Der Saxofonist und Komponist Henry Threadgill schilderte, wie man in seiner
afro-amerikanischen Subkultur Musiker wurde: Der Grundstein wurde nicht primär
durch Unterricht gelegt, sondern vor allem draußen in der Welt, wie er sagte.
Man bildete mit Freunden kleine Bands, spielte in der Kirche, auf Partys,
Schulbällen, Paraden und so weiter. Dabei lernte man, wie man sich zu
verhalten hat, nahm die subtilen Codes auf, die nicht ausdrücklich erklärt wurden. Es
entwickelte sich eine Sensibilität für die Ästhetik dieser Kultur, noch bevor
es einem bewusst wurde. Ebenso verinnerlichte man Werte, die die Musik
ausdrückte – afro-amerikanisches Selbstverständnis und so weiter. Das Spielen
musste man sich weitgehend selbst erarbeiten und dabei seinen eigenen Ausdruck
finden. Sich auf diese Weise in die Musik zu vertiefen, war ein mühsamer
Prozess, der Leidenschaft erforderte. Aber nur so konnte man zu einem
Mitgestalter dieser kraftvollen, tiefgründigen Musiktradition werden.1)
HÖRBEISPIEL: Henry Threadgill: I Can't Wait Till I Get Home (1987)
Wie es Henry Threadgill beschrieb, entwickelte sich der Saxofonist Steve Coleman in der afro-amerikanischen Subkultur von Chicago. Als alter Meister verglich er sich mit einer jungen Saxofonistin, die angesehene Auszeichnungen als Nachwuchs-Jazz-Musikerin erhielt.2) Man könnte meinen, sie würden beide dieselbe Art von Musik spielen – so genannten Jazz. Aber das sei völlig falsch. Er habe mit ihr geredet.3) Sie wuchs in Chile auf und wurde schon als 6-jähriges Kind im Saxofon-Spielen unterrichtet – von ihrem Vater, einem professionellen Jazz-Saxofonisten und Charlie-Parker-Fan. Mit 18 kam sie auf das Berklee-College, die größte und bekannteste Jazz-Hochschule der USA und der Welt. So wurde sie von ganz anderen Erfahrungen geprägt als Steve Coleman. Er sagte: Was man in seinen ersten 15 bis 20 Lebensjahren erlebt hat, werde man nie wieder los, bilde die Grundlage für alles Spätere. Daher sei entscheidend, woher man kommt und was einen beeinflusst hat.4)
Tatsächlich führte Steve Colemans Entwicklung in eine völlig andere Richtung.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Stone Bone Jr. (1986)
Steve Colemans Vater war ebenfalls Charlie-Parker-Fan, aber kein Musiker. In der Familie wurde fast ständig vielfältige afro-amerikanische Musik gehört, aber nicht selbst gespielt. Jazz war Musik für Ältere, für seinen Vater und seine Onkel. Die Jungen mochten populäre afro-amerikanische Musik ihrer Zeit, der 1960er und 70er Jahre. Steve Coleman beteiligte sich an Gesangsgruppen, trommelte Schlagzeug-Parts von Songs aus dem Radio nach und lernte dann in der Schule ein wenig Saxofon-Spielen, auf klassische Weise. Das nutzte er, um mit Kollegen auf Partys und anderen Veranstaltungen aktuelle Songs wiederzugeben, die er sich durch Abhören von Schallplatten beibrachte. James Browns Musik sprach ihn besonders an, mit ihren ineinander verzahnten rhythmisch-melodischen Parts.5)
HÖRBEISPIEL: James Brown: Mother Popcorn (1969)
Schon unter den Gleichaltrigen, für die Steve Coleman als Jugendlicher spielte, wurde großer Wert auf das Feeling der Musik gelegt, besonders auf das rhythmische. Sie äußerten sich auf der Stelle kritisch, wenn es sich nicht „hip“ anfühlte. Steve Coleman war ehrgeizig, wollte der Beste sein, aber manche Kollegen wurden bewundert, weil sie ein wenig „riffen“ konnten, wie das Improvisieren genannt wurde. Wie das funktioniert, hatte er keine Ahnung.6)
HÖRBEISPIEL: Nat King Cole: I Like To Riff (1939)
Mit 18 begann Steve Coleman, auf einem „weißen“ College außerhalb von Chicago zu studieren. Es hatte ein höheres Niveau als die Schulen seines Umfelds und bot unter anderem Musikunterricht. Steve Coleman wollte in der College-Jazz-Band mitspielen. Die bestand aus lauter „weißen“ Studenten. Um in die Band aufgenommen zu werden, wurde von ihm als einzigem verlangt, dass er improvisieren kann. Fieberhaft arbeitete er daran, es sich beizubringen. Unter seinen Schallplatten fand er eine von Charlie Parker, die ihm sein Vater vor der Abreise hineingesteckt hatte. Es gelang ihm schließlich, Charlie Parkers Soli abzuhören und nachzuspielen. Das trainierte sein Gehör und führte ihn in diese Musik ein. Nachdem er las, dass seine Heimatstadt Chicago in Charlie Parkers Zeit eine starke Jazz-Szene hatte, suchte er in den Weihnachtsferien nach Resten dieser Szene und fand in einem Klub ein Trio des Pianisten John Young. Ahnungslos, was für erfahrene Musiker das waren, ging er mit seiner angesagten Afro-Frisur und in einen Overall gekleidet auf sie zu und fragte sie, ob er mitspielen könne. Sie sagten, sie wüssten nicht, ob er das kann, lachten und fragten ihn, was er spielen möchte. Er fragte sie, ob sie Now's the Time kennen, ein Charlie-Parker-Stück, das er von der Schallplatte abgehört hatte. Sie brachen in schallendes Gelächter aus und antworteten, sie würden versuchen, es hinzukriegen. Er fummelte sich durch das Stück und klang schrecklich, erzählte er. Aber sie sagten: „Du klingst nicht schlecht, Junge. Komm wieder und hör weiter zu.“ Das tat er, achtete auf die Feinheiten ihres Spiels und bemerkte den großen Unterschied zur Art, wie auf dem College Jazz gespielt wurde.7)
HÖRBEISPIEL: Von Freeman: Portrait Of John Young (1972, John Youngs Solo)
In den Sommerferien suchte Steve Coleman wie besessen Jamsessions in Chicagoer Klubs auf. Dabei fand er den Saxofonisten Sonny Stitt, der aus Charlie Parkers Ära kam und ähnlich wie Parker klang. Steve Coleman folgte ihm und kam über ihn mit dem ebenfalls älteren Saxofonisten Von Freeman in Kontakt. Der lud ihn zu seinen wöchentlichen Auftritten in einer Nachbarschaftskneipe ein und dort bezog Steve Coleman dann von ihm wichtige Anregungen für seine weitere Entwicklung.8)
HÖRBEISPIEL: Von Freeman: Portrait Of John Young (1972)
Von Freemans wöchentliche Auftritte in der Nachbarschaftskneipe waren ein eindrucksvolles Beispiel für die soziale Funktion, die die Musik in diesem Umfeld hatte. Er bot nicht nur kunstvolle Musik für aufmerksame Zuhörer, sondern sprach die Leute an, bewegte sie, veranlasste sie zu Reaktionen, setzte Ruf-und-Antwort-Dialoge in Gang – mit seinem ausdrucksstarken Saxofon-Spiel und zwischen den Stücken mit Ansagen, Kommentaren, Begrüßungen neuer Gäste und mit viel Humor. Zugleich vermittelte er als Meister dieser Musikkultur Stolz auf afro-amerikanische Identität. Bei seinen Auftritten war die Kneipe voll und die Besucher gingen erst spät nach Hause – beglückt von einem unterhaltsamen und erhebenden Gemeinschaftserlebnis, das ihren Platz am Rande der Gesellschaft für diesen Abend verbesserte.9)
HÖRBEISPIEL: Von Freeman: After Dark (1977, Niederlande)
Bei seinen Auftritten in der Kneipe spielte zunächst Von Freeman mit seiner Band an die zwei Stunden lang. Dann ließ er zunehmend Gastmusiker für ein oder zwei Stücke einsteigen. Einer von ihnen war in den späteren 1970er Jahren regelmäßig der junge Steve Coleman. Von Freeman wurde zu seinem wichtigsten Vorbild auf der aktuellen Szene, nachdem er erkannte, was für ein großer Meister Von Freeman tatsächlich war. Zu Unrecht war er außerhalb der Chicagoer Szene nur wenig bekannt.
Ältere wie Von Freeman und Sonny Stitt erklärten den Jungen die Musik nicht, gaben ihnen aber manchmal Hinweise in bildhafter, verschlüsselter Form. Zum Beispiel sprachen sie davon, dass man eine Geschichte erzählen muss. Steve Coleman rätselte immer wieder, was damit gemeint sein könnte. Wie zum Teufel soll man mit einem Saxofon eine Geschichte erzählen? Er sagte: Ältere Musiker pflanzten einem mit kurzen, parabelartigen, oft witzigen Aussagen eine Art Samen in den Kopf, aus dem dann über die Jahre Verständnis wuchs.10)
Steve Coleman fragte Ältere über die Vergangenheit dieser Musiktradition aus, über die legendären Musiker, die damaligen Verhältnisse und Entwicklungen, und bekam viele lebendige Schilderungen, die sein Verständnis vertieften. Von Freeman und den Saxofonisten Bunky Green ersuchte er um Unterricht. Das lehnten sie jedoch beharrlich ab. Er verstand nicht warum. Bunky Green lehrte an einer Hochschule Jazz und gab Privatstunden. Steve Coleman ging ihn an: „Wieso willst du mich nicht unterrichten?" Bunky Green bestand darauf, er brauche keinen Unterricht, könne schon spielen, müsse nur nach New York ziehen.11) Von Freeman gab ihm denselben Rat.12)
HÖRBEISPIEL: Bunky Green: Little Girl, I'll Miss You (1979)
Die Verweigerung von Unterricht öffnete Raum für eigene Entwicklungen junger Musiker, forderte ihre Kreativität heraus.13) Jede Generation konnte das Musikgefühl ihrer Zeit einbringen und das hielt die Tradition lebendig. Sie wandelte sich mit ihrer volkstümlichen Basis – den populären afro-amerikanischen Songs und Tanzrhythmen. Von Freeman nannte Steve Coleman „Stevie-Wonder-Bird“ nach dem unter jungen Afro-Amerikanern beliebten Sänger Stevie Wonder und nach Charlie Parker, der „Bird“ genannt wurde.14) Allerdings wurde Steve Coleman weniger von Musikern wie Stevie Wonder beeinflusst als von James Browns Musik.
Als später erste Aufnahmen von Steve Colemans Five-Elements-Band erschienen, war nicht ohne Weiteres erkennbar, dass Charlie Parker weiterhin sein allerwichtigstes Vorbild war – mit seiner Spielweise und auch mit seinem Band-Konzept15).
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Fire Revisited (1986)
Von Freeman fand Steve Colemans Musik im Grunde gar nicht so viel anders als seine eigene.16) Im Kern bewahrte diese Musikkultur ihren Charakter, während sie zugleich Weiterentwicklung förderte. Dazu trug die spezielle Art bei, wie sie von einer Generation an die nächste weitervermittelt wurde – im persönlichen Kontakt, in der Spielpraxis, in Jamsessions, bei Auftritten in Klubs und so weiter.
HÖRBEISPIEL: Strata Institute: Minor Step (1991, mit Steve Coleman und Von Freeman)
Bunky Green war es um 1970 leid, mit schlecht bezahlten, nächtelangen Auftritten in Chicagoer Klubs in bitterer Armut zu leben und keine Zeit zu haben, seine Improvisationskunst weiterzuentwickeln. Deshalb absolvierte er ein klassisches Musikstudium und ließ sich an einer Universität als Jazz-Lehrer anstellen. Nur mehr gelegentlich trat er auf.17) Später wurde er sogar zum Präsidenten der Internationalen Vereinigung für Jazz-Pädagogik ernannt. Aber weiterhin fand er, dass die wichtigste Schule für diese Musik die Straße ist. Sie sei die echte Schule des Lebens. Es laufe auf Charlie Parkers berühmte Aussage hinaus: „Wenn du es nicht lebst, wird es nicht aus deinem Horn kommen.“18)
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Now’s the Time (1949)
Im Jahr 1995 war Bunky Green als Mitglied von Steve Colemans Band Renegade Way auf Europa-Tournee. Rückblickend sagte Bunky Green, es sei eines seiner schönsten Erlebnisse gewesen. Denn es ging nicht in erster Linie darum, dem Publikum zu gefallen, sondern einfach Spaß am Spielen zu haben.19)
Steve Coleman erhielt im Jahr 2000 die Möglichkeit, an einer renommierten Universität zu unterrichten, obwohl er nicht einmal einen College-Abschluss hatte. Seine Erfahrung als einflussreicher Musiker der afro-amerikanischen Jazz-Subkultur war wertvoll genug. Er übte diese Lehrtätigkeit 1½ Jahre lang aus. Sie endete, weil er nicht bereit war, seine Tourneen im geforderten Maß einzuschränken.20)
Vor allem in Europa konnte er häufig auftreten, manchmal vor tausenden Zuschauern. Er kommt an, ohne seine Musik an Publikums-Erwartungen anzupassen. Zusätzlich hält er Workshops ab. So gelang es ihm, von seiner Musik zu leben – zeitweise besser, aber auch mit langen Durststrecken.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Ah-Leu-Cha (2001)
Bunky Green sagte zu Steve Coleman: „Als ich dich zum ersten Mal hörte, hast du bereits großartig geklungen, aber du warst sehr schüchtern. Ich habe gesehen, wie du im Laufe der Jahre gewachsen bist und dich weiterentwickelt hast.“ Nun höre er in Steve Colemans Aufnahmen, dass er angekommen ist, zu einem Original geworden ist, sich selbst spielt und sich damit in den Bereich von Charlie Parker und John Coltrane bewegt. Es gebe viele Musiker, die technisch hervorragend spielen. Aber das meiste, was sie spielen, habe man schon gehört. Würde jemand genau wie Coltrane klingen, wäre das eine beeindruckende Kopie. Aber man würde dann nach Hause gehen und sich eine Original-Aufnahme von Coltrane anhören. Steve Coleman ergänzte: Etwas selbst kreativ hervorzubringen, sei etwas grundlegend anderes als Nachahmung. Es habe einen geistigen, spirituellen Charakter und fühle sich völlig anders an als etwas bereits Geschaffenes zu ergreifen, abzuschneiden und auszuspucken.21)
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Resistance is Futile (2001)
Ein amerikanischer Jazz-Journalist sagte im Jahr 2016 zu Steve Coleman: „Die Szene ist heute ganz anders als früher. Wir haben nicht mehr Working-Bands wie früher, nicht mehr die Klub-Szene, auf die sich diese Bands bei ihren Reisen stützten konnten. Das Lehrlingssystem gibt es nicht mehr. So gut wie alle Jazz-Musiker werden nun in Schulen ausgebildet. Versuchst du, den Geist dieser Musik, die Art, wie sie früher weitergegeben wurde, in die Gegenwart zu bringen, diese aurale Tradition“ (also Überlieferung über das Hören)? Steve Coleman bejahte. Er habe die Musiker seiner Band entsprechend ausgewählt und die Band über all die Jahre in Gang gehalten, auch in schlechten Zeiten, mit großen Schwierigkeiten. Auf die Frage, wie ihm das gelang, antwortete er: „durch Dickköpfigkeit. Thelonious Monk, John Coltrane … sie alle hatten diese eine Eigenschaft gemeinsam: Sie waren dickköpfig.“22)
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Figit Time (2017)
Draußen in der Welt, wie Henry Threadgill sagte, oder auf der Straße, wie es Bunky Green ausdrückte, ist das Leben rau. Erfahrungen von Diskriminierung und sozialer Zerrüttung belasten Musiker afro-amerikanischer Herkunft. Ganz für die Musik zu leben, stellt die Entwicklung anderer Lebensbereiche zurück und Dickköpfigkeit eckt an. So stießen die Meister der Subkultur mit ihrer Lebensweise und aufgrund persönlicher Probleme auch oft auf Ablehnung. Aber ihre Musik stellt wahres Leben dar – mit großartiger Ausdruckskraft und Schönheit.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Horda (Set 2) (2017)
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