HÖRBEISPIEL:
Henry Threadgills Trio Air: King Porter Stomp (1979)
In dieser Aufnahme bearbeitete der Saxofonist und Komponist Henry Threadgill ein altes Stück aus der Frühzeit des Jazz. Es erleichtert den Zugang zu seiner Musik. Sonst klingt sie großteils schwer verständlich, avantgardistisch, oft skurril und düster.
HÖRBEISPIEL: Henry Threadgills Very Very Circus: Exacto (1990)
Henry Threadgill wurde im Jahr 1944 geboren, wuchs im afro-amerikanischen Viertel von Chicago auf und sah dort als Kind noch legendäre Blues-Musiker auf der Straße singen, wie Muddy Waters und Howlin‘ Wolf, dessen mächtiger Sound ihn besonders beeindruckte.1)
HÖRBEISPIEL: Howlin‘ Wolf: Smokestack Lightnin‘ (1956)
Später, um 1970, spielte Henry Threadgill selbst eine Zeit lang in Blues-Bands, wofür er eine Menge lernen musste.2) Nachdem er im Laufe seines Lebens viel Erfahrung in unterschiedlichen Musikarten gesammelt und auch europäische Komposition studiert hatte, sagte er im Alter: Blues ist fundamental, aber nicht urwüchsig oder simpel, kein rohes Herausbrechen, sondern hochkomplexe Musik, sowohl auf emotionaler als auch technischer Ebene. Man kann sich im Blues nicht treiben lassen oder mäandern. Die Ausführung jeder Note ist ein hochentwickeltes Ereignis. Es geht weniger um harmonische Komplexität und melodische Ausarbeitung als um puren Sound. Auf den konzentrieren sich Bluesmusiker in erster Linie und es ist unglaublich, was manche von ihnen auf ihrem Instrument zustande bringen.3)
HÖRBEISPIEL: Junior Wells: In the Wee Wee Hours (1965, mit Buddy Guy, Gitarre)
Der Saxofonist Steve Coleman wuchs ebenfalls in der South Side von Chicago auf, dem afro-amerikanischen Viertel, allerdings 12 Jahre später. Die aktuelle Musik seiner Jugendzeit war für ihn die Funk-Musik, vor allem von James Brown, dessen Band damals eine mehrschichtige Rhythmik entwickelte. Diese Musik hatte ebenfalls die Ausdruckskraft des Blues, der in Steve Colemans Umfeld weiterhin lebendig war, besonders durch junge Musiker wie Buddy Guy und Junior Wells.
HÖRBEISPIEL: Buddy Guy: Stone Crazy (1962)
Steve Coleman erkundete die Blues-Szene, spielte in Junior Wells Band mit und bereiste per Autostopp die Südstaaten der USA, um die Wurzeln dieser Musik kennenzulernen – so genannten Delta-Blues in der Art von Son House, den Steve Coleman als Vertreter dieser ursprünglichen Blues-Form erwähnte.4) Diese Musik bildete die Grundlage für den musikalischen Ausdruck – nicht nur des modernen, städtischen Blues und des Funk, sondern auch der Musik von Jazz-Meistern wie Charlie Parker und Von Freeman, Steve Colemans Mentor in Chicago.5) Von Freeman bezeichnete Charlie Parkers Musik als „Universitäts-Blues“ und meinte damit eine sehr hoch entwickelte Form von Blues.6) Steve Colemans Musik veränderte und vertiefte sich durch seine Beschäftigung mit den Blues-Wurzeln.7)
HÖRBEISPIEL: Son House: Mississippi County Farm Blues (1930)
Diese alte Aufnahme von Son House aus dem Jahr 1930 klingt rau – nicht nur durch die schlechte Aufnahme-Qualität, sondern auch durch den Ausdruck der Musik. Das Leben dieser diskriminierten afro-amerikanischen Leute war rau. Sie rangen um ein wenig Lebenslust, Anerkennung, Selbstwert – oft vergeblich. Ihre Musik bildet dieses menschliche Ringen mit unübertrefflicher Ausdruckskraft ab.
Sie spielten nicht nach Noten, lernten das Musizieren nicht in Schulen, sondern schauten es sich von Kollegen ab, improvisierten, probierten mit ihrer Stimme und einem Instrument (Gitarre, Mundharmonika), wie es gut klingt, wie es sich gut anfühlt, wie sie in ihrem Umfeld Resonanz erreichen. Das war kein Experimentieren wie in der so genannten „improvisierten Musik“ von heute. Die Leute, für die Musiker wie Son House spielten, hatten kein Interesse an abstrakten Klängen oder geistreichen künstlerischen Aussagen. Diese Musik kam an, weil sie ihre Hörer tief bewegte, in der Art ihrer Subkultur.
HÖRBEISPIEL: Jack Owens & Bud Spires: Can't See, Baby (1970)
Als Henry Threadgill und Steve Coleman schon lange nicht mehr in Chicago lebten, trafen sie sich und kamen rasch auf das Thema Vibe zu sprechen. Henry Threadgill sagte: Vibe ist alles, macht die gesamte Sache aus. Steve Coleman berichtete von ihrem Gespräch und erläuterte: Vibe könne nicht erklärt werden, sei viel mehr als ein Effekt, auch mehr als Feeling, Gefühl, eher eine Grundhaltung, eine sehr menschliche Sache, die nicht nur in einzelnen Momenten zum Ausdruck kommt, etwa durch ein Beben der Saxofon-Stimme. Vibe durchziehe den gesamten musikalischen Ausdruck der Musiker, die diese Qualität entwickelt haben. Ältere in Chicago wie Von Freeman hätten einen sehr massiven Vibe gehabt. Sie bezogen das von ihren Vorgängern und letztlich komme es aus dem Blues.8)
HÖRBEISPIEL: Von Freeman: Von Freeman's Blues (1975)
Von Freeman wärmte sich hinter der Bühne auf, mit ein paar rauen Tönen. Ein junger Kollege von Steve Coleman sagte: „Komm Mann, das soll der Musiker sein, den du schätzt. Für mich klingt der nicht gut.“ Aber dann war er von Freemans Auftritt überwältigt. Eine Musikerin sagte zunächst: „Der spielt ja nicht einmal die richtigen Noten.“ Steve Coleman erklärte: Meister wie Freeman waren an einem ganz anderen Ort als die geschulten Musiker von heute, die schon vor ihrem Auftritt in der Garderobe auf ihrem Instrument hinauf und hinunter rennen. Die alten Meister bewahrten sich eine volkstümliche, natürlich, menschlich wirkende Herangehensweise. Sie hatten einen „beginner/professional“-Sound, wie es Steve Coleman nennt, einen „Anfänger-Profi“-Sound. Sie spielten nicht so gleichmäßig, glatt, wie es Jazz-Schulen lehren, aufgrund ihres klassisch-europäischen Erbes. Vielmehr klang ihr Spiel oft verschmiert, schlampig, rau und swingte stark. Diese Ästhetik aus dem Blues brachten sie auf ein extrem hohes Niveau.9)
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Cheryl (1949, Royal Roost)
Bei Musikern aus Jazz-Schulen findet Steve Coleman die Ausdruckskraft, die er Vibe nennt, nicht mehr. Vielen fehlt überhaupt ein Empfinden dafür. Sie greifen nur technische Aspekte auf (False Fingering, Vibrato, eine veränderte Note), stellte Steve Coleman fest. Charlie Parkers Musik nehmen sie völlig verändert wahr. Sie leiten aus ihr Regeln ab und verstehen das Spielen dieser Musik als Beherrschen der Regeln. Dabei konnte Charlie Parker Dinge machen, die alle Regeln durchbrachen und dennoch funktionierten, sagte Steve Coleman. Er höre Charlie Parker, Bud Powell und so weiter durch die Erfahrung hindurch, die er durch Musiker wie Von Freeman bekam. Unter all ihrer musikalisch-technischen Raffinesse hatten sie diese fundamentale Sache, die er Vibe nennt. Jeder Klang, den sie spielten, war von ihrem persönlichen, individuellen Vibe durchtränkt.10)
HÖRBEISPIEL: Yusef Lateef/Von Freeman: Quality Control (1992)
Diese Ausdruckskultur bezogen junge Musiker durch „Osmose“ von älteren, wie es Steve Coleman bezeichnet – durch allmähliches Einsickern, bis diese Kultur Teil von ihnen selbst wurde, in jeweils eigener, persönlicher Ausprägung. Das braucht jahrelanges Zuhören und Beisammensein mit entsprechend erfahrenen, älteren Musikern, erklärte Steve Coleman.11)
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: idHw – Set 1 (2017)
Jazz-Schulen arbeiten anders und vermitteln ein anderes Musikverständnis und Musikempfinden. Sie setzten sich in den letzten Jahrzehnten durch. Die afro-amerikanische Jazz-Subkultur verschwindet.
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