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JAZZ WANDEL – 1. Leben oder Tod


Stirbt der Jazz? Der Jazz an sich keineswegs. Laufend finden Jazz-Veranstaltungen statt und erscheinen neue Jazz-Aufnahmen. Jazz-Schulen sorgen für Nachwuchs im Übermaß. In Europa ist das Jazz-Angebot besonders dicht. Hier erreichten Interessensvertreter starke staatliche Förderungen. Heimische Musiker werden beworben, zahlreiche Preise und Auszeichnungen an sie verliehen und sogar eine jährliche Fachmesse für europäischen Jazz wird abgehalten. Die vielen Musiker können großteils vom Musikmachen allein nicht leben, aber die Jazz-Szene ist lebendig.

Musiker, Veranstalter, Produzenten, Lehrer, Forscher, Musikwissenschaftler, Jazz-Kritiker … die Szene wird von vielen Akteuren gebildet und von einer kleinen, aber relativ beständigen Hörerschaft geschätzt. „Jazz" signalisiert intellektuellen Anspruch, Kreativität und Weltoffenheit. Mit diesem Image hat er als Nische durchaus eine gewisse Attraktivität. Mehr als hundert Jahre nach seiner Entstehung bildet er noch immer einen recht stabilen kleinen Markt mit etablierten Institutionen – Jazz-Schulen, Jazz-Instituten, Jazz-Redaktionen, Interessensvertretungen.

Die einzelnen Musiker hingegen kommen und gehen. Auch ihre Netzwerke, stilistischen Richtungen und kreativen Impulse unterliegen dem Wandel der Zeit. Traditionen versuchen zu bewahren. Inwieweit es ihnen gelingt, an den Geist, die Kreativität und das Niveau früherer Meister anzuschließen, ist oft umstritten. Charlie Parkers Musik wurde von vielen als Bruch mit Louis Armstrongs Tradition wahrgenommen, war tatsächlich aber eine brillante Weiterentwicklung dieser Tradition.

Vieles andere im Jazz-Bereich ist hingegen kaum mit dieser Tradition verbunden oder nur oberflächlich. Im Jahr 1926 sagte der Komponist George Gershwin, das Wort „Jazz“ werde für so viele unterschiedliche Sachen verwendet, dass es aufgehört hat, irgendeine bestimmte Bedeutung zu haben.1)  Das ist heute nicht viel anders. Sehr unterschiedliche Musik wird als Jazz bezeichnet und sehr unterschiedlich sind auch die Auffassungen über musikalische Qualität, Spirit und Feeling der Musik, ihren kulturellen und sozialen Kontext. Die gesamte Jazz-Geschichte hindurch haben bedeutende Musiker die Bezeichnung „Jazz“ für ihre Musik als irreführend abgelehnt. Der Jazz ist keine Musikart mit einheitlichem Charakter, sondern wie ein Supermarkt, der sehr unterschiedliche Produkte anbietet. Was man dort bekommt, weiß man nur aus Erfahrung.

Manche versuchen, Jazz mit dem Merkmal der Improvisation zu charakterisieren. Aber Improvisation wird selbst sehr unterschiedlich verstanden. Angesehene Musiker wiesen darauf hin, dass sich das spontane Spiel echter Meister von der Improvisation unterscheidet, wie sie üblicherweise verstanden wird.2) Außerdem ist vieles, was als Jazz-Improvisation erscheint, nur zu einem geringen Teil wirklich spontan gestaltet und spontanes Spiel wird auch in anderen Musikbereichen gepflegt, in verschiedenen Musikkulturen weltweit.

Was auch immer als Jazz gehandelt wird: Der Jazz-Markt ist nach wie vor lebendig. Die Kultur von Meistern wie Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane und Steve Coleman hingegen stirbt. Zwar wird ihre Musik auch weiterhin von unzähligen Musikern nachgeahmt. Doch existiert die Szene nicht mehr, in der die Meister ihre spezielle, unkonventionelle Art der Kreativität entwickeln konnten. Somit scheinen sie auszusterben.

Der Jazz-Betrieb läuft weiter. Seine Akteure sind darauf angewiesen. Sie preisen die Vielfalt und besonders ihre eigene Szene. Die großartigen Aufnahmen, die die Meister hinterlassen, geraten zunehmend aus dem Blickfeld. Zu ihnen findet man nur, wenn man wählerisch ist – entgegen der Werbung des Marktes, der Jazz-Kritiker, Institute und Redaktionen.

Die heutige Szene bietet vielen Akteuren Entfaltungsmöglichkeiten. Jazz-interessierten Hörern erschwert sie es jedoch, zum wirklich faszinierenden Teil des Jazz zu gelangen und ein Gefühl für ihn zu bekommen.

So ist die Jazz-Entwicklung der letzten Zeit in mehrfacher Hinsicht problematisch. Mehr dazu in den folgenden Videos.

Alle Video-Texte

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Quelle: Thomas Brothers, Louis Armstrong. Master of Modernism, 2014, Kindle-Ausgabe, S. 57
  2. Mehr dazu im Video JAZZ ESSENZ–15. Improvisation: Link

 

 

 

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