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JAZZ EINSTIEG – 4. von Popsongs
zu Jazz
Im Vergleich zu den Songs der Pop-Charts ist Jazz zu
kompliziert.1)
Abseits der Charts gibt es jedoch viele Songs, die durchaus eine Brücke zum
Jazz bilden können. Gefühl für Melodie ist wichtig für die Musik der
Jazz-Meister.
Mir öffnete folgende Musik aus Brasilien den Zugang zum Jazz.
HÖRBEISTPIEL: Antônio Carlos Jobim/João Gilberto/Stan Getz:
Desafinado (1963)
Auch eine interessante Songmelodie muss einprägsam sein. Sie darf also nicht
zu kompliziert sein, nicht zu lang und sie muss wiederholt werden. Wird sie
aber ununterbrochen wiederholt, dann wird es eintönig. Zwischen die
Wiederholungen wird daher oft zur Abwechslung ein instrumentaler Teil
eingeschoben.
So enthalten die brasilianischen Songs, die mich begeisterten, längere Soli
eines amerikanischen Jazz-Saxofonisten. Zunächst beachtete ich die Soli kaum,
sondern wartete, bis der Gesang zurückkommt. Aber durch das häufige Hören der
Songs nistete sich dieses Saxofonspiel allmählich in mein Gefühl ein und ich
begann hinzuhören. Dadurch wurde mir ein wenig die Art vertraut, wie im Jazz
Melodien abgewandelt und fortgesponnen werden.
HÖRBEISTPIEL: Antônio Carlos Jobim/João Gilberto/Stan Getz:
Desafinado (1963)
Der Jazz ist eine größtenteils instrumentale Musik. Doch ist Jazz-Gesang
relativ beliebt, da er einen Übergang von anspruchsvolleren Popsongs zum Jazz
bildet. Vieles, was als Jazz-Gesang bezeichnet wird, hat allerdings wenig mit
echtem Jazz zu tun. Im folgenden Beispiel wird ein Jazz-Song mit wirklich
jazziger Ausdruckskraft interpretiert. Nach der Songmelodie improvisiert die
Sängerin scharf und funky mit so genanntem Scat-Gesang.
HÖRBEISTPIEL: Dee Dee Bridgewater: Song For My Father (1994)
Besonders verfeinert ist der Gesang von Betty Carter. Sie hatte einen
eigenwilligen, cleveren Stil mit vielfältigem Ausdruck und konnte brillant
improvisieren. In folgender Aufnahme verwandelt sie den Song in eine
dramatische Geschichte mit feinem Humor.
HÖRBEISTPIEL: Betty Carter: Spring Can Really Hang You Up The Most (1979)
Betty Carter kam aus einer Zeit, in der auch der instrumentale Jazz oft an
populäre Songs anknüpfte. Die Meister hatten eine Menge Songmelodien im Kopf,
über die sie improvisieren konnten. Zum Beispiel war lange Zeit folgender
Musical-Song verbreitet. Seine Melodie ist hübsch, die damals übliche Art,
solche Songs darzubieten, aber extrem schmalzig.
HÖRBEISTPIEL: Vaughn Monroe: The Most Beautiful Girl In The World
Aus diesem Song entwickelte der Saxofonist Sonny Rollins kunstvolle,
super-intelligente, hinreißende Melodien.
HÖRBEISTPIEL: Sonny Rollins: The Most Beautiful Girl In The World (1956)
Wie eng diese Improvisationskunst ursprünglich mit Songs verbunden war, zeigt
sich, wenn man in der Jazz-Geschichte noch ein Stück weiter zurückgeht. Zum
Beispiel ist in folgender Aufnahme zu hören, wie der Saxofonist Lester Young
den Gesang von Billie Holiday umspielt – ein Obligato spielt, wie im Jazz
gesagt wird. Das einfühlsam und ideenreich zu machen, ist eine Kunst für sich.2)
Billie Holiday und Lester Young harmonierten glänzend. Die Aufnahmequalität
war damals allerdings noch schlecht.
HÖRBEISTPIEL: Billie Holiday: A Sailboat In The Moonlight (1937)
Ein beliebter Song aus alter Zeit war auch folgender, der wieder in der
typischen schmalzigen Art der damaligen Zeit wiedergegeben wird.
HÖRBEISTPIEL: Bing Crosby: My Melancholy Baby (1938)
Die Melodie dieses Songs ist wiederum hübsch und in folgender Interpretation
der Jazz-Sängerin Ella Fitzgerald klingt der Song schon wesentlich flotter. Es
ist dem Jazz und anderen afro-amerikanischen Musikarten zu verdanken, dass die schmalzige Art in der populären Musik
weitgehend verdrängt wurde.
HÖRBEISTPIEL: Ella Fitzgerald/Teddy Wilson: My Melancholy Baby (1936)
Diese Songmelodie spielt der Saxofonist Charlie Parker in folgender Aufnahme
und er umspielt die Melodie zugleich auch – so, als würde er seinen eigenen
Vortrag mit einem Obligato umranken.3)
Wie Charlie Parker das macht, ist unübertreffliche Meisterschaft, aber auch
anspruchsvoll für Hörer.
HÖRBEISTPIEL: Charlie Parker/Dizzy Gillespie: My Melancholy Baby (1950)
Nach dieser komplizierten Sache in rauer Aufnahmequalität klingt folgender
Popsong, interpretiert vom Trompeter Miles Davis, gemütlich.
HÖRBEISTPIEL: Miles Davis: All of You (1956)
Miles Davis war als Mitglied der Charlie-Parker-Band bekannt geworden. Mit
seiner eigenen Band vereinfachte er die Musik dann ein wenig und verlieh ihr
ein feines, eingängiges Flair. Damit wurde er in den 1950er Jahren zum
Jazz-Star.
Nun zum Abschluss noch eine moderne Version einer weiteren romantischen
Songmelodie aus alten Zeiten, gespielt vom Saxofonisten Greg Osby. Er
orientiert sich an der Kunst der alten Meister, die mit ihrer instrumentalen
Stimme und ihren Melodien berührten.4)
HÖRBEISTPIEL: Greg Osby: Tenderly (1997)
Alle Video-Texte
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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt
werden.
- In den 1930er, 40er und 50er Jahren war der Jazz noch
eng mit Popmusik verbunden. Jazz-Musiker improvisierten oft auf der
Grundlage populärer Songs. Dann entfernte sich der Jazz davon – zum Teil
auch, weil sich die Popmusik veränderte. Vor ein paar Jahren wurde der
Jazz-Saxofonist Greg Osby in einem Interview dazu gefragt und er sagte:
Die früheren Popsongs hatten viele Akkordwechsel, so genannte Bridges,
harmonische Entwicklungen und so weiter, was das Improvisieren darüber
interessant machte. Mit dem Auftauchen des Rock sei die populäre Musik
in den 1960er Jahren auf wenige Akkorde mit viel Schreien, Brüllen und
Gitarren-Sounds reduziert worden und in letzter Zeit sei das mit der
Elektronik noch schlimmer geworden. Früher fanden Leute zum Jazz, indem
sie im Jazz-Spiel einen populären Song erkannten. Das sei nicht mehr
möglich, weil heutige Songs musikalisch einfach zu wenig bieten, um
darüber spielen zu können. Das habe den Jazz zu einer Außenseitermusik
gemacht. (Quelle: Lloyd N. Peterson jr., Greg Osby: A Candid
Conversation, 27. Jänner 2010, Internet-Adresse:
http://www.allaboutjazz.com/php/article.php?id=34127&page=1)
- Steve Coleman: Als er mit Abbey Lincoln spielte, war
das Wichtigste ihr zuzuhören – zu hören, wie sie phrasiert. Die Stimme
sei immer noch das natürlichste Instrument. Er habe da die Kunst
gelernt, ein Obligato zu spielen. Das sei nichts Einfaches und es
funktioniere nicht bei allen SängerInnen auf dieselbe Weise, denn sie
phrasieren unterschiedlich. Man kommuniziere beim Obligato mit ihnen,
kommentiere und ergänze ihren Gesang, ähnlich wie beim Comping, aber mit
Melodie anstelle von Akkorden. Dabei werde alles, was man macht, von
ihrem Gesang geleitet. Die beste Art das zu lernen, sei natürlich, denen
zuzuhören, die darin die großen Meister waren. […] Nach einiger Zeit,
werden deine Ohren besser und man beginne kleine Dinge zu bemerken, zum
Beispiel das Vibrato von jemandem und wo das Vibrato platziert wird.
Wenn man sich Charlie Parker anhört, stelle man fest, dass er
verschiedene Vibratos verwendete. Das Vibrato zu Beginn einer Note sei
ein anderes als das am Ende der Note. Es habe in der damaligen Ära eine
bestimmte Art gegeben, eine Note auslaufen zu lassen. Sie verwendeten
verschiedene Vibratos: ein Lippen-Vibrato, ein Zwerchfell-Vibrato oder
eine Kombination der beiden. Bei der Kombination konnte es auf die
Proportion der beiden Anteile ankommen. Das seien winzige Details, die
aber entscheidend dafür waren, wie diese Musiker klangen. Sie hatten das
internalisiert und so war es einfach normal. Dann finde man heraus, dass
die SängerInnen dasselbe machen. Als er mit Abbey Lincoln spielte, habe
er festgestellt, dass ihre Art, ein Vibrato einzusetzen, dieselbe war
wie die des Saxofonisten Von Freeman, nur eben mit der Stimme. Und dann
höre man sich alte Aufnahmen an und stelle fest, dass dieselbe Sache
bereits Louis Armstrong machte. So entdecke man diese winzigen Dinge,
die einen wirklich großen Unterschied ergeben. (Quelle: von der
Entertainment-Firme Gail W. Boyd in der Reihe Alternative Venues for
Jazz am 8. Dezember 2020 auf Facebook veröffentlichter
Video-Vortrag von Steve Coleman)
- Steve Coleman: Louis Armstrong sei ein melodisches
Genie gewesen. Er habe einfach alles fühlen und hören können und
gespürt, wie man die richtige Sache im richtigen Moment spielt. Es gebe
Aufnahmen, wo er mit Ella Fitzgerald singt. Sie singe die Melodie und er
singe dazu all dieses verrückte harmonische Zeug. Er fühlte einfach, wo
es sein soll, und er machte das auf der Stelle. Das war damals wirklich
live. Damals gab es nicht so etwas wie Overdub. Charlie Parker habe
dieselbe Art von Gespür gehabt. Er [Steve Coleman] empfehle jedem, sich
diese Melancholy-Baby-Aufnahme anzuhören, an der Charlie Parker, Dizzy
Gillespie, Thelonious Monk am Klavier, Buddy Rich am Schlagzeug und
Curly Russell am Bass mitwirkten. Die sei großartig, denn wie Charlie
Parker die Melodie spielt und auch zwischen der Melodie, sei, als würde
er zu sich selbst Obligatos spielen – als wäre er der Sänger und
zugleich auch die Person, die den Sänger ergänzt. In seinen Augen sei
das der Schlüssel zu Charlie Parkers Spiel, den es nicht bei einer Menge
anderer Musiker gebe, die Parker kopieren, sondern – die einfach so
etwas wie Patterns oder Licks spielen. Charlie Parker spiele die Melodie
und dann mache er diese Frage-und-Antwort-Sache zu seiner eigenen
Melodie. Die Leute kopieren hingegen die Linien und dächten, dass das
Licks und so weiter wären. In Wahrheit sind das Ergänzungen zu dem, was
in der Melodie geschieht. Man müsse genau hinhören, wie er in die
Melodie hineingeht und aus ihr heraus. Die große Sache sei dabei das
Timing, der Rhythmus. Charlie Parker sei einfach ein unglaublich
rhythmischer Saxofonist gewesen und er habe auch so komponiert. Seine
Songs hätten das gehabt, was er [Steve Coleman] als „rhythmische
Signatur“ [englisch „Taktangabe“: time signature] bezeichne. Wenn man
sich zum Beispiel seinen Song Moose the Mooche ansehe: Den könne man
selbst dann erkennen, wenn man die Tonhöhen weglässt [also allein an der
rhythmischen Struktur der Songmelodie]. Das klinge wie bei einem
Stepptänzer. Es habe ein gewisses Feeling. So komponiere nicht jeder –
wo man den Song selbst dann erkennt, wenn man die Noten weglässt. Und
Charlie Parker habe auch so gespielt [improvisiert]. (Quelle: von der
Entertainment-Firme Gail W. Boyd in der Reihe Alternative Venues for
Jazz am 8. Dezember 2020 auf Facebook veröffentlichter
Video-Vortrag von Steve Coleman)
- Greg Osby erwähnte zum Beispiel in einem späteren
Interview, er höre vor allem Aufnahmen von Don Byas, Herbie Nichols, Ben
Webster, dessen Vibrato er studiere, Paul Gonsalves und so weiter.
(Quelle: Fred Jung, My Conversation with Greg Osby, Jänner 1999,
Internet-Adresse:
http://www.gregosby.com/interviews1_cont.html)
Kontakt / Offenlegung