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JAZZ SPIRIT – 14. Lichtblick


           HÖRBEISPIEL: Azar Lawrence: Bridge Into The New Age (1974)

Bridge Into The New Age – eine Brücke in ein neues, besseres Zeitalter, davon konnte man in den 1970er Jahre noch ein wenig träumen. Allerdings sang schon damals Leon Thomas mit dramatischer Stimme: Mutter Natur stirbt. Was gedenken wir zu tun?

          HÖRBEISPIEL: Leon Thomas: What Are We Gonna Do? (1973)

Nun, ein halbes Jahrhundert später, sehen wir, was zu tun versäumt wurde. Die Natur ist allerdings keine Mutter, die stirbt, und ein globales „Wir“ scheint trotz aller Bedrohung eine Illusion zu sein, wie die Brücke in ein neues Zeitalter.

Die Musik von Bridge Into The New Age enthält jedoch eine hübsche rhythmische Erweiterung. Der beteiligte Schlagzeuger, Billy Hart, erklärte: Die Bebop-Ära der 1940er Jahre spiegelte den afro-kubanischen Einfluss wider und als er in den 1960er Jahren in die Musikszene kam, sei gerade Brasilien ins Spiel gekommen.1)

An Bridge Into The New Age ist ein brasilianischer Perkussionist beteiligt und die Rhythmusgruppe insgesamt verarbeitet auf jazzige Weise afro-brasilianische Rhythmik.

          HÖRBEISPIEL: Azar Lawrence: Bridge Into The New Age (1974)

Diese Rhythmen waren spannender als die Rock-Rhythmen, die damals auch auf dem Jazz-Markt modern waren, zusammen mit E-Gitarren und E-Pianos. Mit der afro-brasilianischen und afro-kubanischen Rhythmik stärkte der Jazz seine afrikanischen Wurzeln und bezog neue Impulse aus alter, wunderbar entwickelter Volkskultur – nicht aus einem Trend des Musikgeschäfts, auch nicht aus einer Avantgarde, die das Feeling ignoriert und darin einen künstlerischen Fortschritt sieht.

Reizvoll ist an Bridge Into The New Age auch das Trompeten-Solo von Woody Shaw.

          HÖRBEISPIEL: Azar Lawrence: Bridge Into The New Age (1974)

Woody Shaw war nach dem deutschen Jazz-Kritiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost ein rückwärtsgewandter Musiker, der den künstlerischen und politischen Fortschritt des Free-Jazz ignorierte.2) Aber einen solchen Fortschritt gibt es im Jazz genauso wenig wie eine Brücke in ein neues Zeitalter. Die Free-Jazz-Bewegung erweiterte das Jazz-Spektrum. Damit wurde aber nicht die Kunst, bestechende Melodien, Rhythmen und Harmonien zu bilden, wertlos. In Wahrheit war Woody Shaw der letzte große Innovator des Trompetenspiels. Darin sind sich Insider einig3) – entgegen der Ansicht des Jazz-Kritikers Ekkehard Jost, der einen Fortschritt im Sinn der europäischen Moderne und des Marxismus vor Augen hatte.

          HÖRBEISPIEL: Woody Shaw: Woody I: On The New Ark (1979)

Eine klassenlose Gesellschaft, ein goldenes Zeitalter, ein Paradies in einem Jenseits – aus solchen Vorstellungen schöpfen Menschen Hoffnung und Mut.

Duke Ellington bildete mit seiner folgenden Komposition die Gläubigkeit ab, die für viele Angehörige seines afro-amerikanischen Volkes große Bedeutung hatte. Er bat im Liedtext einen allmächtigen Gott der Liebe, seinem Volk beizustehen. Joe Williams sang dieses Lied mit bewegender, afro-amerikanischer Ausdruckskraft.

          HÖRBEISPIEL: Joe Williams and the Thad Jones/Mel Lewis Jazz Orchestra: Come Sunday (1966)

Wie konnten diese Leute bei all ihren schrecklichen Erfahrungen mit Sklaverei und Diskriminierung an einen Gott der Liebe glauben?! Aber gerade wegen ihrer schrecklichen Erfahrungen war das Bedürfnis nach dem gemeinschaftlichen Ritual des Gebets groß. Es verschaffte vorübergehend Geborgenheit in einer grausamen Welt – besonders, wenn Rhythmus und Gesang in einen entrückten Zustand versetzten.

          HÖRBEISPIEL: The Gospel At Colonus: Lift Him Up (1988)

Manche beteten zur allmächtigen christlichen Vaterfigur im Himmel, andere wollten mit dem Glauben der „weißen“ Herren nichts zu tun haben. In Kuba und Brasilien konnten Sklaven und ihre Nachfahren im Untergrund afrikanische Traditionen weiterführen. Daraus entwickelte sich zum Beispiel der kubanische Palo-Glaube, der seine Wurzeln im Kongo hat. Nach diesem Glauben kommt alles aus der Natur, aus der Materie, und mit dieser höchsten Macht kann man nicht verhandeln. Das deckt sich mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild. Doch wohnen nach dem Palo-Glauben allen Erscheinungen des Lebens Geister inne und auch die Geister der Vorfahren sind anwesend. Die Geister kann man für sich nutzbar machen und sie umgekehrt daran hindern, einem zu schaden. Mit den wilden, widerspenstigen Geistern tritt man vor allem mithilfe eines Heiligtums in Kontakt, das Gläubige bei sich zu Hause hüten – in Form eines Kessels gefüllt mit Teilen bestimmter Pflanzen, Tiere und bei Möglichkeit auch mit Knochen einer menschlichen Leiche. Das Heiligtum muss regelmäßig mit Tierblut genährt werden. Es ist eine makabre, verrückte Geisterwelt. Der christliche Reliquienkult und das Verzehren des Leibes und Blutes von Jesus Christus in Form von Wein und Hostien sind davon allerdings nicht weit entfernt und die Hexenverfolgungen und Glaubenskriege des Christentums waren viel grausamer als der Palo-Glaube, der aus der Welt der Sklaverei stammt. Die Musik dieser afro-kubanischen Tradition ist kraftvoll, hat Seele und differenzierte Trommel-Rhythmen.

          HÖRBEISPIEL: Grupo AfroCuba: Palo (Bantú) (1996)

Kluge, mutige Leute befreiten unseren Verstand Schritt für Schritt aus der Macht der Geister und Dämonen – christlicher, afrikanischer, welcher auch immer. Die Freiheit des Denkens und Erkennens musste den Diktatoren des Glaubens abgerungen werden, mit vielen, oft großen Opfern – von Galileo Galilei, der sein Leben nur retten konnte, indem er seiner Erkenntnis abschwor und sich mit lebenslänglichem Hausarrest abfand, bis zu den heutigen Kämpfen gegen Bevormundung und Manipulation. Die Strömung der Aufklärung wird im Englischen Enlightenment genannt, Erleuchtung. Licht wurde in eine düstere Welt gebracht.

Echter, starker Jazz hat seit jeher den aufgeschlossenen, urbanen, freiheitsliebenden Geist. Die Meister folgen ihrer kühnen Kreativität, klingen clever und hip.

          HÖRBEISPIEL: Woody Shaw: Little Red's Fantasy (1976)

Den freigeistigen Jazz-Musikern geht es aber nicht um reine Vernunft, nüchterne Erkenntnis, wie es sich die europäische Aufklärung vorstellte. Sie sind keine Naturwissenschaftler, sondern musikalische Geschichtenerzähler. Locker spielen sie mit Vorstellungen aus verschiedenen Kulturen der Erde.

          HÖRBEISPIEL: Craig Harris: Conjure Man (1983)

Die fortschrittlichen Ideen aus Europa brachten Afro-Amerikanern keine Erlösung. Die USA waren stolz auf ihre demokratische Verfassung und ließen dennoch Sklaverei zu und nach ihrer Aufhebung weiterhin brutale Unterdrückung und Ausbeutung. Selbst Gewerkschaften und sozialistische Organisationen verwiesen Afro-Amerikaner auf eine tiefere Stufe.4) Wissenschaftlich verbrämte Rassenlehren demütigten sie immer wieder. Noch in den 1990er Jahren wurde ein Buch zum Bestseller, das vorgab, mit einer psychologischen Studie zu beweisen, dass Afro-Amerikaner von Geburt aus dümmer wären.5) So werden oft wichtige Errungenschaften wie Wissenschaft, Demokratie und soziale Werte unterlaufen.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: The Damned Don't Cry (1961)

Persönliche Freiheit, gemeinschaftliche Entscheidung, gerechte Verteilung, Fürsorge füreinander, das sind keine Erfindungen Europas – der Aufklärung, des Sozialismus, des Christentums oder der griechischen Antike. Außerhalb der Herrschaftssysteme der so genannten Zivilisationen gab es manche Kulturen, die ihr Zusammenleben freier, gerechter und fürsorglicher gestalteten, als man es sich in Europa vorstellen konnte.6) Politischen Bewegungen Europas gelang es, solche Werte ein wenig in staatlichen Systemen durchzusetzen, in Form demokratischer und sozialer Einrichtungen. Politische Bewegungen führten aber auch in unheilvolle Richtungen – zu Krieg, Massenhinrichtung, Völkermord, Deportation. Kein politisches oder religiöses Konzept kann ausschließen, dass selbst in seinem eigenen Namen die schlimmsten Verbrechen begangen werden. Nicht einmal das christliche Gebot der Nächstenliebe konnte verhindern, dass das Christentum selbst oft mit äußerster Brutalität vorging, herrschte und missbrauchte.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: The Damned Don't Cry (1961)

Europäische Musik schmückte oft Herrschaft – von der alten Kirchenmusik, die die Herrlichkeit himmlischer Heerscharen pries, über all die pathetische Konzertmusik zum Wohlgefallen von Fürsten und Adel bis zu volkstümlichen Märschen mit Fahne und Gleichschritt. Die Jazz-Meister hingegen waren Herrschern stets ein Dorn im Auge, mit ihrem sehr persönlichen, spontanen Ausdruck, ihrer Lebendigkeit und Lässigkeit.

          HÖRBEISPIEL: Von Freeman: Brother George (1972)

In Bangladesch und im angrenzenden Indien besteht eine Jahrhunderte alte Tradition von Sängern, die Baul genannt werden, „die Verrückten“. Sie haben einen religiösen Hintergrund, hauptsächlich Hinduismus und Sufismus. Ihr Weltbild ist daher von göttlichen Figuren bevölkert. Aber sie widersetzen sich jeder Form von religiöser Vorschrift, lieben die Freiheit des Geistes und spüren der göttlichen Lebenskraft in sich selbst nach. Sie suchen den „seltenen, unbekannten Vogel, der nicht eingefangen werden kann, aber manchmal mit uns singt und uns zu Menschen des Herzens macht“. Sie ziehen ungebunden umher oder leben mit kleinen Familien abseits der Siedlungen. Wo immer sie hinkommen, bannen und erfreuen sie die Zuhörer mit ihrem leidenschaftlichen Gesang.7)

          HÖRBEISPIEL: Gour Khepa: You were unable to keep the love-water ... (1978/1979)

Ich höre den Vogel, der das Herz zum Klingen bringt, oft in Charlie Parkers Musik. Bird, Vogel, war sein Spitzname und sein Spiel ist beflügelnd, erhebend, wie der Flug eines Königs der Lüfte. Woher hatte Charlie Parker diesen Spirit, dieses Licht in seiner Musik? Seine Lebensverhältnisse waren düster. Ausweglos schlitterte er in den Abgrund und starb mit 34 Jahren. Er war nicht gläubig und hätte bei seinem Lebenswandel auch nichts als Verdammnis zu erwarten gehabt. Für einen Lichtblick braucht es also nicht unbedingt eine positive Zukunftsperspektive. Sonst hätte Charlie Parker nie so klingen können.8)

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Marmaduke (1948)

 

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  1. Quelle: Link
  2. Quelle: Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, 2003, S. 284f.
  3. Steve Coleman auf seiner Instagram-Seite im Jahr 2022: Woody Shaw „inspired me and countless others (not just trumpet players). Woody is quite possibly the last great spontaneous composition innovator on trumpet.” Nach dem Autor Martin Kunzler betrachteten Musiker-Kollegen Woody Shaw als „den letzten großen Stilbildner seines Instruments“. So habe Miles Davis gesagt: „Jetzt gibt es endlich einen großartigen Trompeter. Er spielt anders als alle anderen.“ Dizzy Gillespie habe ihn eine Stimme der Zukunft und der Gegenwart genannt. Woody Shaw habe etwas, das anders ist, habe etwas anderes zu bieten. Randy Brecker: „Ich würde ihn noch immer als letzten in einer Linie von Trompetern bezeichnen, die wirklich etwas Neues in den Trompeten-Jazz eingebracht haben. […] Er erfand wirklich eine neue Sprache auf der Trompete.“ (Quelle: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 1205)
  4. Quellen (unter anderen): James Gilbert Cassedy, African Americans and the American Labor Movement, Zeitschrift Prologue, Internet-Adresse: https://www.archives.gov/publications/prologue/1997/summer/american-labor-movement.html; Wikipedia-Artikel African-American socialism, Internet-Adresse: https://en.wikipedia.org/wiki/African-American_socialism
  5. Näheres: Link
  6. Quelle: David Graeber/David Wengrow: Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit, 2022
  7. Quelle: 1. Georges Luneau, Begleittext zum Album Bengale. Chants des „fous“ der Schallplattenreihe LE CHANT DU MONDE, 1979; 2. Dokumentarfilm Le chant de fous von Georges Luneau aus 1979, YouTube-Video: https://www.youtube.com/watch?v=zKH5oUjO1Pw&ab_channel=GeorgesLuneau; 3. Wikipedia-Artikel https://en.wikipedia.org/wiki/Baul
  8. Wie immer sich Charlie Parkers Heroin-Konsum ausgewirkt haben mag: John Coltrane, Sonny Rollins und Miles Davis blühten musikalisch und persönlich erst richtig auf, nachdem sie ihre Heroinsucht überwunden hatten.

 

 

 

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