HÖRBEISPIEL:
Pigmeat Markham: Here Comes The Judge (1968)
Es gibt eine Menge Kommunikation in afro-amerikanischer Musik – oft auch eine Art musikalisiertes Sprechen. Damit kündigt zum Beispiel in folgender Aufnahme der Entertainer Slim Gaillard den jungen Saxofonisten Charlie Yardbird an – Charlie Parker.
HÖRBEISPIEL: Slim Gaillard: Slim's Jam (1945)
Charlie Parker erklärte jedoch, er habe kein funktionierendes Blatt für das Mundstück seines Saxofons. Slim Gaillard antwortete: Aber McVouty habe eines und gab es ihm. Er nannte seine Sprechweise Vout und sich selbst McVouty.1)
HÖRBEISPIEL: Slim Gaillard: Slim's Jam (1945)
In der folgenden Aufnahme aus dem Jahr 1950 feuert eine Frau im Publikum Charlie Parker zu Beginn seines Solos an: „Go Baby!“ Steve Coleman wies darauf hin, wie Charlie Parker auf der Stelle musikalisch antwortet, indem er den Sprachrhythmus der Frau aufgreift. Charlie Parker habe eine intuitive Auffassungsgabe für die Verbindung von sprachlichen und musikalischen Äußerungen gehabt. Seine Musik sei voller verschlüsselter Anspielungen, die Eingeweihte auch verstanden2) – ein wenig wie die Trommelsprache afrikanischer Meister-Trommler.3)
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Ornithology (1950, Birdland)
Die Aufnahme-Qualität dieses Live-Mitschnitts ist schlecht. Aber Charlie Parker war bei diesem Auftritt im Jazzclub Birdland in Hochform und hatte zwei herausragende Mitspieler in der Band4): Fats Navarro – den Trompeter, der Charlie Parkers Saxofon-Spiel am nächsten kam,5) – und Bud Powell, der Charlie Parkers Spielweise brillant auf das Klavier übertrug, mit eigenem, persönlichem Stil.
In einem Solo Bud Powells begann Charlie Parker im Hintergrund ein wenig dazu zu spielen. Das ärgerte Bud Powell und er ließ daraufhin in seiner Improvisation einen populären Song anklingen mit dem Titel Clap Hands! Here Comes Charley!6)
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: The Street Beat (1950, Birdland)
Bud Powell legte den Schwerpunkt auf raffinierte rhythmisch-melodische Linien in der Art Charlie Parkers. Damit wurde er für viele Pianisten zum richtungsweisenden Vorbild, zum Inbegriff des Bebop-Klavierspiels oder gar zum Begründer des modernen Jazz-Klavierspiels schlechthin. Wie fragwürdig Stil-Kategorien wie Bebop jedoch sind, wird dadurch deutlich, dass ein ganz anderer Pianist als ebenso bedeutender Vertreter des Bebop gilt – Thelonious Monk. Der spielte nicht so flüssig, virtuos wie Bud Powell und bewahrte mehr von der älteren Stride-Piano-Spielweise, schuf jedoch mit eigenwilligen Klängen, Melodien und Rhythmen eine äußerst ausdrucksstarke, spannungsgeladene Musik, die zugleich auch wohltuend wirken kann.
HÖRBEISPIEL: Thelonious Monk: These Foolish Things (1952)
Miles Davis sagte, viele würden Bud Powell wegen seiner Schnelligkeit für den besseren Pianisten als Thelonious Monk halten. Sie danach zu beurteilen, sei aber Unsinn. Beide seien großartig gewesen, hatten nur unterschiedliche Stile.7)
Steve Coleman erklärte: Er habe Thelonious Monk nie als weniger guten Pianisten gesehen, denn der sei so sehr er selbst gewesen, sei so tief in sich gegangen, dass es außerhalb jeder Konkurrenz war. Gewiss, Bud Powell war auf dem Klavier gewandter. Aber Thelonious Monk sei noch mehr er selbst gewesen. Und letztlich habe niemand die Gewandtheit von Art Tatum erreicht, der beiden voranging.8)
HÖRBEISPIEL: Art Tatum: Yesterdays (1953)
Steve Coleman ging es als junger Musiker zunächst einmal darum, professionell, konsistent zu klingen, und dann strebte er danach, auf das Niveau von Charlie Parker und John Coltrane zu gelangen, was Kreativität und das Sich-selbst-Ausdrücken anbelangt.9)
Der starke, wahrhaftige Ausdruck ausgeprägter Persönlichkeiten hat in der „Jazz“ genannten, afro-amerikanischen Musikkultur einen zentralen Stellenwert. Jede Musikkultur hat ihre eigenen ästhetischen Wertvorstellungen.
So dachte sich Steve Coleman schon in den 1980er Jahren angesichts der Tendenz vieler junger Musiker-Kollegen zur klassischen europäischen Harmonik: „Nein, das ist nicht unsere Musik. Unsere Musik hat vor allem den Rhythmus als Basis – auch wenn heute alle von verminderten Quinten, Dreiklang-Tönen, Substitutionen und so weiter reden.“ Die älteren Musiker, mit denen er darüber sprach – Von Freeman, Sonny Rollins, Dizzy Gillespie – hätten das genau wie er gesehen.10)
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Wheel of Nature / Fire Revisted (2024)
Immer wieder entstanden in bestimmten Regionen, Volksgruppen, Milieus spezifische Musikarten, die dann weithin Anklang fanden – in Europa zum Beispiel griechische Volksmusik, neapolitanische, Flamenco, alpenländische Volksmusik, Wiener Walzer, die klassische Sinfonik, Klezmer, irische und schottische Tänze. Aus Übersee kamen zum Beispiel Tango aus Argentinien, Samba aus Brasilien, Reggae aus Jamaika, vieles aus Kuba, Afro-Beat aus Nigeria und besonders stark ist die moderne westliche Musik von afro-amerikanischen Traditionen geprägt – von Blues, Gospel, Jazz, Hip-Hop und so weiter.
Viele Musiker greifen fremde Einflüsse auf, wandeln sie ab und vermischen sie mit ihrer eigenen Tradition. So hat letztlich jede Musik, die wir heute hören, vielfältige Wurzeln. Im folgenden Beispiel sind afro-kubanische, afro-amerikanische und europäische Anteile zu einer eigenen, hübschen Musik verschmolzen.
HÖRBEISPIEL: David Virelles: Un Granito de Arena (2018)
Wenn ich diese Musik höre, dann gleich mehrmals. Sie gibt ein gutes Gefühl, wie leicht und locker das Leben oft auch genommen werden kann. Bald habe ich allerdings alles gehört, was es in dieser Musik zu hören gibt, und die unbeschwerte, behagliche Stimmung ist mir letztlich doch zu wenig realistisch. So verschwindet diese Musik wieder aus meinem Interesse.
Ich schätze ausdrucksstarke, reichhaltige, tiefgehende Musik – aus Kuba zum Beispiel die dichten, komplexen Trommel-Rhythmen der echten, afro-kubanischen Rumba-Musik, begleitet nur von expressivem Gesang. Zunächst klingt diese Musik fremdartig, die Rhythmen überfordern das Auffassungsvermögen, doch entdeckt man allmählich das Bewegungsgefühl, das sie ausdrücken, erkennt Details und das bleibt spannend.
HÖRBEISPIEL: Los Muñequitos de Matanzas: Elegia A Los Columbianos (1988)
Auch in anderen Musikbereichen interessiert mich möglichst authentische Musik, die die speziellen Qualitäten der jeweiligen Kultur am stärksten zur Geltung bringt. Im Jazz ist das die afro-amerikanische Tradition von Meistern wie Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane, Steve Coleman und so weiter. Ihre Aufnahmen ergeben eine Menge großartige Musik. Der außer-europäische, ein wenig fremdartige Charakter dieser Musik ist reizvoll und weil sie auch europäische Wurzeln hat, ist sie zugleich gut zugänglich. Es braucht nur ein wenig Aufgeschlossenheit. Europäisches Musikverständnis ist nicht allgemeingültig und afro-amerikanische Musik nicht generell bloß sinnlich, weniger kultiviert, weniger intelligent. Erstklassiger Jazz ist keine populäre Musik, wie die europäische Musikwissenschaft meint. Den Jazz-Meistern zuzuhören bedeutet, aufzubrechen, auf Reisen zu gehen, den Horizont zu erweitern. Das hat schon viele Europäer angezogen. Zeit und Energie sind allerdings knapp und so bleibt das Kennenlernen oft oberflächlich, klischeehaft – ein wenig wie im Tourismus.
Die europäische Wertschätzung für den Jazz trug jedoch erheblich zum wirtschaftlichen Überleben dieser Musik bei, indem sie zahlreiche Europa-Tourneen bedeutender Jazz-Musiker ermöglichte. Manche von ihnen ließen sich sogar dauerhaft in Europa nieder, um dem besonders harschen Rassismus in den USA zu entgehen, bessere Verdienstmöglichkeiten und mehr Anerkennung zu finden – zum Beispiel Oscar Pettiford, der bedeutendste Bassist der Charlie-Parker-Ära. Ende der 1950er Jahre lebte er zunächst in Deutschland und schließlich in Kopenhagen, Dänemark. Er gab der deutschen und der skandinavischen Jazz-Szene wichtige Impulse.11)
HÖRBEISPIEL: Sonny Rollins: The Freedom Suite (1958, mit Oscar Pettiford und Max Roach)
Anfang der 1960er Jahre gehörte der junge dänische Bassist Niels-Henning Ørsted Pedersen der Hausband eines legendären Jazz-Clubs in Kopenhagen an, in dem viele berühmte Musiker auftraten. So entwickelte er sich zu einem gefragten Begleiter von Musikern, die keine eigene Band mitbrachten, und schließlich zu einem viel gelobten Virtuosen.
HÖRBEISPIEL: Sonny Rollins: St. Thomas (1965, Kopenhagen, mit Niels-Henning Ørsted Pedersen)
Jahrzehnte später (in den 1990er Jahren) beschloss der nun über 50-jährige Niels-Henning Ørsted Pedersen, aus der Begleiter-Rolle herauszutreten, sich nicht mehr anzupassen, sondern auf sich selbst zu konzentrieren. Er fand seinen eigenen kulturellen Hintergrund genauso gut und stark wie den afro-amerikanischen. Die klassische Tradition von Mozart, Beethoven, Ravel, Debussy sei wichtig und die Volksmusik, mit der er in Dänemark aufwuchs, genauso gültig wie der afro-amerikanische Blues. Sich dessen bewusst zu werden, sei für ihn ein Erwachen gewesen.12)
HÖRBEISPIEL: Niels-Henning Ørsted Pedersen: Derfor Kan Vort Oje Glaedes (1996, Komposition des dänischen Komponisten Carl August Nielsen)
Oscar Pettiford sagte schon Ende der 1950er Jahre: Wenn die europäischen Musiker den afro-amerikanischen Jazz wirklich verstünden, seine Botschaft erfassten, dann würden sie nicht mehr nachahmen, sondern etwas Eigenes schaffen.13) Auch andere appellierten: „play yourself“ oder „play your own thing“! „Spiele dich selbst”, „spiele deine eigene Sache”!
Das taten europäische Musiker später kreativ und erfolgreich. Ist das, was sie hervorbrachten, noch dieselbe Musikart? Dazu im nächsten Video.
——————————————————
Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.