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JAZZ SPIRIT – 15. Spiel und Realität


Steve Coleman lud einen Musiker zu Aufnahmen in ein Studio ein, zusätzlich zu seiner regulären Band. Der Musiker fragte ihn nach Noten, um sich vorbereiten zu können, doch die gab es nicht – auch nicht, als er ins Studio kam. Er war irritiert, als er sah, dass Steve Coleman im Studio auf dem Boden chinesische Münzen aufwarf, um das I-Ching-Orakel zu befragen. Das Orakel ergab verschiedene Yin-Yang-Konstellationen. Daraus bildete er Grundstrukturen für die Musik, die sie anschließend spielten und aufnahmen. Seine Bandkollegen waren schon gewohnt, dass er solche verrückten Sachen macht, sagte Steve Coleman.1)

Damit habe er aber nur eine Art Plan mit Straßen entworfen, auf denen sie sich dann bewegen konnten. Das Spielen der Musik, der tatsächliche Sound, die Gestaltung der Rhythmen und Melodien, das sei eine ganz andere Sache. Für die Mitspieler und erst recht für das Publikum sei es belanglos, wie er sich für die Wahl der Straßen inspirieren lässt.2)

Musik hat eine abstrakte, technische, mathematische Seite, berührt jedoch intuitiv, emotional. Theoretische Konzepte, auch Weltanschauungen, sind eine Sache, wie man sich fühlt und tatsächlich verhält, eine andere.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Eight Base Probing (2002)

Die Magie von Steve Colemans Rhythmik ergibt sich aus Folgendem: Mehrere Rhythmen sind ineinander verflochten. Sie haben einen gemeinsamen Puls oder Beat, sind aber unterschiedlich lang und wiederholen sich daher unterschiedlich schnell.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Wheel of Nature (1997)

Diese Zyklen verglich Steve Coleman mit den Umlaufbahnen der Planeten, die unterschiedlich lange brauchen, um die Sonne zu umkreisen.3)

Die ungleich langen Rhythmen verschieben sich ständig gegeneinander. So verändert sich das rhythmische Geflecht laufend, aber nicht beliebig, sondern mit einer raffinierten Systematik. Wie die unterschiedlich großen Zahnräder eines Uhrwerks greifen die Rhythmen ineinander. Das Ganze ist so geschickt und lebendig gestaltet, dass es trotz Komplexität Groove erzeugt.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Wheel of Nature (2001)

Dass die Erde einer von mehreren Planeten ist, die um die Sonne kreisen, ist für uns heute selbstverständlich. Ursprünglich stand die Erde im Zentrum des Weltbildes, umkreist von Sonne, Mond und Sternen – als Heimat der Menschen, der Krone der Schöpfung, Ebenbild Gottes im Himmel darüber. Dieses Weltbild, eisern verteidigt von der Kirche, widerlegten die Wissenschaften.

Wir wurden nicht von einem überirdischen Wesen hervorgezaubert. Zuerst erzeugte unvorstellbare Energie Materie. Es formten sich Atome, Himmelskörper, Sonnensysteme, Galaxien. Unsere Welt als bewohnbarer Ort entstand.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: The Twelve Powers (1998)

Materie ergab Leben, indem sie komplexe Systeme bildet, aus ineinander verflochtenen Prozessen. Diese Systeme erscheinen als Lebewesen, wachsen, halten sich über längere Zeit in Gang, pflanzen sich fort und zerfallen wieder.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Embryo (1999)

Besonders komplexe Organismen produzieren eine weitere Ebene: die geistige Ebene der Gefühle und Gedanken, des Bewusstseins. Hier existieren wir als Person. Es ist eine flüchtige, imaginäre Ebene – wie eine Geschichte, wie ein Film, der abläuft, wie Musik. Kommen die Lebensfunktionen zum Stillstand, dann löst sich unsere Persönlichkeit in Luft auf.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Numerology (2005)

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse öffneten den Blick für eine Welt, die viel größer, komplexer und faszinierender ist, als die früheren Weltbilder annahmen. Die frühere Selbstgefälligkeit ist dahin: Wir stehen nicht im Mittelpunkt des Universums, leben nicht in einem Jenseits weiter und sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern ein Zweig der Evolution. Unser Denken und Handeln wird von Gefühlen angetrieben und die kommen aus einer Tiefe in uns, in die wir kaum Einblick haben. Mit technischem Fortschritt brachten wir uns weit voran, aber auch an den Rand einer globalen Katastrophe und selbst an diesem Punkt scheinen wir unserer emotionalen und gesellschaftlichen Dynamik nicht zu entkommen. Überall in der belebten Welt findet Lebenskampf statt. Staaten beziehen wirtschaftliche und militärische Überlegenheit aus Ausbeutung – von Menschen, Ressourcen, der Natur. Wer vor den Folgen zurückschreckt, droht zu unterliegen. Kampf ist Bestandteil des Lebens, ihn dauerhaft beilegen zu können, ist unwahrscheinlich.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman's Natal Eclipse: Horda (2016)

Viele sind relativ bescheiden, freundlich, fürsorglich, um friedliche Beziehungen bemüht. Doch werden die Lebensverhältnisse großteils von Gierigen, Geltungsbedürftigen, Machthungrigen bestimmt. Sie verführen, täuschen, schüren Angst und Hass, lenken den Ärger der Verlierer gegen Unschuldige und zu viele fallen auf ihr Spiel herein.

          HÖRBEISPIEL: Joe Williams and the Thad Jones/Mel Lewis Orchestra: Evil Man Blues (1966)

I'm an evil man, and don't you bother with me.
I'm an evil man, don't you bother with me.
'Cause I'll empty your pockets
and fill you with misery.
I'm hungry and I'm thirsty.
I got a great big appetite.
To keep me satisfied you got to feed me day and night.
I'm an evil man, I've never been called a saint
and there's a darn good reason baby,
'cause the good Lord knows that I ain't.
Ich bin ein übler Mann, gib dich nicht mit mir ab.
Ich bin ein übler Mann, gib dich nicht mit mir ab.
Denn ich werde deine Taschen leeren
und dich mit Elend erfüllen.
Ich bin hungrig und durstig.
Ich habe einen riesengroßen Appetit.
Um mich zufrieden zu stellen, musst du mich Tag und Nacht füttern.
Ich bin ein übler Mann, ich wurde nie ein Heiliger genannt
und es gibt einen verdammt guten Grund dafür, Baby,
denn der gute Gott weiß, dass ich es nicht bin.

Wir sind Teil der Gesellschaft, profitieren von ihr, leiden unter ihren Verirrungen und ihrer Rücksichtslosigkeit und sind an ihrem Unrecht selbst beteiligt. Auch kleinere Gemeinschaften durchdringen uns (private und berufliche) und ein Fehlen von Gemeinschaft tangiert uns ebenfalls tiefgreifend. Wir sind abhängige, verletzliche Wesen.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Circle Weaving Thirteen (2004/2005)

Bewusstsein erweitert – vor allem Bewusstsein dafür, wie sehr man von den Lebensumständen bestimmt wird, von Gefühlen und früheren Erfahrungen gelenkt wird, vieles nur ansatzweise begreift und selbst problematische Tendenzen in sich hat. Dieses Bewusstsein lässt einen mit sich und anderen besser umgehen, weniger Täuschungen erliegen, das Dasein realer und tiefgründiger erleben. Man findet Berührendes im Fremden, Schönheit zwischen Abgründen. Musik und Spirit der Jazz-Meisters können faszinieren, auch wenn manches an ihrem Verhalten, ihren Einstellungen, ihrer Lebensweise befremdet. Sie entwickelten sich unter ganz anderen Lebensbedingungen und kulturellen Einflüssen und dennoch kann ihr musikalischer Ausdruck tief bewegen.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: September In The Rain Nr.97 (1947)

Der innere Antrieb, der uns zu gierigen Wesen macht, muss nicht unbedingt auf materiellen Reichtum, Konsum und Macht gerichtet sein. Man kann auch begierig sein, Wissen zu erwerben, Fähigkeiten zu erlangen, Verständnis zu entwickeln, eine soziale Funktion zu erfüllen, ein Projekt zustande zu bringen. Den Antrieb auf solche Werte zu konzentrieren, hilft, die zerstörerische Macht der Gier in Schach zu halten. Eine Kultur mit Wertschätzung dafür ist förderlich, die Herrschaft Gieriger hingegen erschwert es.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Untitled Original 11386 (1963)

Die Jazz-Meister verschrieben sich ihrer Musik – als Form geistiger Entfaltung. Ihr Ringen um Ausdruckskraft, Brillanz, Raffinesse und Tiefgründigkeit verleiht ihrer Musik eine besondere Strahlkraft. Sie verkörpert eine schöne Form des inneren Antriebs – der Lebendigkeit.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Triad Mutations III (2004/2005)

Die menschliche Fähigkeit, viel mehr zu erkennen als andere Lebewesen, konfrontiert mit viel Beunruhigendem, vor allem auch mit der Tatsache, eines Tages sterben zu müssen. So versuchen Menschen seit jeher überall auf der Erde, dem Tod mit Fantasie seinen Schrecken zu nehmen, glauben an ein Jenseits, an Götter und Geister, die man gnädig stimmen kann, vermenschlichen Naturerscheinungen, um sie erklären und beeinflussen zu können. Nun lehnen aber auch schon lange viele Menschen jede Form von Glauben ab und kommen mit den bedrohlichen Seiten des Lebens nicht schlechter zurecht. Was auch immer man denkt, wenn man Leid ausgesetzt ist: Gedankliche Vorstellungen können zwar ein wenig ablenken, aber Leid nicht ausschalten. Elementare Bedürfnisse lassen sich damit nicht unterdrücken.

          HÖRBEISPIEL: Count Basie/Joe Williams: 5 O'Clock In The Morning (1959)

Die heutigen Kenntnisse über die menschlichen Verhältnisse und die Welt geben wenig Anlass, sich behaglich oder fröhlich zu fühlen. Dazu braucht es eine menschliche Sphäre, die sich von der Realität abkoppelt – Fantasie, Geselligkeit, Spiel. Geschickt zwischen spielerischem Lebensgefühl und Realitätssinn hin- und herzuwechseln, ist Lebenskunst, Fantasie mit Wirklichkeit zu verwechseln, hingegen eine Falle.

Musik kann wunderbar mit Gefühlen spielen und auch mit der Fähigkeit zu erkennen, was abläuft. Die Jazz-Meister kombinieren beides optimal. Sie fordern mit einem komplexen Geschehen heraus und belohnen mit großartiger Belebung – vor allem durch lustvolles Gefühl für Bewegungen. Das ist ein Erbe afro-amerikanischer Subkultur. Steve Coleman sagte, sein größter Einfluss sei, dass er in einem gänzlich „schwarzen“ Viertel von Chicago aufwuchs.4)

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Nfr (2017)

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Quelle: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 22: Tools and Vibe, Audio im Abschnitt 0:00:07 bis 0:01:02; veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://m-base.net
  2. Quelle: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 22: Tools and Vibe, Audio im Abschnitt 0:08:17 bis 0:12:15; veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://m-base.net
  3. Quelle: Link
  4. Steve Coleman: „My biggest influence is the fact that I grew up in an all-black neighborhood in Chicago.” (QUELLE: Fred Kaplan, After 30 Albums and 3 Recent Prizes, a Jazzman Flirts With the Mainstream, Internetseite der Zeitung The New York Times, 28. August 2016, Internet-Adresse: http://www.nytimes.com/2016/08/29/arts/music/steve-coleman-new-york-residency.html)

 

 

 

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