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JAZZ WANDEL – 2. Verlorener Lebensraum


So unterschiedlich die Auffassungen über Jazz auch sind, in einem Punkt besteht weitgehend Übereinstimmung: Der Jazz kam ursprünglich von der afro-amerikanischen Minderheit, Nachfahren der Sklaven – verachteten, ungebildeten Leuten. Ihre Art zu musizieren prägte den frühen Jazz und hob ihn von europäisch-stämmiger Musik ab. In den Augen der Mehrheitsgesellschaft war die afro-amerikanische Art primitiv. Dabei war ihr Einfluss in der amerikanischen Musik schon lange allgegenwärtig. Der Zwiespalt zwischen Verachtung für die afro-amerikanische Minderheit und Übernahme ihrer Kultur durchzieht die amerikanische Gesellschaft bis heute.

Die Musik von Jazz-Meistern wie Louis Armstrong unterschied sich von anderer afro-amerikanischer Musik, etwa Blues, durch ihre kunstvolle melodische, rhythmische und harmonische Gestaltung. Ihre Meisterschaft begeisterte aufgeschlossene Hörer weltweit und wurde dennoch mit dem Vorurteil der Primitivität in Verbindung gebracht. In der Meisterschaft wurde unbewusstes Naturtalent gesehen, im Ausdruck der Musik Wildheit und pure Sinnlichkeit – auch, weil sich Jazz in anrüchigen Kneipen, Nachtklubs und Tanzlokalen abspielte – im Schatten des bürgerlichen Lebens, am Rande der Gesellschaft, beherrscht von Gangstern, umgeben von Alkohol, anderen Drogen und Prostitution. Diese Musik konnte sich nun einmal nur dort entwickeln. Ein anderer Platz stand ihr nicht zur Verfügung.

In den späten 1930er Jahren begannen Gangster, in Nachtlokalen Heroin zu verbreiten.1) Der junge Charlie Parker wurde ein frühes Opfer2) und viele andere junge Jazz-Musiker gerieten dann ebenfalls in die Falle einer Heroin-Abhängigkeit3). Die Musik Charlie Parkers und anderer Innovatoren seiner Generation war komplex und spezifisch afro-amerikanisch. Viele missverstanden sie, erkannten ihre Raffinesse und Schönheit nicht. Stattdessen wurde sie in der Öffentlichkeit als Spiegelbild von Drogensucht, Ausschweifung und Zerrüttung hingestellt4) und das färbte die allgemeine Wahrnehmung des Jazz für Jahrzehnte.

In den 1960er Jahren, in John Coltranes Zeit, schreckten aufwühlende, dissonante Klänge und rebellische Botschaften selbst viele Jazz-Fans ab. Die Distanz zur Mehrheitsgesellschaft wurde größer denn je. Um 1990 führte Steve Coleman die Linie der Meister in eine rhythmusbetonte, komplexe Richtung weiter und faszinierte damit ein beträchtliches junges Publikum. Jazz-Kritiker und -Forscher taten sich mit seiner Musik jedoch eher schwer und so bekam er nicht einmal aus dem Jazz-Bereich eine wirklich angemessene Anerkennung.

Die gesamte Jazz-Geschichte hindurch entwickelte sich die afro-amerikanische Tradition außerhalb des etablierten Kulturbetriebs – im Untergrund, mit eigenen Wertvorstellungen, eigenen Ritualen und starkem kreativem Antrieb. Junge Musiker entfalteten sich in dieser Untergrundkultur ganz anders als in Musikschulen. Die Musikerszenen der einzelnen Städte unterschieden sich ein wenig voneinander, standen aber in regem Austausch und ihre afro-amerikanische Identität schweißte sie zusammen. So bildeten sie eine zusammenhängende Subkultur.

Schon früh begeisterte der Jazz auch junge Leute aus Bevölkerungsgruppen mit europäisch geprägtem Kulturverständnis. Es entstanden Nachahmungen, die den Jazz der „klassischen“ Musik annäherten und damit für viele respektabler machten. Sie verwässerten ihn damit aber auch.

Gebildete Jazz-Anhänger traten als Jazz-Kritiker hervor, priesen in den Medien den kulturellen Wert des Jazz und brachten dabei Sichtweisen ihrer europäisch orientierten Bildung ein.

Manche jungen Leute wollten Jazz-Spielen von Lehrern beigebracht bekommen, wie es in etablierten Musikbereichen üblich ist. Das bot Jazz-Musikern Verdienstmöglichkeiten durch Privatunterricht. Akademiker, die in jungen Jahren zu Jazz-Fans wurden, verschafften dem Jazz in Institutionen allmählich eine gewisse Akzeptanz. So begannen auch mehrere Musikschulen Jazz-Unterricht anzubieten – besonders ab den 1960er Jahren. Eine Jazz-Ausbildung wurde für viele angehende Musiker attraktiv, vor allem wegen der künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten, die der Jazz bietet. Das ließ eine Reihe florierender Jazz-Hochschulen entstehen.

Die Meister der Untergrundkultur entwickelten sich nicht in Schulen, sondern im Wesentlichen autodidaktisch, im Zusammenspiel mit Kollegen, anhand von Vorbildern und durch zahllose Auftritte vor Publikum. Ihre Auftrittsorte waren – zumindest ab den 1940er Jahren – größtenteils so genannte Jazz-Clubs. Dort kamen die Musiker zusammen, spielten miteinander, oft nächtelang, tauschten sich aus und forderten sich heraus. In den 1960er Jahren begann jedoch das Publikums-Interesse an Jazz-Clubs abzunehmen. Immer mehr Clubs mussten schließen und die verbliebenen boten nur mehr einzelne Auftritte an, nicht mehr längere Engagements. Die Untergrundkultur verlor zunehmend ihren Lebensraum.

In einem heruntergekommenen Viertel der New Yorker Innenstadt entstand um 1970 eine avantgardistische Jazz-Szene, die die Musiker selbst organisierten. Progressive, überwiegend afro-amerikanische Musiker aus verschiedenen Teilen der USA zogen dorthin und mieteten zu niedrigen Preisen so genannte Lofts – desolate Räume aufgelassener Gewerbebetriebe. Sie nutzten sie als Wohnungen, Proberäume, Treffpunkte und Veranstaltungsorte. Die Lebensbedingungen waren karg, die Einkünfte gering, die Szene jedoch sehr lebendig. Nachdem sie allmählich weithin Beachtung fand, bekamen einige Musiker außerhalb dieser Szene bessere Angebote und verließen sie. Schließlich begann sich der Immobilienmarkt für diesen Stadtteil zu interessieren, die Mietpreise stiegen und wurden für die Musiker unerschwinglich. Ende der 1970er Jahre löste sich die Szene auf.

Die Jazz-Hochschulen expandierten hingegen massiv. Heute studieren Tausende Jazz. Schul-Jazz-Festivals sind oft Großveranstaltungen mit tausenden Studenten. Die Lehrer kommen selbst aus Schulen und viele Studenten enden als Lehrer. Die wenigen Auftrittsmöglichkeiten außerhalb der Schulen werden nun größtenteils von Schulabsolventen besetzt. So wurde die ursprüngliche Jazz-Szene von einer durch und durch schulisch geprägten Kultur abgelöst, die mit der klassischen europäischen vergleichbaren ist.

Das verschaffte dem Jazz Anerkennung als ernsthafte, kulturell wertvolle Musik – allerdings zu einem hohen Preis: Er verlor die Quelle seiner großartigen Lebendigkeit und kreativen Kraft: die afro-amerikanische Untergrundkultur. Von ihr entwickelte Spielweisen werden nun endlos nachgeahmt und mit Anleihen aus anderen Musikarten kombiniert. Unzählige Aufnahmen überschwemmen den Jazz-Markt, die bei Weitem nicht an die Meisterwerke herankommen – an ihre Originalität, ihre Ausdruckskraft und hippe Raffinesse.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Pad Thai – Mdw Ntr (2018)

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  1. Siehe folgenden Wikipedia-Artikel mit Quellenangabe: https://en.wikipedia.org/wiki/French_Connection#The_1930s,_'40s,_and_'50s, https://de.wikipedia.org/wiki/Heroin
  2. Nach einem schweren Autounfall im November 1936 bekam Charlie Parker als 16-Jähriger von einem Arzt Heroin zur Linderung starker Schmerzen verschrieben. Der Arzt warnte ihn vor den Folgen. Wenn er nach der Behandlung weiterhin Heroin zu sich nehmen sollte, werde er bloß noch 18 bis 20 Jahre leben. Ungefähr 1 Jahr später stellte Parkers Frau Rebecca fest, dass er Heroin spritzt. Es war in Kansas City in Klubs auf der 12. Straße und in North End, einem italienischen Viertel, leicht erhältlich. Hunderte von Rauschgifthändlern verbreiteten es in der Stadt. (Quelle: Chuck Haddix, Bird. The Life And Music Of Charlie Parker, 2013, Kindle-Version, Positionen 460 und 491)
  3. Quellen: Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, 2003, S. 127-134; Jan Bäumer, The Sound of a City? New York und Bebop 1941-1949, 2014, S. 295
  4. Quelle: Jan Bäumer, The Sound of a City? New York und Bebop 1941-1949, 2014, S. 298f.; Arrigo Polillo (ein bedeutender italienischer Jazz-Publizist) über Charlie Parkers Spielweise: „Wie sollte man es denn anders als krankhaft bezeichnen, dieses hysterische Phrasieren, dieses Mal draufgängerisch leichte, mal von der Unschlüssigkeit eines Halluzinierenden geprägte Vorgehen und dieses Wimmeln von Vorstellungen? […] Eine abwechselnd stumpfe, verkümmerte und unsichere oder üppige und verwegen kapriziöse Musik.“ (QUELLE: Arrigo Polillo/Hans-Jürgen Schaal, Jazz, deutschsprachige Ausgabe, 2007, S. 538)

 

 

 

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