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JAZZ SPIRIT – 5. Soul


          HÖRBEISPIEL: Dee Dee Bridgewater: Oh My Love (2007; mit Oumou Sangaré)

Die Warmherzigkeit im Ausdruck dieser west-afrikanischen Sängerin Oumou Sangaré finde ich berührend. Sie ist in ihrem Land Mali und weit darüber hinaus beliebt. Im Nachbarland Senegal ist Youssou N'Dour beheimatet, einer der erfolgreichsten Sänger Afrikas. Auch in seiner expressiven Stimme höre ich viel Wärme. Eine Sängerin sagte: In dieser Stimme liegt so viel Charisma, Stärke, Geschichte, Tiefe und Schönheit.1)

          HÖRBEISPIEL: Youssou N'Dour: Moor Ndaje (2001)

Die Verbindung von Wärme, Weichheit und Stärke habe ich schon in jungen Jahren am Gesang des Afro-Brasilianers Milton Nascimento geschätzt.

          HÖRBEISPIEL: Milton Nascimento: Irmão De Fé (1966/67)

Den weichen, dennoch kräftigen, seelenvollen Ausdruck findet man auch in der afro-amerikanischen Soul-Musik – wiederum in einer eigenen Ausprägung, aber im Grunde verbunden mit den afrikanischen Wurzeln.

          HÖRBEISPIEL: Aretha Franklin: A Change Is Gonna Come (1967)

Der Klangcharakter afro-amerikanischer Songs wurde oft als „mellow“ beschrieben, was mild, ausgereift bedeutet. Diese Eigenschaft hat auch die afro-amerikanische Sprechweise. Die Vokale klingen hier dunkler, sperrige Laute werden abgeschliffen, sodass die Aussprache einen fließenden, vollen, warmen Klang hat. Sie wurde einmal als gesprochener Soul bezeichnet.

Auch der härtere Blues muss Soul haben.

          HÖRBEISPIEL: Ray Charles: I Got a Woman (1954)

Selbst alter, rauer Blues-Gesang vom Land hat Soul.

          HÖRBEISPIEL: Jack Owens & Bud Spires: Cherry Ball (1970)

Soul überträgt Gefühle sehr direkt, drückt eigene Betroffenheit aus und löst im Hörer eine wohltuende zwischenmenschliche Resonanz aus. Die Sängerin, der Sänger setzt die eigene Persönlichkeit ein und verfügt über eine Kultur des Berührens. So werden die Hörer mit einer Schönheit des Mitfühlens beglückt. Das macht in meinen Augen Soul aus.

Und das finde ich auch im Jazz wieder. Gewiss, im Jazz spielen Ideen und Kunstfertigkeit eine große Rolle, aber die echten Meister berühren zugleich auf sehr persönliche Weise. Der Saxofonist Von Freeman sagte, man muss beten, heulen und leiden, um zu versuchen, die Ideen zu finden. Denn die sind verborgen – im Schatten, im Wind, im Lufthauch, in der Natur, in jedem von uns. Die Kunst ist sie herauszubringen.2)

          HÖRBEISPIEL: Von Freeman: Portrait Of John Young (1972)

Ich habe es immer wieder erlebt: Im Hintergrund läuft Musik, unerwartet erklingt Charlie Parker, ich halte inne, denn sein Spiel ist wie ein Sonnenschein, der mir ins Herz geht. Sein raffiniertes Spiel ist tief im Blues verwurzelt und hat eine besonders hübsche Art von Soul. Dizzy Gillespie sagte, Charlie Parker habe „tieeefe Töne“ spielen können, die einem durch und durch gingen. Man habe live dabei sein müssen.3)

In den Aufnahmen ist die Wirkung nicht so direkt, aber durch seine persönliche Improvisationsweise ist Charlie Parker doch als Person präsent. Das ist nicht ganz der Charlie Parker, den man aus seiner schrecklichen Lebensgeschichte kennt, denn seine Musik klingt absolut nicht schrecklich. Die gewinnende Persönlichkeit, die seine Musik ausdrückt, muss aber durchaus Teil seines Wesens gewesen sein.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Bird Of Paradise (1947)

Dass die Jazz-Meister über eine eigene, persönliche musikalische Sprache verfügen, mit der sie improvisieren, ist also für ihre Wirkung essentiell. Nur so erscheinen sie als individuelle Persönlichkeit und vermitteln auf eigene Weise Soul.

Saxofone kommen im Vergleich zu anderen Instrumenten einer Stimme sehr nahe. Aber natürlich überträgt ein Saxofon Gefühle nicht so direkt und subtil auf Hörer wie eine ausdrucksvolle menschliche Stimme. Andererseits kann die Jazz-Improvisation viel mehr von einer Persönlichkeit darstellen als ein einfacher Song. Es ist fast so, als würde man einen Blick in das Denken und Fühlen des Improvisators werfen – wenn die Improvisation sein eigenes Werk ist, nicht Nachahmung. Die Innenwelten, in die die großen Meister Einblick geben, sind sehr unterschiedlich, sodass sie in der Summe ein breites, vielfältiges Bild menschlicher Wesensart ergeben.

So kam John Coltrane zwar von Charlie Parkers Musik her, entwickelte aber eine ganz andere Art eines seelenvollen Ausdrucks.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Soul Eyes (1962)

John Coltrane verkörperte die ständige Weiterentwicklung, das dauernde Streben nach einem noch tiefgründigeren Ausdruck. Schließlich gelangte er in Bereiche, in denen selbst ein alter Song wie Body and Soul extrem klang. Steve Coleman erläuterte: Der ursprüngliche Song sei immer noch da. Coltrane habe nichts weggeworfen, doch sei seine Welt immer größer und seine Musik immer fetter geworden.4) Nach meinem Gefühl wurde sie allerdings auch bedrückend, sodass ich seine Aufnahmen aus der Zeit nach 1964 weniger höre. Seelen haben auch Seiten, die man als abgründig empfinden kann.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Body and Soul (1965)

Um Erweiterung und Weiterentwicklung bemühte sich schon Charlie Parker. Nur gelang es ihm aufgrund seiner Lebensverhältnisse und seines frühen Todes nicht mehr. Steve Colemans Laufbahn ergibt hingegen bereits eine lange, spannende Entwicklung. Seine frühen Aufnahmen haben trotz aller Komplexität eine bezaubernde, jugendliche Leichtigkeit.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Ice Moves (1990)

Steve Colemans Entwicklung führt durch abenteuerliche Bereiche, aber nicht in Coltranes schwermütige, rauschartige Sphären. Mittlerweile klingt Steve Colemans Spiel weit fortgeschritten, erfahren, zugleich kühn und leidenschaftlich. Und es hat immer noch einen schicken Body und eine clevere Art von Soul.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: twf (Set 1) (2017)

All die erweiterte Musik ersetzt nicht das, was frühere Meister wie Charlie Parker ausgedrückt haben, sondern bereichert und verbreitert das Spektrum dieser Musikkultur. Die unübertreffliche melodische Kunst der alten Meister war noch stärker mit Songs, Blues, Volksmusik verbunden, aber nicht weniger tiefgehend. Viele Erweiterungen nachfolgender Musiker wirken anspruchsvoll, sind aber diffuser, weniger verständlich, dringen weniger in das Gefühl ein. Nur einzelnen Meistern wie John Coltrane, Steve Coleman und so weiter gelang es, eine eigene erweiterte Musik mit Soul zu schaffen. Dafür war wiederum eine Verankerung in afro-amerikanischer Subkultur bedeutend.

Unsere Gefühle, Lust und Leid, steuern uns durch die Welt, die wahllos Glück und Unglück verteilt und uns schließlich vergehen lässt wie alle Lebewesen. Bedeutung erhält unser inneres Wesen nur durch menschliche Kultur mit Seele. Die Jazz-Meister leisten dazu einen besonders starken Beitrag. Sie drücken unsere Wesensart tiefgründig aus und verleihen ihr Schönheit.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Dear Lord (1965)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Aussage der Sängerin Neneh Cherry in einem deutschsprachigen Dokumentarfilm über Youssou N’Dour (u.a. mit Robert Riede, Victor Couzyn, Doris Schretzmayr, ausgestrahlt vom ORF); Neneh Cherry setzte N’Dours Stimme in ihrem Hit 7 Seconds ein.
  2. QUELLE: Howard Reich, Von Freeman Is Chicago Jazz History, 20. September 1992, Internetseite der Zeitschrift Chicago Tribune, Internet-Adresse: http://articles.chicagotribune.com/1992-09-20/entertainment/9203250723_1_jazz-masters-award-tenor-dances/2
  3. Näheres: Link
  4. Näheres: Link

 

 


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