: Charles Keil, Urban Blues, 1991/1966,  S. 157
  8. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 228; diese Ausführungen erschienen erstmals in der Jazzbuch-Ausgabe von 1973; Berendt stützte sich auf einen Bericht von Charles Keil, ohne weitere Quellenangabe; Keils Buch Urban Blues (1966) scheint keine entsprechenden Informationen zu enthalten.
  9. QUELE: Nelson George, R & B. Die Geschichte der schwarzen Musik, 2002, S. 103
  10. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 492
  11. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 232
  12. QUELLE: Christian Broecking, Podcast, Folge 148, Interview, November 2011, Internetseite der Zeitschrift JazzThing, Internet-Adresse: http://www.jazzthing.de/new-media/podcast/folge-148/
  13. QUELLE: Christian Broecking, Podcast, Folge 147, Interview, Oktober 2010, Internetseite der Zeitschrift JazzThing, Internet-Adresse: http://www.jazzthing.de/new-media/podcast/folge-147/
  14. QUELLE: Christoph Buß, 21st Century Blues … From Da ‘Hood. Aspekte zum Thema Rap-Musik, in: Jazzforschung/Jazz Research 30, 1998, S. 13
  15. John Russell Rickford (Linguist) und Russell John Rickford (Journalist): „Spoken Soul“ sei die Bezeichnung, die Claude Brown, Autor von Manchild in the Promised Land, für den Black-Talk [die afro-amerikanische Art des Sprechens] prägte. In einem Interview im Jahr 1968 habe er erklärt, dass die Umgangssprache vieler Afro-Amerikaner „eine ausgesprochen lyrische Qualität besitzt, die häufig mit keiner anderen Musik vereinbar ist als jenem unablässig und unermüdlich antreibenden Rhythmus, der aus schmerzlich verbrachten Leben strömt“. Ein Jahrzehnt später habe James Baldwin, legendärer Autor von The Fire Next Time, das „schwarze“ Englisch als „diese Leidenschaft, diese Kunst … diese unglaubliche Musik“ bezeichnet. – Es sei eine Tatsache, dass die meisten Afro-Amerikaner anders sprechen als „Weiße“ und Amerikaner anderer ethnischer Gruppen oder es zumindest können, wenn sie wollen. In ihrem Buch Spoken Soul würden sie die Schwingung und Vitalität der „Spoken Soul“ als ausdrucksstarkes Instrument in amerikanischer Literatur, Religion, Unterhaltung und im Alltagsleben untersuchen. Sie würden die Merkmale und Geschichte der „Spoken Soul“ im Einzelnen beschreiben … (QUELLE: John Russell Rickford/Russell John Rickford, Spoken Soul. The Story of Black English, 2000, S. 3f., eigene Übersetzung)
  16. Der Schriftsteller Claude Brown schrieb, man könne tatsächlich behaupten, dass „Spoken Soul“ mehr ein „Sound als eine Sprache“ ist. (QUELLE: Claude Brown, The Language of Soul, in: Alan Dundes [Hrsg.], Mother Wit From The Laughing Barrel, 1981/1973, S. 234, eigene Übersetzung) – Christoph Buß: Die Sprachwissenschaft beschäftige sich vor allem mit dem Vokabular, der Grammatik und der Syntax des afro-amerikanischen Englisch. Es werde zwar auch auf die Bedeutung von Aussprache und Betonung hingewiesen, doch in dieser Hinsicht in der Regel nicht systematisch geforscht. Das sei möglicherweise auf einen typisch europäischen Zugang der Sprachwissenschaft zurückzuführen. Claude Browns Ansatz könne er (Buß) in seiner Arbeit zwar nicht weiter verfolgen, er halte ihn jedoch für durchaus ernstzunehmend. (QUELLE: Christoph Buß, 21st Century Blues … From Da ‘Hood. Aspekte zum Thema Rap-Musik, in: Jazzforschung/Jazz Research 30, 1998, S. 14)
  17. Neneh Cherry (Stieftochter des Jazz-Trompeters Don Cherry) hatte ihren größten Hit mit ihrem Song 7 Seconds, den sie mit Youssou N’Dour im Duett sang.
  18. QUELLE: deutschsprachiger Dokumentarfilm über Youssou N’Dour (ein Robert Riede war an der Film-Produktion beteiligt, sowie als Sprecher Victor Couzyn und Doris Schretzmayr; der Film wurde vom ORF ausgestrahlt)

 

 

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