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Menschlicher Sound


„Man kann aus seinem Horn immer den menschlichen Klang einer Stimme herausholen, vorausgesetzt, man hat diese Stimme im Ohr und versucht ihrer Wärme Ausdruck zu verleihen.“
(Ornette Coleman)1)

„Ein Amerikaner von heute [2007] wäre, würde man ihn in die Zeit von, sagen wir, Abraham Lincoln [18652)], zurückversetzen, entsetzt über die rauen Lebensbedingungen, auch wenn er noch so viel Geld gehabt hätte.“3) Für die bitter arme, gewaltsam unterdrückte und gedemütigte afro-amerikanische Bevölkerung in den amerikanischen Südstaaten war das Leben noch entsprechend härter. Ihre Not, ihre Aussichtslosigkeit und die Zerrüttung ihrer familiären Beziehungen durch die noch nicht lange zurückliegende Sklaverei bescherten ihnen ein leidvolles Dasein, in dem ihre Musik ein wichtiges Lebens-Elixier war. Oft retteten sie ihre Seelen in intensiven religiösen Gruppen-Erlebnissen mit eindringlichen Rhythmen, ekstatischem Gesang und Tanz, die bis zur Trance führten und tiefe Gefühle, gemeinschaftliche Verbundenheit und Erhebung verschafften. Die Rhythmen und Klänge dieser Musik waren in abgewandelter Form auch im ausufernden Nachtleben der Kneipen gegenwärtig und dort wurde schließlich (wahrscheinlich um 1900) der Ausdruck der sich über die Song-Melodie erhebenden leidenschaftlichen Stimmen auf Blasinstrumente übertragen. So dürfte der „heiße“ Sound des Jazz, der „Hot“-Jazz mit seinem „Cry“4) und „Shout“5), entstanden sein.6) Der Bruder des berühmten New Orleanser Musikers Sidney Bechet erklärte: „Man muss richtig hart spielen, wenn man für Neger musiziert. Muss ständig Dampf aufsetzen …. Muss ihrer Sache gewachsen sein. Ist man’s, dann hat man die Schwungkraft, den Drive. Buddy Bolden hatte ihn, Bunk Johnson hatte ihn …. Diese Hot-Musiker spielen, als wollten sie sich selber töten. Das ist die Art von Anstrengung, die Louis Armstrong und Freddy Keppard hineinlegten.“7) Weil das Leben aber ohnehin schon schwer war, musste die Musik zugleich auch gut klingen, sich gut anfühlen, gefühlvoll sein. Der Musiker Louis de Lisle Nelson sagte: „Es heißt, ich sei der erste Hot-Klarinettist8). … Gibt da eine ganze Menge verschiedener Klangfarben, die man in den Ton legen kann – etwa das ‚Weinen‘, … schaufle ein Weinen hinein, wann immer es günstig ist. … Man muss mit Herz spielen. … Sidney Bechet war … mein bester Schüler. Mensch, der ging los mit diesem Ding, spielte aus dem Herzen.“9) Das expressive Hot-Spiel der Blasinstrumente (Kornette, Klarinetten, Posaunen) umfasste also ein breites Ausdrucksspektrum von der Attacke, die das Alltagsleid übertrumpft, bis zu klagenden Tönen, die ins Herz gingen. Stets war der „Sound of the Cry“ gegenwärtig, aber das Leid wurde in der Musik überwunden, sodass aus dem „Cry“ ein Ausruf der Lebensbejahung und Lebenslust wurde – ein „Sound of the Joy“. Und bei aller Ausdruckskraft, die bereits der frühe Jazz hatte, war der Klang der wirklich guten Musiker zugleich abgerundet, voll und warm – „mellow“ (milde, ausgereift, saftig).
Mehr dazu: Mellow

Einen wesentlichen Anteil an der Weiterentwicklung des Jazz in New Orleans hatten auch Musiker aus der Bevölkerungsgruppe der „farbigen“ Kreolen10), die aufgrund ihrer gemischten Herkunft, helleren Hautfarbe und ihres ursprünglich höheren Status auf die weniger gebildeten „schwarzen“ Afro-Amerikaner hinabsahen. Sie orientierten sich im Allgemeinen an der Ästhetik der angesehenen europäischen Kultur, doch übernahmen einige von ihnen zunehmend afro-amerikanische Spielweisen, um beim Publikum anzukommen.11) Dabei brachten sie bereits in den Anfängen des Jazz ein „cooles“ Element der Verfeinerung sowie erweiterte musikalische Möglichkeiten ein. Der Pianist Jelly Roll Morton war einer von ihnen und er sagte: „Jazzmusik muss süß, sanft und mit viel Rhythmus gespielt werden. Guter Rhythmus mit reichlich Swing: das ist schön.“12) Er rühmte einen Pianisten im New Orleans seiner Jugendzeit wegen seiner „sanften, süßen, unaufgeregten, perfekten Perfektion der fließenden Töne“, wegen seiner „außergewöhnlichen Harmonien“ und seines „coolen Stils“13). – Soweit kreolische Musiker lediglich durch größere Nähe zu europäisch-klassischer Reinheit „cool“ wirkten (etwa die gepflegten Ragtime-Orchester von John Robichaux und Armand Piron), hatte ihr Musik bloß weniger Jazz-Charakter. Coolness im Sinn von Geschmeidigkeit, Lockerheit und Beweglichkeit ist hingegen eine spezielle Stärke des Jazz.
Mehr dazu: Cool

Ein Meister wie Louis Armstrong verfügte über all diese Qualitäten in seinem Ausdrucksspektrum. Er triumphierte nicht nur mit einer zuvor ungekannten Kunst, ein Solo zu gestalten, und mit ansteckender Lebensfreude, sondern berührte auch mit seinem Ausdruck von Menschlichkeit in seiner Instrumental- und Gesangsstimme. Der 60 Jahre nach ihm geborene, ebenfalls aus New Orleans stammende Trompeter Wynton Marsalis fand: Armstrong habe über „die tiefsten menschlichen Gefühle und das höchste musikalische Niveau“ verfügt. Sein Sound besitze Heilkräfte, sein Spiel sei „Weisheit und Vergebung“ und enthalte „Wärme und Vertrautheit“.14)

Die häufig unerträglichen Lebensbedingungen in den ehemaligen Sklavenhalter-Staaten des Südens führten zu einer Abwanderung vieler Afro-Amerikaner in die nördlichen Städte, wo sie dann die unterste Schicht der Arbeiterschaft bildeten, in Ghettos lebten und ein Publikum für umherziehende Musiker aus ihrer ehemaligen Heimat im Süden abgaben.15) Über ihre Kreise hinaus kam die afro-amerikanische Musik aus New Orleans im Norden zunächst kaum und dann erst in einer durch „weiße“ Bands verwässerten Form an.16) Im New York der 1920er Jahre spielte der afro-amerikanische Pianist Duke Ellington, der im Bereich der Ostküste aufgewachsen war, mit seiner Bigband anfangs nur Ragtime-Orchester-Musik und „Sweet-Music“ im Stil seiner damaligen Vorbilder, der Bands von Fletcher Henderson und Paul Whiteman.17) Doch wie Louis Armstrong durch sein kurzes Gastspiel im Fletcher-Henderson-Orchester18) so führten einzelne Solisten19) auch in Ellingtons Band die Klänge aus dem Süden ein. Ellington erkannte das Potential dieser Musik20) und nutzte die Beiträge seiner Solisten, um die „Jungle-Sounds“21) zu produzieren, die zunächst der musikalischen Untermalung kitschig-exotischer Nachtlokal-Shows für ein „weißes“ Publikum dienten. Durch die Herkunft dieser Klänge aus afro-amerikanischer Subkultur erhielten sie dann jedoch außerhalb des seichten Nachtlebens für viele Hörer eine tiefergehende Bedeutung.22) Ellington entwickelte sich zum Meister der Soundgestaltung, der musikalischen Farbkomposition, der Soundmalerei.23) Noch mehr als das Klavier war sein Orchester das Instrument, auf dem er virtuos spielte. Für dieses „Instrument“, das eine große Farbpalette bereitstellt, komponierte er in einer dem Jazz entsprechenden Weise, indem er Solisten mit ausgeprägten individuellen Instrumental-Stimmen effektvoll in Szene setzte, ihre Improvisationen als Bausteine nutzte und kunstvoll Arrangement mit Improvisation verwob. Außerdem besaß er ein damals ungewöhnliches afro-amerikanisches Selbstbewusstsein, verstand seine Musik als Darstellung des Lebens seines Volks und verlieh ihr damit eine unter die Oberfläche bloßer Unterhaltung reichende Bedeutung.24)

Eine spezielle Volkskunst des stimmlichen Ausdrucks und der musikalischen Erzählung wurde von der Blues-Musik entfaltet, die ursprünglich in einer ländlichen Region des Südens beheimatet war, wo viele afro-amerikanische Feldarbeiter der Baumwollproduktion dienten.25) Von dort verbreitete sich diese überwiegend vokale Musik rasch, unter anderem entlang des Mississippi nordwärts, und es entstanden dort in den afro-amerikanischen Vierteln der Städte abgewandelte, urbanisierte Formen des Blues. An einer Abzweigung der Mississippi-Route liegt Kansas City, Missouri,26) das mit seinem rauen, prosperierenden Nachtleben vielen Musikern Arbeit bot27). So bildete es unter anderem das Zentrum einer Jazzszene, die auch weite ländliche Gebiete des Mittleren Westens mit Tanzmusik versorgte und stärker als anderswo vom Einfluss der Blues-Musik geprägt war.28) Aus dieser Szene ging Mitte der 1930er Jahre die Count-Basie-Bigband mit Solisten wie Lester Young hervor und um 1940 der Alt-Saxofonist Charlie Parker. Jay McShann, der Leiter der „letzten der großen Bands“29) von Kansas City, hatte Ende der 1930er Jahre den jungen Charlie Parker in seinem Orchester und sagte Jahrzehnte später über ihn: Parker habe den Blues gespielt. Wenn man genau hinhört, erkenne man, dass er bei allem, was er spielte, selbst wenn es eine Ballade war, und bei aller Technik, die er hatte, den Blues spielte. Parker sei einer der großartigsten Blues-Musiker der Welt gewesen.30) – Der nur drei Jahre nach Parker geborene, jedoch in Chicago gebliebene Tenor-Saxofonist Von Freeman bezeichnete Parkers Musik als „Universitäts-Blues“ und Steve Coleman erläuterte: Parker habe sich hinsichtlich des emotionalen Inhalts wenig von anderen Blues-Musikern aus dieser Gegend unterschieden, aber eine in dieser Form zuvor nicht bestandene „hippe Verfeinerung“ eingeführt. Er habe mit seinem Instrument predigen können und zugleich eine sehr verfeinerte melodische Stimmführung gehabt. In seinem predigenden Stil höre man Aufschreie, wiederholte Gesten der Emphase und so weiter. Sein Ton sei klar, selbstsicher, scharf, kantig, ohne das übertriebene Vibrato früherer Stilisten und das habe bereits einen deutlich anderen Zugang zum Blues signalisiert – einen Zugang, in dem der Tonfall subtiler ist als in der vorhergehenden Ära.31) Er habe eine extrem hoch entwickelte Art gehabt, den Blues auszudrücken.32) – Parkers Sound „füllte das Haus“33), hatte oft eine durchdringende Schärfe, war aber auch abgerundet, schmiegsam34), vielfältig, mitunter sogar flüsternd35).

Parker wählte für seine Band einen Trompeter, der zu seiner dichten, virtuosen Spielweise einen sparsamen, lyrischen Gegenpart bildete: Miles Davis. Später kultivierte Davis in eigenen Bands diese Zurückhaltung und sie wurde zu einem Merkmal seiner Musik. Er reduzierte die in Parkers Stilbereich entfaltete Komplexität und kehrte zu einer mehr mit der Tanzmusik verbundenen rhythmischen Basis zurück, über der er geschickt sein ausgespartes Spiel mit berührenden Klangfarben inszenierte.36) Sein Ton war eher fragil, introvertiert und behutsam. Statt eines offenen „Cry“ klang melancholisches Seufzen oder unterdrückte Aggression in seiner Trompeten-Stimme, statt eines Ausrufs von „Joy“ beruhigende, tröstende, wärmende Klänge. Bereits Parker drängte ihn zur Verwendung eines Dämpfers37) und Davis entwickelte damit später ganz nahe am Mikrofon38) spielend einen intimen, gesangsartigen Sound, den er häufig einsetzte und der vielen Hörern unter die Haut ging.39) Aber auch wenn er mit offener Trompete spielte, waren es vor allem die vielfältigen, stimmähnlichen Klangfarben, die seinem Spiel eine starke, direkte emotionale Wirkung verliehen.40) Sie vermitteln Stimmungen und beziehen den Hörer in sehr persönlich wirkende Gefühlszustände ein. Aus seiner Musik spricht ein Lebensgefühl, in dem Sensibilität und Ästhetik einen bedeutenden Stellenwert haben – undenkbar für die in der Unterschicht angesiedelte Blues-Kultur. Davis wuchs im Vergleich zu den meisten anderen afro-amerikanischen Jazzmusikern in einer deutlich besser gestellten Familie auf und verstand es wohl auch deshalb, ein großes, überwiegend bürgerliches Publikum sowie Jazzkritiker anzusprechen, besonders mit seiner Musik der 1950er Jahre41). Mit ihr, seiner attraktiven Erscheinung und seinem extravaganten Lebensstil verkörperte er moderne Lässigkeit mit Kunstsinn. In seinem damaligen Quintett und Sextett setzte er wie Parker den reizvollen Gegensatz zwischen seinem weichen, ausgesparten Stil und dem eines dicht und komplex spielenden Saxofonisten ein, indem er den Tenor-Saxofonisten John Coltrane engagierte. Ab 1963 steigerte Davis mit einer Band aus jüngeren Musikern im Rücken den emotionalen Ausdruck seines Spiels dramatisch und folgte damit wohl dem durch die damalige Free-Jazz-Bewegung ausgelösten Trend zu extremeren Klängen.42)

John Coltrane hatte auf dem Tenor-Saxofon weniger den vollen, tiefen, vibrierenden Klang eines Coleman Hawkins oder Sonny Rollins. Sein Ton war heller, gebündelt wie ein Strahl, neigte mehr zu dem des höheren Alt-Saxofons43), das er ursprünglich spielte, und wirkte bei schnellem Spiel eher schneidend, durchdringend, was seine Linien gestochen scharf, kraftvoll und brillant hervortreten ließ.44) Zugleich vermittelte sein Sound bereits für sich viel vom Geist seiner Musik. Coltrane verfügte über die aus dem Blues stammende Ausdruckskraft45) und was er ausdrückte, knüpfte an eine alte Tradition an, die vielen Afro-Amerikanern seelischen Halt und Stärkung bot: die spirituelle Erfahrung in gemeinschaftlicher Religionsausübung. Der von Coltrane beeinflusste Saxofonist Billy Harper sagte: „Unsere46) Musik ist immer erhebend gewesen, aufgrund der Umstände ihrer Darbietung manchmal aber auf eine frivole Art. Seine [Coltranes] musikalische Botschaft war aber so stark wie jene der Alten Musik, die als heilende Musik gebraucht wurde, Musik, die den Menschen erhob, Musik zum Beten und Meditieren.“47) Die Wurzeln für die Ernsthaftigkeit, Tiefgründigkeit und spirituelle Hingabe Coltranes finden sich in seiner Herkunftsfamilie, in persönlichen Schicksalsschlägen und in afro-amerikanischer Subkultur der Südstaaten.
Mehr dazu: Coltranes spirituelle Wurzeln

Coltrane verfügte mit seiner Saxofon-„Stimme“ über ein großes Ausdrucksspektrum. Wenn er in aufwühlendem Spiel immer wieder neue musikalische Möglichkeiten auslotete, Harmonien vielfältig sprengte, sich Runde für Runde emporarbeitete und damit eine abwechselnd irritierende und erhebende Intensität erzeugte, dann „predigte“ er dabei in einem von Überzeugungskraft strotzenden Tonfall. Mit derselben Stärke konnte er jedoch auf sanfte Weise auch Wärme und eine von tiefem Frieden erfüllte Hingabe vermitteln, zum Beispiel im Stück Dear Lord48). Wenn man ihn hört, „siehst du die Welt mit anderen Augen“49). Mit der Suite A Love Supreme (1964) stellte er erstmals ein ganzes Werk in den Dienst seiner Religiosität und erreichte nach Ansicht vieler einen Höhepunkt seines Schaffens. Am Ende des ersten Teils dieses Werkes rezitierte Coltrane mit Sprechgesang in verschiedenen Tonlagen immer wieder andächtig die Worte A Love Supreme, die eine göttliche Liebe meinen. Der Saxofonist Wayne Shorter bemerkte dazu: „Ich denke, er kehrte damit ganz an den Anfang zurück, den Punkt, wo die Stimme die erste Ankündigung deiner Menschlichkeit ist: Deine Menschlichkeit ist dein Instrument.“50) In diesem Sinn ist die Menschlichkeit das eigentliche Instrument, auf dem der Musiker spielt, egal, ob er dazu seine Stimme oder ein Saxofon einsetzt, und diese Deutung scheint besonders für Coltranes Musik seiner letzten, auf A Love Supreme folgenden Zeit zuzutreffen.51) Die unter dem Einfluss der damaligen Free-Jazz-Bewegung zunehmend wilderen, dissonanteren Klänge seiner Musik wie auch seine zuletzt heftigen Körperbewegungen beim Spielen drückten eine brennende Leidenschaft aus, die den Musiktiteln sowie seinen Interview-Aussagen zufolge auf spirituelle Vorstellungen gerichtet war. Die meisten Hörer, auch begeisterte Anhänger seiner früheren Musik, können die von Coltrane in dieser Phase offensichtlich erlebte spirituelle Erhebung allerdings nicht recht nachvollziehen, zumal die Musik für sich eher abgründig, erschreckend und verzweifelt wirkt.52) Dass er 1967 plötzlich mit nur 42 Jahren an Krebs starb, lässt seine letzte Entwicklung eher wie ein Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten, Verlorengehen aus dem tatsächlichen Leben und Verirren in virtuelle Sphären mit tragischem Ende erscheinen. Ob diese Sichtweise angemessen ist, bleibt fraglich und rätselhaft ist letztlich ja auch die Spiritualität selbst, die der Rationalität zuwiderläuft, aber mit ihrer Poesie Versöhnung und Belebung bewirken kann. Beide Seiten zu nützen, braucht eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Balance, und so kommt es wohl auch bei Coltranes Musik darauf an, als Hörer herauszufinden, wie weit man seiner Entwicklung folgen kann, ohne das Gefühl für die Schönheit seiner Musik zu verspielen.

In der so genannten Free-Jazz-Bewegung wurde oft nahezu die gesamte musikalische Botschaft in raue, höchst dramatische Klänge gelegt. Sie wurden als Wiederbelebung und überwältigende Steigerung der ursprünglichen Expressivität afro-amerikanischer Musik sowie als Ausdruck der Befreiung und des Muts zu Neuem verstanden. Vielen Musikern und Hörern fehlte an diesen auf dramatische Wirkung ausgerichteten Sounds jedoch sowohl das Gut-Klingen als auch die Kunst, die Meister wie Charlie Parker in rhythmischer, melodischer und harmonischer Hinsicht entwickelt hatten. Der revolutionäre Effekt der damals unerhörten neuen Klänge ließ allmählich nach und die Spielweisen des Free-Jazz wurden schließlich selbst zu einer der stilistischen Traditionen der Jazz-Geschichte. Bis heute blieb ihre Bewertung jedoch umstritten. Die rohe, von experimentellem Geist und unangepasstem Expressionswillen gespeiste Energie kann gegenüber einer zu bedachtsamen und kalkulierten Art, wie sie besonders von der Verschulungstendenz im Jazz seit den 1980er Jahren gefördert wird, erfrischend sein.53) Andererseits distanzierten sich selbst Musiker, die an der Free-Jazz-Bewegung beteiligt waren, von musikalischen Defiziten dieser Strömung.54)

Eine Jazz-Entwicklung, die ebenfalls in extremem Maß auf die Wirkung von Sounds setzte, sich in der Art der Klänge und auch sonst jedoch vom Free-Jazz sehr unterschied, war die Rock-Jazz-Fusion der 1970er Jahre. Sie stellte die damals neuen und als modern geltenden Sounds der Elektro-Gitarren, Keyboards und Synthesizer in den Vordergrund. Während herkömmliche Saiten-Instrumente (Klaviere, Gitarren) grundsätzlich nur einen kurz angerissenen Klang erzeugen und schon deshalb für die Bildung „vokaler“ Melodien weniger geeignet sind als Blasinstrumente, können mit elektrischen und elektronischen Instrumenten unbegrenzt lange und zudem vielfältig gefärbte Töne hervorgebracht werden. Das fortschrittliche, jugendliche Image der neuen Instrumente verdrängte in der Popularität die Saxofone und Trompeten des Jazz. Miles Davis war es ein Anliegen, bei jungen Hörern anzukommen, er ließ daher seine Band die modernen Instrumente einsetzen und näherte sich selbst dem Elektro-Gitarren-Klang an, indem er seine Trompete elektrisch verstärkt und verfremdet spielte. Viele weitere Jazz-Musiker arbeiteten mit ähnlichen Kompromissen. Davis bemühte sich, immer am neuesten Stand der technischen Möglichkeiten zu sein, äußerte sich schließlich aber auch kritisch: Der Synthesizer-Klang für die Trompete sei nicht sein Sound und nicht der von Louis Armstrong und Dizzy Gillespie, sondern ein „weißer Sound“ und er könne ihn nur nutzen, indem er ihn mit seinem eigentlichen Trompetenton verbindet. Noch besser wäre es, wenn man die Wahl „zwischen einem weißen und einem schwarzen Sound haben würde“.55) – Von Freeman sagte im Jahr 1976: „Und dann hörst du einiges von dem Zeug, das die Spitzentypen herausbringen. Und du weißt genau, dass sie das nur machen, um den Schallplattengesellschaften und dem Publikum zu gefallen, vor allem den Kindern, die Rock ’n’ Roll-Schallplatten kaufen, dass sie versuchen, einiges von diesem Markt zu erreichen. Und dafür kannst du sie nicht einfach heruntermachen. Wenn du siehst, wie sie versuchen, ihre finanzielle Situation zu verbessern, dann ist es wirklich schwer, sie dafür zu kritisieren. Ich kritisiere also niemals irgendjemanden, sondern mache einfach meine eigene Sache.“56) Hamiet Bluiett gehörte dem 1977 gegründeten World Saxophone Quartet an, einer nur aus vier Saxofonisten bestehenden Gruppe, und erzählte später, wie sie sich in der Zeit der Fusion-Welle trotz ihres nicht-elektrischen Klanges allmählich durchsetzen konnten. Schließlich hätten viele Musiker wieder einen „richtigen Sound und die Macht über die Musik“ zurückhaben wollen, die „mit der Entwicklung der Bühnen- und Instrumenten-Technologie zunehmend an die Sound-Leute verloren gegangen war“.57)

 

Grundsatz-Debatte

Es bleibt die Frage, inwieweit das Sound-Spektrum des Jazz durch neue Möglichkeiten der Klangerzeugung auf eine seinem Wesen entsprechende Weise erweitert werden kann und – um „zeitgemäß“ zu sein – soll. Bei einer Podiumsdiskussion im Jahr 200158) sagte der damals bereits 75 Jahre alte, prominente Jazz-Kritiker Nat Hentoff: „Ich sag euch, was mir an der Zukunft am meisten Sorgen macht: Ich höre immer mehr Leute, auch Leute, die sich weiterhin als Jazz-Musiker betrachten, über Computer als Musikinstrument reden, um damit Klänge zu organisieren. Sie machen alles im Studio. Man braucht keine Live-Musiker mehr, denn man hat immer bessere Synthesizer. Wenn Ihr also über Seele redet, die wird es nicht mehr geben.“ Der Saxofonist Steve Coleman, der an der Diskussion beteiligt war, hatte zwei Jahre zuvor in einem Projekt ein von ihm konzipiertes, improvisierendes, interaktives Computerprogramm als „Bandmitglied“ eingesetzt59) und entgegnete Hentoff nun: Es brauche natürlich sehr wohl die Musiker, aber ein Klavier und ein Saxofon seien ebenfalls Maschinen. Als das Saxofon erfunden wurde, sei noch nicht absehbar gewesen, was großartige Musiker wie Coleman Hawkins einmal damit schaffen werden. Die Musik verändere sich ständig und es sei Unsinn zu sagen, wenn man „einen Synthesizer hat oder wenn man dies oder das ansteckt, dann ist das kein Jazz. Oder wenn da nicht jemand ist, der auf einem Becken spielt, und einer einen Walking-Bass spielt, dann ist das kein Jazz.“ Da werde eine Spielweise, die sich in einer bestimmten Periode entwickelte, gefriergetrocknet und zur einzigen gültigen Form von Jazz erklärt. Hentoff warf dagegen schließlich noch ein: „Nimm nicht den menschlichen Sound heraus!“60)

Steve Coleman beseitigte in seiner Musik keineswegs den „menschlichen Sound“ und sein Experiment mit einem Computerprogramm blieb auf das damals von einer französischen Universität ermöglichte Projekt beschränkt, das er letztlich nur als Mittel zu wertvollen musikalischen Erkundungen betrachtete61). Ansonsten setzte er auch weiterhin die im Jazz üblichen Instrumente ein und die typischen „elektrischen“ Klänge der Fusion-Zeit hatten nur in der Anfangsphase seiner Musik eine stärkere Rolle gespielt.62) Dennoch klang seine Musik nie traditionell im Sinne des von ihm kritisierten verengten Jazz-Verständnisses. Im Jahr 2008, als seine Musik bereits ziemlich avanciert war, sagte er, seine derzeitige Band sei eine der besten, die er je hatte63) und diese Band war neben Bass und Schlagzeug mit Alt-Saxofon, Trompete, Posaune sowie einer Singstimme besetzt – also durchaus ähnlich wie traditionelle New-Orleans-Jazz-Bands, für die ein improvisiertes Zusammenspiel von Klarinette, Trompete (Kornett) und Posaune typisch war. Auch die Coleman-Band erzeugte unter anderem durch gemeinsame Improvisation dichte melodisch-rhythmische Geflechte, aus denen abwechselnd Solisten stärker hervortraten, und die Bläser spielten mit all dem Klangreichtum der Jazz-Tradition (hot, cool, mellow). Diese somit in mehrfacher Hinsicht bestehende Verbindung zum frühen Jazz kam einem jedoch nicht in den Sinn, denn Colemans Band klang aufregend neuartig.

 

Funktion

Technische Innovationen können im Jazz sehr wohl einen Gewinn ergeben, wenn Instrumente durch sie zum Beispiel neue Funktionen erhalten. So kann die Gitarre praktisch64) erst durch die elektrische Verstärkung nennenswerte Improvisationen beitragen. Wenn sie allerdings nicht in der perkussiven Art der Saiteninstrumente gespielt wird, sondern mit langgezogenen „elektrischen“ Tönen als Melodieträger in Konkurrenz zu den Blasinstrumenten tritt, zeigt sich ihre geringere Fähigkeit, subtile, vokale Klänge zu produzieren. Sie wirkt dann relativ grobschlächtig und „unmenschlich“. – Bei den Keyboards, Synthesizern und Computerprogrammen ist zweifelsohne ihr Potential, eine fast unbegrenzte Vielfalt von Klängen zu erzeugen, der wichtigste Grund für ihre Verwendung. Sie können zum Beispiel mit mächtigen Sounds in surreale Sphären entführen oder mit quirligen Klangtexturen das moderne, urbane Leben abbilden. Solche Klänge stimulieren häufig wie kräftige Farben und tendieren dazu, andere musikalische Inhalte zu verdrängen. Sie lassen eine bloße Stimme und auch die Kunst, geistvolle musikalische Strukturen zu bilden, als karg erscheinen. Der aus der Fusion-Bewegung hervorgegangene Gitarrist John McLaughlin sagte in Bezug auf Keyboard/Synthesizer-Spieler jedoch: „Es ist eine Sache, Sounds zu machen; eine andere Sache ist es, wirklich Musik zu spielen.“65) John Coltrane erzählte von einer nächtlichen privaten Jamsession des Pianisten Art Tatum (vor 1956), er habe „niemals so viel Musik gehört“66). Damals gab es keine elektrische Klang-Manipulation von Klavieren und auch heute spielen Jazz-Pianisten meistens auf „akustischen“67) Klavieren, wenn es ihnen um kunstvolle Improvisation geht und ein Klavier zur Verfügung steht. Das Klavier setzt die Motorik des Spielers unmittelbar in einen fein nuancierten, klaren, perkussiven Klang um und hat sich in dieser Hinsicht über die Zeiten hinweg als unüberbietbar erwiesen. Die elektronische Klangproduktion ist vergleichsweise schwerfällig und ihre Sounds sind auch vergänglicher, da sie meistens an populäre Musik und deren aktuelle Moden anknüpfen. Der elektrische Bass hingegen erfüllt dort, wo für massive Grooves ein entsprechend kräftiges Fundament im Bass-Bereich erwünscht ist, eine über modische Klangeffekte hinausgehende Funktion und hat sich wohl deshalb auf Dauer bewährt.

 

Bläser-Sounds

Der Jazz-Kritiker Joachim-Ernst Berendt schrieb: „Wenn wir sagen, ein Saxofonist habe einen eigenen Sound, dann ist das eine gewaltige Untertreibung. In Wahrheit verfügt ein großer Jazz-Saxofonist – bewusst oder unbewusst – über Millionen differenzierter, nuancierter Sounds. Das Klangspektrum sowie die Ein- und Ausschwingungsvorgänge seiner Töne verändern sich unablässig. Jeder Ansatzwechsel, jede Veränderung in der Luftsäule, jeder Lippendruck, jede Phrasierungsnuance, ob nun stark oder leicht, ob ein tiefer oder hoher Ton, ob legato oder staccato, verändern die Parameter des Saxofon-Tones.“68) Diese vielfältige, spontane Klanggestaltung wird bei Blasinstrumenten über den Luftstrom des Atmens und die Motorik des Mundraumes gesteuert – ähnlich wie beim Sprechen und Singen. Die Stimme ist quasi in das Blasinstrument verlegt und das ermöglicht eine unübertrefflich direkte Klangbildung, die dem Ausdruck der menschlichen Stimme dementsprechend nahekommt. Das gilt besonders für das Saxofon.

 

Solo-Klavier, Klavier-Trio und ähnliche Besetzungen

Seit Beginn des Jazz zählen zu ihm auch allein spielende Pianisten69), obwohl das Klavier für einen „vokalen“, „menschlichen“ Ausdruck denkbar ungeeignet ist, denn es kann nur kurz angeschlagene, ein wenig nachklingende Töne erzeugen, die in der Höhe unveränderlich und auch in der Klangfarbe nur relativ wenig variabel sind. Aber der „vokale“ Bläser-Sound ist eben nur ein Merkmal, das einer Musik Jazz-Charakter verleiht. An seiner Stelle kommen beim Solo-Klavier, Klavier-Trio und bei ähnlichen Besetzungen70) andere Jazz-spezifische71) Stärken zum Zug, vor allem der perkussive Charakter und die Möglichkeit, sehr schnelle, flüssige, rhythmisch prägnante Linien zu spielen72). Was bereits die solo spielenden Stride-Pianisten aus Harlem in den 1920er Jahren zu Jazz-Musikern machte, ist – neben ihren Improvisations-Künsten – ihre starke Rhythmik und bis heute unterscheiden sich überzeugende Jazz-Pianisten vor allem durch ihre rhythmische Kraft von jenen, deren Spiel in eine europäisch-klassische Ästhetik abgleitet.

Letztlich ist es für die Bedeutung der vokalen Sounds im Jazz bezeichnend, dass selbst der großartige Pianist Art Tatum, der unter anderem Charlie Parker und John Coltrane beeinflusste73), wie auch Parkers Pendant auf dem Klavier, Bud Powell, und der noch eigenständigere Thelonious Monk im Allgemeinen doch nicht in der vordersten Reihe neben Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane (alle Blasinstrumentalisten) wahrgenommen werden.74) Zweifelsohne hat das Klavierspiel solcher Meister jedoch seinen ganz speziellen Reiz und auch auf anderen Nicht-Blasinstrumenten wurden ausgezeichnete Beiträge zum Spektrum des Jazz hervorgebracht.

 

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  1. QUELLE: Ben Sidran, Black Talk, 1993 S. 145
  2. Lincoln war von 1861 bis 1865 Präsident der USA (Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs, der mit der Aufhebung der Sklaverei endete).
  3. QUELLE: Paul Krugman, Nach Busch, 2008, amerikanische Originalausgabe 2007, S. 51 (Fortsetzung: „Doch zurückversetzt in die späten 1920er Jahre würde er, ein hinreichend hohes Einkommen vorausgesetzt, das Leben im Großen und Ganzen erträglich finden. Das Problem war, dass die meisten Amerikaner sich dieses erträgliche Leben in den 1920er Jahren nicht leisten konnten. Um nur den elementarsten Komfort zu nehmen: Die meisten Amerikaner, die auf dem Lande lebten, hatten noch keine Bäder und Toiletten, und viele Stadtbewohner mussten sich diese Einrichtungen mit anderen Familien teilen. […]“)
  4. Schrei (Weinen)
  5. Schrei, Ruf
  6. QUELLE: Reimer von Essen, Aufführungspraxis historischer Jazzstile, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.), Jazz, 2005, S. 129-132
  7. QUELLE: Aussage von Dr. Leonard Bechet, wiedergegeben in: Jelly Roll Morton/Alan Lomax, Doctor Jazz. Eine Autobiographie, 1960, amerikanische Originalausgabe 1950, S. 102
  8. Das bestätigte Jelly Roll Morton. (QUELLE: Jelly Roll Morton/Alan Lomax, Doctor Jazz. Eine Autobiographie, 1960, amerikanische Originalausgabe 1950, S. 96)
  9. QUELLE: Jelly Roll Morton/Alan Lomax, Doctor Jazz. Eine Autobiographie, 1960, amerikanische Originalausgabe 1950, S. 96f.
  10. In Louisiana bezog sich die Bezeichnung „Kreolen“ ursprünglich auf die dort geborenen „weißen“ Bewohner französischer oder spanischer Abstammung, später aber auch auf freie (nicht versklavte) Personen mit zum Teil afrikanischer Abstammung („Gens du Colour“, farbige Leute). Diese im Vergleich zu den afro-amerikanischen Sklaven durch die Vermischung eher hellhäutigeren Personen hatten einen eigenen Status zwischen „Weißen“ und Sklaven (mit Abstufungen je nach „schwarzen“ Anteilen der Abstammung). Dieser Sonderstatus ging ihnen nach der Abschaffung der Sklaverei durch die Einführung der Jim-Crow-Gesetze, die alle Personen mit afrikanischen Abstammungs-Anteilen gleichsetzten und diskriminierten, verloren. Ihr Selbstverständnis als kreolische und damit höhergestellte (kultiviertere) Afro-Amerikaner blieb zum Teil lange (angeblich sogar bis in die Gegenwart) erhalten.
  11. QUELLE: Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, 2003, S. 31-44
  12. QUELLE: Jelly Roll Morton, Alan Lomax, Doctor Jazz. Eine Autobiographie, 1960, amerikanische Originalausgabe 1950, S. 71
  13. Jelly Roll Morton über den Pianisten Albert Cahill, einem früheren Kollegen in Storyville: „Cahill, with his (so soft, sweet non exerting perfect perfection of passing tones & strange harmonies cool & collective style.)” (QUELLE: Vic Hobson, Reengaging Blues Narratives: Alan Lomax, Jelly Roll Morton and W.C. Handy, 2008, Dissertation, Quellenangabe: Jelly Roll Morton, Letter to Earle Cornwall, 27. April 1938, MSS 507, Folder 1, Williams Research Center, Historic New Orleans Collection). Gunther Schuller zitierte: „Cahill, with his soft, sweet, non-exciting, perfect perfection of passing tone, and strange harmonies, cool and collective [did he mean collected?] style.“ (QUELLE: Gunther Schuller, Early Jazz, 1986/1968, S. 142)
  14. QUELLE: Wynton Marsalis, Jazz, mein Leben, 2010, amerikanische Originalausgabe 2008, S. 137 und 139
  15. Mehr dazu im Artikel Ghetto-Musik: Link
  16. Gunther Schuller: Musiker aus New Orleans hätten zunächst kaum Einfluss in New York gehabt. So habe zum Beispiel der Auftritt von Freddie Keppards Creole Band im Jahr 1915 keinen nennenswerten Eindruck hinterlassen, obwohl diese Musik von Komik begleitet und als sensationelle Neuheit dargestellt worden sei. Der Grund für den geringen Widerhall sei gewesen, dass es in New York damals keine Blues-Tradition gab und die ziemlich lockere, bluesige Intonation der Keppard-Band wohl als derbe Albernheit missverstanden wurde. Es habe die Abschwächung der Expressivität des New-Orleans-Stils durch „weiße“ Bands wie der Original Dixieland Jazz Band (ab 1917) gebraucht, damit der Jazz im New Yorker Musikleben einen bleibenden Eindruck erreichen konnte. (QUELLE: Gunther Schuller, Early Jazz, 1986/1968, S. 250)
  17. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 190
  18. zu Armstrongs Beitrag in Hendersons Orchester im Artikel Groove: Link
  19. In den Jahren 1924/1925 gehörte der Bigband Ellingtons kurze Zeit Sidney Bechet an und Ellington ersetzte ihn dann durch den von Bechet beeinflussten Alt-Saxofonisten Johnny Hodges und den wie Bechet aus New Orleans stammenden Klarinettisten Barney Bigard. Bigard war zuvor Mitglied der Band von King Oliver, dem Lehrer und Vorbild Louis Armstrongs. Einer der beiden Trompetensolisten der Ellington-Band, Bubber Miley, hatte bereits vor seinem Eintritt in die Band eine stark vokalisierte Art der Klanggestaltung entwickelt, nachdem er auf einer Tournee mit der Vaudeville-Sängerin Mamie Smith eine solche Spielweise von King Oliver hörte. (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 196f.) Mamie Smith nahm Anfang der 1920er Jahre als Erste Blues-Stücke auf. (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 1246) Solist an der Posaune war in Ellingtons Band Joe „Tricky Sam“ Nanton, der zu einem besonderen Meister in der Erzeugung verschiedenster stimmähnlicher Klänge wurde. Als ursprüngliche Vorbilder nannte Nanton seinen Vorgänger in der Ellington-Band sowie den Posaunisten Jake Green, der aus South Carolina stammte (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 922) und in Mamie Smiths Band spielte.
  20. Wynton Marsalis: Ellington habe „die Entwicklungsmöglichkeiten des New-Orleans-Jazz, seiner Polyphonie, seines Call and Response, seiner Breaks, Grooves und seiner improvisatorischen Einstellungen“ erkannt, was damals eine „große Errungenschaft“ war, denn die Musik aus New Orleans sei damals noch eine Neuheit gewesen, die von vielen als lärmender Klamauk missverstanden wurde. (QUELLE: Wynton Marsalis, Ellington At 100: Reveling in Life's Majesty, 17. Jänner 1999, Internetseite der Zeitung The New York Times, Internet-Adresse : http://www.nytimes.com/1999/01/17/arts/music-ellington-at-100-reveling-in-life-s-majesty.html?pagewanted=all, eigene Übersetzung)
  21. Dschungel-Klänge
  22. Näheres dazu im Artikel Dschungelmusik: Link
  23. Nachdem Ellington 1919 die High-School beendete, gewann er ein Stipendium für ein Kunst-Studium, entschloss sich jedoch für eine Musikerlaufbahn, bewahrte sich allerdings ein „malerisches Auge für die Welt um ihn“. (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 189, eigene Übersetzung) Joachim-Ernst Berendt: Als Ellington Musiker wurde, habe er „die Malerei nur scheinbar aufgegeben. Er malte nicht in Farben – sondern in Tönen. Seine Kompositionen – mit ihren vielfältigen klanglichen und harmonischen Farben – sind musikalische Gemälde.“ (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 108f.)
  24. Näheres im Artikel New Growth: Link
  25. William Barlow: Die früheste Folk-Blues-Musik sei von unbekannten Afro-Amerikanern gesungen worden, die in den 1880er und 1890er Jahren im Baumwoll-Gürtel des Südens lebten und arbeiteten – besonders in der Region vom Mississippi „Delta“ [nicht zu verwechseln mit dem Mündungsdelta des Mississippi] bis Ost-Texas, die mehrere ländliche Blues-Stile hervorgebracht habe. Die Popularität des Blues habe sich rasch in der afro-amerikanischen Arbeiterklasse verbreitet und der Blues sei noch vor dem Aufkommen der „Race“-Record-Industrie in den 1920er Jahren unter der afro-amerikanischen Bevölkerung des Südens die populärste Form weltlicher Musik gewesen. – Die Heimaterde des Delta-Blues sei das flache, fruchtbare Ackerland auf beiden Seiten des Mississippi-Stroms gewesen, das sich von Memphis, Tennessee, ungefähr 200 Meilen [320 Kilometer] nach Süden bis Vicksburg, Mississippi, erstreckt. Die östliche Grenze des „Deltas“ sei von den kargen Hügeln im Zentrum des Bundesstaates Mississippi gebildet worden und im Westen sei das Ozark-Plateau in Arkansas die Grenze gewesen. In den 1890er Jahren seien Afro-Amerikaner in der „Delta“-Region stärker konzentriert gewesen als anderswo in den Südstaaten und ihre Zahl habe die der „Weißen“ im Verhältnis von 3:1 überstiegen. Der Zustrom habe bis zum Ersten Weltkrieg fortbestanden, sodass bis dahin das Verhältnis auf 4:1 anstieg. Diese konzentrierte afro-amerikanische Bevölkerung sei an die Plantagenwirtschaft gebunden und von der durchschnittlichen „weißen“ Bürgerschaft abgetrennt gewesen. Dazu komme die allgemeine Rückständigkeit dieser Region. So habe sich das kulturelle Geflecht ergeben, in dem der Delta-Blues entstand und aufblühte. (QUELLE: William Barlow, Looking UP At Down, 1989, S. 3 und 26f.) – Paul Oliver: Die frei strukturierten Hollers der Feldarbeiter mit ihrem modalen Charakter seien in den Gesängen der Country-Blues-Leute ohne weiteres nachzuweisen. – New Orleans habe „entgegen der weitverbreiteten Ansicht keine besondere Bedeutung für die Geschichte des Blues“ gehabt. (QUELLE: Paul Oliver, Die Story des Blues, 1978, englischsprachige Originalausgabe 1969, S. 40f. und 71)
  26. Es liegt am Missouri Fluss, der bei St. Louis in den Mississippi mündet.
  27. Kansas City wurde damals (unter der Führung des Unternehmers und Politikers Tom Pendergast) von einer mit dem Gangstertum verbundenen Politik beherrscht, die trotz des in den USA von 1920 bis 1933 geltenden (vielfach unterlaufenen) Alkoholverbots (Prohibition) und der 1929 begonnenen Great Depression (Weltwirtschaftskrise) für ein blühendes Vergnügungsgeschäft und Nachtleben sorgte.
  28. Mehr zum Jazz in Kansas City im Artikel Jazz-Beat: Link
  29. Martin Kunzler: „Nach dem Weggang von Count Basie und Andy Kirk aus Kansas City leitete Jay McShann die letzte der großen Bands …“. (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 844)
  30. QUELLE: Nathan W. Pearson, Jr., Goin‘ to Kansas City, 1994/1987, S. 206, Quellenangabe: Hootie Blues, eine Nebraska ETV Produktion aus 1978
  31. QUELLE: Steve Coleman, The Dozens: Steve Coleman on Charlie Parker, 2009, Internet-Adresse: http://m-base.com/the-dozens-steve-coleman-on-charlie-parker/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  32. QUELLE: Interview anlässlich eines Konzertes in Meldola, Italien, am 14. November 2004, Interviewer unbekannt, eigene Übersetzung eines kurzen Auszugs: Link
  33. Der Saxofonist Dave Liebman bezeichnete Parker als einen „Typen, der mit dem Sound einfach das Haus füllte“ und sagte, Phil Woods (Saxofonist und Zeitgenosse Parkers) habe ihm erzählt, dass „der Sound gigantisch war, wenn man Bird [Parker] hörte.“ (QUELLE: Andy Hamilton, Lee Konitz, 2009, S. 182, eigene Übersetzung) – Miles Davis nach Parkers Tod (1955) zu einem Journalisten: „Sie hätten Charlie Parker zusammen mit einer guten Bigband aufnehmen sollen. Dann hätte man gehört, wie groß sein Sound war.“ (QUELLE: Eric Nisenson, Miles Davis. Round about Midnight, deutsch, 1992, S. 33)
  34. Das ist zum Beispiel bei den elektrotechnisch besseren Aufnahmen vom Konzert in der Carnegie-Hall am 24.12.1949, etwa im Stück Bird Of Paradise, deutlicher wahrnehmbar als bei früheren Aufnahmen.
  35. QUELLE: Steve Coleman, The Dozens: Steve Coleman on Charlie Parker, 2009, Internet-Adresse: http://m-base.com/the-dozens-steve-coleman-on-charlie-parker/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  36. John Coltrane: Charlie Parker und Dizzy Gillespie hätten in den 1940er Jahren einen Bruch mit der Tanztradition des Jazz herbeigeführt. Fast 10 Jahre später sei Miles Davis, der mit Parker und Gillespie begonnen hatte, in die entgegengesetzte Richtung gependelt. Zu den meisten von Davis‘ populären Sachen könne man durchaus tanzen. (QUELLE: Lewis Porter, John Coltrane, 1999, S. 202f.) – Während Coltrane nicht der Kehrtwendung von Davis folgen wollte, sah zum Beispiel später Ethan Iverson (Pianist des Jazz mit Rock verbindenden Trios The Bad Plus) einen Fortschritt darin: Natürlich hätten all die großen Bebop-Innovatoren großartigen Rhythmus gehabt und sich den Arsch ab-swingen können. Aber die bedeutenden frühen Bebop-Aufnahmen würden im Allgemeinen nicht so ein großartiges Feeling aufweisen, wie die Kleingruppen- und Bigband-Aufnahmen, die zur gleichen Zeit von Musikern der Swing-Ära gemacht wurden. In den 1950er Jahren habe sich das erheblich verbessert. Der wahrscheinlich größte Faktor dabei sei Miles Davis gewesen, dessen Platte aus 1954 mit Percy Heath und Kenny Clarke (Walkin’ und Bags’ Groove) hervorragenden Groove ausstrahle. Davis habe erkannt, dass das die Antwort ist, und habe nie mehr zurückgeschaut. Er habe immer die swingendsten Bands aufgebaut und sich nach dem aktuellen Tanz umgesehen, bis zu seinem Lebensende. Allerdings hätten um 1954 auch viele andere Musiker darauf gesetzt, sich wieder mit der Swing-Ära zu verbinden. Hard-Bop sei der offensichtlichste Schritt in diese Richtung gewesen. Davis habe seine Bands in seiner Autobiographie detailliert besprochen und sich genau erinnert, warum Heath und Clarke, Philly Joe Jones und Paul Chambers sowie Ron Carter und Tony Williams so großartig waren. Diese Bass-Schlagzeug-Öfen hätten aber nicht nur ein großartiges Feeling erzeugt, sondern auch eine entscheidende Umgebung für das Juwel von Davis‘ Trompete bereitgestellt. Davis sei kein unverwüstlicher Spieler wie Coleman Hawkins oder Charlie Parker gewesen. Er habe nicht ohne Rückhalt durch eine entsprechende Band mit Trompeten-Virtuosität die Bühne beherrschen können. Seine Berühmtheit habe letztlich auf seiner einzigartigen, symbiotischen Beziehung zu den Öfen hinter ihm beruht. Dieser Sound, der sich aus der Verbindung einer stark swingenden Band und eines suchenden, verletzlichen Solisten ergab, komme direkt von Lester Young her. Young und Davis würden zwei Generationen der Diatonik im Jazz repräsentieren. Youngs berühmte Ballade sei These Foolish Things und Davis' seine My Funny Valentine. In den Aufführungen dieser Stücke hätten sie meistens die Es-Dur-Tonart verwendet. Diese gleichmäßige Ebene lasse chromatische Momente umso inniger erscheinen: Jede verminderte Sexte oder None steigere die Verzweiflung. Es sei nicht überraschend, dass Balladen bei einem diatonischen Zugang gut klingen, aber Young habe gewöhnlich auch den Blues auf diese Weise gespielt. Letzten Endes habe Davis ein wenig die Blues-Tonleiter verwendet, wenn er Blues spielte, aber sein berühmtestes frühes Blues-Solo, in Now’s the Time mit Parker, sei ganz diatonisch und in der Art von Young. Die ultimative Ausdruckform der gängigen Praxis des modernen Jazz in einer Dur-Tonart sei Davis’ Kind of Blue. Wenn man die richtige Tonart für jeden Abschnitt hat, dann würden die Trompeten-Soli dieses Albums kaum ein Vorzeichen enthalten. Gunther Schuller habe in seinem Buch The Swing Era mit einer bahnbrechenden Analyse gezeigt, dass Youngs Diatonik zur Modalität führte. (QUELLE: Ethan Iverson, Miles Davis and Lester Young, 16. Juli 2010, Iversons Internetseite Do the Math, Internet-Adresse : https://ethaniverson.com/rhythm-and-blues/miles-davis-and-lester-young/)
  37. Clark Terry (Trompeter aus Davis‘ Heimatstadt St. Louis und Vorbild von Davis in jungen Jahren): Charlie Parker habe Miles Davis’ Sound nicht gemocht und ihn daher immer gedrängt, den Dämpfer einzusetzen. (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 470)
  38. Die Mikrofon- und Verstärkertechnik wurde bereits ab Mitte der 1920er Jahre für den Gesang eingeführt und schon in den späten 1920er Jahren wurde das „Crooning“ der Sänger sowie das „Torch Singing“ der Sängerinnen entwickelt. (QUELLE: Martin Pfleiderer, Stimmen populärer Musik. Vokale Gestaltungsmittel und Aspekte der Rezeption, in: Rolf Bader [Hrsg.], Musikalische Akustik, Neurokognition und Musikpsychologie, 2009, S. 253) – Joachim-Ernst Berendt: Billie Holiday habe in den 1930er Jahren „als Erste die Möglichkeiten des Mikrofons für eine ganz neue, bis dahin unbekannt gewesene Verwendung und Behandlung der menschlichen Gesangsstimme erkannt […], ja man hat gesagt, dass der damals als neu und ‚revolutionär‘ empfundene Stil Billie Holidays in erster Linie in der ‚Mikrofonisierung‘ der Stimme – einer Gesangsweise, die ohne das Mikrofon nicht zu denken ist – bestand.“ (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 65) – Peter Niklas Wilson: Sonny Rollins (geboren 1930) habe seinen mächtigen Ton in einem Interview „auch darauf zurückgeführt, dass er sich in seinen frühen Jahren ohne Mikrofon gegen eine laute Band durchzusetzen hatte“. (Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, 1991, S. 72, Quellenangabe: Michael Jarrett, Sonny Rollins Interview, Zeitschrift Cadence, Juli 1990, S. 7)
  39. Joachim-Ernst Berendt: Gil Evans (Arrangeur und Freund von Miles Davis) habe gesagt, Davis habe als junger Trompeter in Charlie Parkers Band „mit fast überhaupt keinem Ton anfangen und von dort her einen entwickeln“ müssen. Berendt: Davis‘ Ton „scheint aus dem Nichts zu kommen und hört auf, ohne dass man merkt, wann, gleichsam im Nichts verschwindend. Und doch liegt – der Arrangeur Gil Evans hat darauf hingewiesen – eine manchmal schneidende Intensität in diesem scheinbar so verhaltenen und scheuen Klang, eine Stärke und Präsenz im Ausdruck, wie sie niemand anders auf dem harmon-mute, dem Dämpfer aus Aluminium, erreicht hat.“ (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 136 und 140) – Ian Carr: „Mit dieser Aufnahme [Oleo, am 29. Juni 1954] führte Miles einen absolut neuen Sound in den Jazz ein – den verstärkten Sound des metallischen Harmon-Dämpfers ohne Einsatzrohr. Der Dämpfer muss ganz dicht ans Mikrofon gehalten werden; der dadurch entstehende Sound ist im unteren Register voll und rauchig, im oberen dünn und durchdringend. Die beiden Register lassen sich auf äußerst dramatische Weise gegeneinander ausspielen, und dieser gedämpfte Sound ist wesentlich expressiver als etwa derjenige des blassen Cup-Dämpfers, den Miles Anfang dieses Jahr benutzt hatte. Mit dem Harmon-Dämpfer lassen sich die feinsten Gefühlsnuancen ausdrücken, und da sein Timbre rund und voll ist und sich sauber durch Zungenstoß abgrenzen lässt, ist er auch rhythmisch sehr eloquent.“ – „Dass die Musik des Quintetts bei einem breiteren Publikum ankam, lag vorwiegend daran, dass sein Repertoire zu einem guten Teil aus besseren Popsongs und bekannten Balladen bestand und dass Miles die Themen gewöhnlich mit seinem unverwechselbaren Harmon-Dämpfer spielte. Sein gedämpfter Sound wirkte mittlerweile ungemein beschwörend und ausdrucksvoll, wodurch die Musik des Quintetts geradezu in die Nähe der Vokalmusik rückte.“ (QUELLE: Ian Carr, Miles Davis. Eine kritische Biographie, 1985, S. 71 und 84)
  40. Steve Coleman: Miles Davis sei nie wirklich so etwas wie ein technischer Spieler gewesen, sondern immer eine Art Farben-Spieler, mehr wie Lester Young. (QUELLE: Johannes Völz, Improvisation, Correlation, and Vibration: An Interview with Steve Coleman, Anfang 2003, Internet-Adresse : http://m-base.com/interviews/improvisation-correlation-and-vibration-an-interview-with-steve-coleman/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  41. Peter Niklas Wilson: „Der kantable, der lyrische, der horchende, der atmosphärische Davis der Fünfziger ist es, der viele Hörer berührt ….“ In den 1960er Jahren habe Davis hingegen unter anderem seinen „Ambitus bis ins Extreme erweitert“ und „den poetischen Ton drastischeren Farbwerten geopfert“. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Miles Davis. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, 2001, S. 45)
  42. Peter Niklas Wilson: „Suchte man einen Beleg für die von David Baker vertretene These, Davis‘ Spiel der Sechziger zeichne sich insbesondere durch seine neuartige Dramatik aus, so liefert die […] My Funny Valentine-Improvisation [1964, live im Lincoln Center] ein probates Exempel. Denn dramatisch, ja theatralisch ist die Anlage dieses Solos in fast allen Aspekten: […] Dramatisch der Abschied von der eng umschriebenen Lyrik des Harmon-Sounds – stattdessen ein offener Trompetenton, der jäh zwischen Zartheit und blanker Aggression, zwischen Reinheit und Trübung durch Glissandi, Halbventileffekte und verwaschene Läufe changiert, ein Trompetenspiel, das in der Tat, wie Barker schreibt, ein Kompendium von Blechbläsereffekten geworden ist. (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Miles Davis. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, 2001, S. 67f.) – Ein Beispiel, das zeigt, wie Davis damals mit seiner Dramatik das Publikum bewegen konnte, ist das Stück Stella by Starlight des Albums My Funny Valentine (1964, Lincoln Center): An einer Stelle (1:53 Minuten/Sekunden) hört man einen Zuhörer mit einem langgezogenen Schrei auf Davis‘ dramatische Töne antworten.
  43. Cannonball Adderley über das Zusammenspiel mit Coltrane in der Band von Miles Davis: Coltrane habe einen „ganz leichten, melodischen Sound“ gehabt, während sein [Adderleys] Alt-Saxofon-Sound „immer vom Tenor-Saxofon beeinflusst“ und damit „eher schwer“ gewesen sei. Es sei deshalb manchmal schwierig gewesen festzustellen, „wann das eine Instrument aufhörte und das andere anfing.“ (QUELLE: Ashley Kahn, A Love Supreme, deutsch, 2005 [englischsprachige Originalausgabe 2002], S. 63)
  44. QUELLE: Gerd Filtgen/Michael Außerbauer, John Coltrane. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, 1989, S. 61
  45. Dave Liebman: „Der Blues, schwarze Clubs, R & B [Rhythm and Blues] – das ist die Ecke, aus der Coltrane kommt.“ – Brandford Marsalis: „Die Sache mit Coltranes späteren Arbeiten für Impulse ist die, dass du diese Stücke einfach nicht spielen kannst, wenn du nicht sehr viel Ahnung vom Blues hast. Und ich rede nicht vom 12-Takte-Blues, sondern ich meine alles, wofür der Blues steht, das ganze Zeug, das damit verbunden ist, in einem schwarzen Viertel aufzuwachsen und zu leben.“ (QUELLE: Ashley Kahn, A Love Supreme, deutsch, 2005 [englischsprachige Originalausgabe 2002], S. 40)
  46. afro-amerikanische
  47. QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 234
  48. aufgenommen 26. Mai 1965, mit Roy Haynes
  49. Wynton Marsalis über Coltrane: „Er ist so warm, so spirituell, so leidenschaftlich. Seine Musik ist poetisch und wunderschön, singend und schwebend und mitten in diesem Sound ist diese Ernsthaftigkeit. Wenn du das hörst, dann siehst du die Welt mit anderen Augen.“ (QUELLE: Film Jazz von Ken Burns, Episode 12, Abschnitt John Coltrane, englischsprachige Originalausgabe 2001)
  50. QUELLE: Ashley Kahn, A Love Supreme, deutsch, 2005 (englischsprachige Originalausgabe 2002), S. 142
  51. Saxofonist Frank Foster: Coltranes 1965 aufgenommenes Album Ascension sei ein Wendepunkt gewesen. Danach hätten sich viele Musiker, die davor begeisterte Anhänger Coltranes waren, von ihm abgewandt. Er (Foster) habe Coltranes späte Musik zwar extrem gefunden, aber sich gedacht, dass Coltrane experimentiert und versucht, mit dem Saxofon etwas anderes zu erreichen – sich selbst spirituell zu finden. (QUELLE: Ashley Kahn, A Love Supreme, deutsch, 2005 [englischsprachige Originalausgabe 2002], S. 226)
  52. Mehr zu den musikalischen Aspekten von Coltranes Entwicklung der letzten Jahre später im Artikel Unsichtbare Formen
  53. Steve Coleman tendierte im Verhältnis zur Free-Jazz-Bewegung stilistisch in die Gegenrichtung (siehe zum Beispiel seine folgenden Aussagen: Link). Nach seiner Interpretation war die Loft-Szene sehr locker. Sie sei sehr von den Entwicklungen in den 1960er Jahren hergekommen, die die Musiker einfach in verschiedene Richtungen weitergeführt hätten. Einige Musiker hätten wirklich gewusst, was sie machen, und wirklich an ihrer Musik gearbeitet. Andere seien mehr oder weniger nur dabei gewesen. Es sei eine sehr experimentelle Musik gewesen. (QUELLE: von Ted Panken geleitetes Interview, wahrscheinlich 1999, Internetseite von Ted Panken, Internet-Adresse: http://tedpanken.wordpress.com/2011/12/27/sam-rivers-1923-2011-r-i-p-a-downbeat-article-from-1999-and-interviews/, eigene Übersetzung) Im selben Interview wies Steve Coleman im Zusammenhang mit der Musik von Sam Rivers, den er sehr schätzt, jedoch darauf hin, dass Musiker der Loft-Szene, in der Rivers eine wesentliche Rolle spielte, oft eine „Menge roher Energie“ hatten und dass diese Energie, wenn sie richtig kanalisiert wird, „mörderisch“ sein kann. Viele junge Musiker der Gegenwart hätten diese Energie nicht oder nur in einer fabrizierten Form. Näheres: Link
  54. Der Schlagzeuger Sunny Murray entwickelte um 1960 zur Begleitung des Free-Jazz-Pianisten Cecil Taylor eine Spielweise, wegen der er als „Befreier“ des Schlagzeugs bezeichnet wurde. Zu seinen damaligen Innovationen sagte er Jahrzehnte später jedoch: Er habe mit der Entwicklung der New Music einen Fehler gemacht, sei froh, dass sie nicht erfolgreich wurde, und wünsche ihr Verschwinden. Jeder könne ein „Free”-Drummer sein, selbst ein dressierter Affe. (QUELLE: Artikel Liberator of the Drums, Zeitschrift Jazz Zeit, Heft Nr. 57, 2004) Der Saxofonist David Murray wurde in den 1970er Jahren als Mitwirkender der damaligen Loft-Szene bekannt und spielte unter anderem auch mit Sunny Murray. Im Jahr 2006 oder 2007 sagte er: „Dass Avantgarde in jenen Tagen [in den 1960er und 1970er Jahren] zu einem Synonym für das Experimentelle und oft eben Nicht-Gelungene wurde, ist ein Problem, das bis heute wirkt. Statt mit wirklich guter Musik wurde das Publikum von einer selbst ernannten Avantgarde oft genug mit eher bemitleidenswerten Tongebilden abgespeist. Ich kenne heute viele Bands, die immer noch so operieren, leider. Wenn ich das rieche, gehe ich lieber an die Bar oder in den nächsten HipHop-Laden, um mich nicht zu langweilen.“ (QUELLE: Christian Broecking, Jeder Ton eine Rettungsstation, 2007, S. 28)
  55. Miles Davis in einem Interview für die Zeitschrift DownBeat: „Hey, sprechen wir von einem Nachteil, hör mal zu: der Synthie-Sound für Trompete ist ein weißer Trompetensound: nicht meiner, nicht Louis‘ oder Dizzys Sound – ein weißer Sound. Das ist es! Und die einzige Möglichkeit, wie er genutzt werden kann, ist mit meiner Trompete darüber zu spielen: man muss diese beiden Sounds verbinden. Noch besser wäre es, wenn man die Auswahl zwischen einem weißen und einem schwarzen Sound haben würde!“ (QUELLE: Peter Weißmüller, Miles Davis. Sein Leben, Seine Musik, Seine Schallplatten, 1988, S. 73)
  56. QUELLE: Ekkehard Jost, Jazzmusiker, 1982, S. 221f.
  57. Hamiet Bluiett über das World Saxophone Quartet: „Wir waren neu. Eine Workingband ohne Rhythmus-Gruppe, so etwas kannte man bestenfalls aus einmaligen Studio-Projekten. Doch wir waren sichtbar, ständig auf Tour. Wir spielten vor Rock-Bands, Bigbands, Symphonie-Orchestern, wir waren wirklich präsent und wir begannen ausschließlich akustisch zu spielen, und zwar als Fusion-Rock seinen Höhepunkt hatte. Das klang für viele unglaublich. Sonny Rollins warf sein Pick-up-Mikrofon weg, Phil Woods ließ die Verstärker von der Bühne räumen, nachdem sie uns gehört hatten. Sie wollten wieder einen richtigen Sound und die Macht über die Musik zurück, die mit der Entwicklung der Bühnen- und Instrumenten-Technologie zunehmend an die Sound-Leute verlorengegangen war.“ (QUELLE: Christian Broecking, PODCAST FOLGE 142, Internetseite der Zeitschrift JazzThing, 4. Jänner 2012, Internet-Adresse : http://www.jazzthing.de/new-media/podcast/folge-142/)
  58. Podiumsdiskussion zum Thema Jazz And Race: Black, White, And Beyond am 30. März 2001, veranstaltet von der San Franciso Jazz Organization, Internet-Adresse einer Niederschrift der Diskussion : http://web.archive.org/web/20030825173422/http://jazztimes.com/race_jazz1.cfm
  59. Mehr dazu an folgender Stelle im Artikel Steve Colemans tonale Strukturen: Link
  60. QUELLE: Teil 2 der Niederschrift der Podiumsdiskussion zum Thema Jazz And Race: Black, White, And Beyond am 30. März 2001, veranstaltet von der San Franciso Jazz Organization, Internet-Adresse: http://web.archive.org/web/20030627035455/http://jazztimes.com/race_jazz2.cfm, eigene Übersetzung
  61. QUELLE: siehe Fußnote an der bereits erwähnten, folgenden Stelle im Artikel Steve Colemans tonale Strukturen: Link
  62. Nur seine Alben aus den Jahren 1986 bis 1989 haben einen ausgeprägten „elektrischen“ Funky-Sound. Anfang der 1990er Jahre gab es noch zum Teil Keyboard, E-Gitarre und E-Bass in seiner Musik, danach nur mehr zeitweise E-Bass und E-Gitarre mit traditionellem schlankem Jazz-Gitarren-Sound.
  63. Steve Coleman im März 2008: Seine derzeitige Band funktioniere ausgezeichnet. Es sei eine der besten Bands, die er je hatte. Meistens gebe es eine oder zwei Personen, die nicht ganz hineinfinden, aber das sei im Moment nicht der Fall. Meistens bestünden diese perfekten Bands nicht lange. (QUELLE: Anil Prasad, Digging deep, 2008, Interview, Internet-Adresse : http://www.innerviews.org/inner/coleman.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link) Colemans reguläre Band (Steve Coleman and Five Elements) bestand damals aus ihm (Alt-Saxofon), Jonathan Finlayson (Trompete), Tim Albright (Posaune), Jen Shyu (Gesang), Thomas Morgan (Bass), Tyshawn Sorey (Schlagzeug).
  64. sieht man von Bands ab, die aus Saiten-Instrumenten zusammengesetzt waren, wie die von Django Reinhardt
  65. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 386
  66. John Coltrane: „Nehmen sie zum Beispiel Art Tatum. Als ich heranwuchs, hörten die Musiker, mit denen ich zu tun hatte, Bud Powell und also hörte ich auch nicht allzu viel von Tatum. Das heißt, bis zu jenem Abend, als ich ihn zufälligerweise in Cleveland traf. Da waren Art und Slam Stewart [Bassist] und Oscar Peterson [Pianist] und Ray Brown [Bassist] bei einer privaten Session in der Wohnung irgendeiner Lady. Sie spielten von 2:30 Uhr in der Nacht bis 8:30 Uhr – sie spielten einfach, wonach ihnen gerade war. Ich habe niemals so viel Musik gehört.“ (QUELLEN: John Coltrane/Don DeMicheal, „Coltrane on Coltrane“, in: Chris DeVito, Coltrane on Coltrane, 2010, S. 67; Coltrane on Coltrane, Zeitschrift Down Beat, 29. September 1960, Internet-Adresse : http://www.danmillerjazz.com/studentresources/coltrane_on_coltrane.pdf; Übersetzung aus: Mark Lehmstedt, Art Tatum, 2009, S. 252)
  67. nicht elektrischen
  68. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 386
  69. anfangs vor allem Jelly Roll Morton
  70. Gruppen, in denen etwa eine Gitarre oder ein Vibraphon im Vordergrund stehen
  71. Natürlich spielt vor allem auch der harmonische Aspekt als Akkord-Instrument eine wesentliche Rolle, aber in dieser Hinsicht sind die Unterschiede zur europäischen „Klassik“ weniger gravierend.
  72. Auf dem Saxofon ist das viel schwieriger. Saxofonist Wayne Shorter über John Coltrane: „Für mich klang er irgendwie wie Charlie Parker. Beide spielten das Saxofon, als wäre es gar kein Saxofon. Sie spielten in einer fließenden, mäandernden Art, wie man sie nur von Pianisten oder Geigern kannte. Die Leichtigkeit war nur durch stundenlanges Üben zu erreichen. Um so auf Touren zu kommen, brauchte man auch Muskeln, eine perfekte Körperbeherrschung.“ (QUELLE: Film The World According To John Coltrane, Robert Palmer, Toby Byron, 1990)
  73. Mehr dazu: Link
  74. Pianist Al Haig: Bud Powells Spiel sei „komplett perfekt und hoch stilisiert in diesem Idiom“ gewesen. Er habe manchmal „Bird“ (Charlie Parker) „ausge-bird-et“ und Dizzy Gillespie „ausge-dizzy-t“. Er habe sie manchmal alle ausgestochen, obwohl er ein perkussives Instrument spielte, „nicht ein Front-Instrument“. (QUELLE: Ira Gitler, Swing To Bop. An Oral History Of The Transition In Jazz In The 1940s, 1985, S. 102, eigene Übersetzung)

 

 

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