HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Cardiovascular
(2012)
Mit dieser Komposition stellte Steve Coleman das Pulsieren des Blutkreislaufs dar und mit den anderen Stücken seines Albums Functional Arrhythmias aus 2012 weitere Körperfunktionen. Dazu wurde er durch Gespräche mit dem älteren Schlagzeuger Milford Graves angeregt. Der war nicht nur musikalisch innovativ, sondern schuf sich auch eine eigene geistige Welt – mit viel Energie, Eigensinn und Selbstbewusstsein als Afro-Amerikaner. So war er ein Seelenverwandter von Steve Coleman und eine wertvolle Inspirationsquelle für ihn. Milford Graves war bei ihren Gesprächen in seinem Kellerlabor bereits um die 70 Jahre alt und Steve Coleman ungefähr 55.1)
Milford Graves hatte medizinische Kenntnisse, untersuchte Herzfrequenzen mit Geräten und Computer-Programmen, verband das mit musikalischen Ideen und sah darin eine Heilwirkung. Er beschäftigte sich auch mit Heilkräuterkunde und Akupunktur und entwickelte Kampftechniken nach afrikanischen Vorbildern und durch Beobachtung so genannter Fangschrecken, einer räuberischen Insektenart. Er sagte, Tanz- und Kampfbewegungen seien Teil seiner Kultur und seines Lebensstils.2)
Geistig rege, kreative Leute wie er und Steve Coleman hatten als Heranwachsende keine Aussicht auf entsprechende Entfaltungsmöglichkeiten in der Mehrheitsgesellschaft. Afro-amerikanische Subkultur bot sich an. Die konnte nur am Rand, im Untergrund existieren, mit viel Imagination.
Steve Coleman nannte ein Album aus 1990 Black Sience, schwarze Wissenschaft, und das Cover stellt einen dunkelhäutigen Magier aus dem Weltall dar. Wissenschaft ist weder schwarz noch weiß und gerade nicht Magie. Doch wird der wissenschaftliche Fortschritt, der in Europa und in den USA erreicht wurde, missbraucht, indem daraus eine „weiße“ Überlegenheit und Höherwertigkeit abgeleitet wird. Afro-Amerikaner setzen oft alternative Sichtweisen entgegen, die sie als „schwarz“ betrachten – womit die ideologischen Verirrungen fortgeführt werden. Von welchen Vorstellungen eine Musik inspiriert wurde, ist jedoch letztlich nicht entscheidend. Auf ihre Wirkung kommt es an – auf das unmittelbare emotionale, motorische und mentale Erleben, das sie auslöst. So können Ideen, die einem Musiker als Aussage wichtig sind, irrational sein, die Musik dennoch großartig.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: The Twelve Powers (1998)
Musikalisch übte Milford Graves keinen wesentlichen Einfluss auf Steve Coleman aus. Graves war in den 1960er Jahren ein bedeutender Vertreter der Free-Jazz-Bewegung, die sich von den komplizierten Strukturen der Jazz-Tradition befreite. Die Freizügigkeit, mit der sich diese Musiker von etablierten Modellen lösten und auf eigene Weise ausdrückten, bestärkte den jungen Steve Coleman zwar in seiner kreativen Entfaltung. Er ging jedoch in eine andere Richtung, entwickelte wiederum sehr anspruchsvolle Strukturen, mit denen er sich und seine Mitspieler herausfordert. Das verbindet ihn mit den alten Meistern.
Aus seiner Sicht war Milford Graves kein typischer so genannter „freier“ Schlagzeuger, denn er habe durchaus mit komplexen rhythmischen Strukturen detailliert umgehen können. Allerdings habe sein Spiel eine extrem lockere Qualität gehabt.3) Steve Coleman sieht ihn auf einer Linie mit vorangegangenen Meistern: Elvin Jones, der Schlagzeuger der John-Coltrane-Band in den 1960er Jahren, habe bereits weniger beständig, freier gespielt als noch Max Roach, der in den 1940er Jahren Charlie Parkers Band angehörte. Schlagzeuger wie Milford Graves seien dann noch weiter gegangen, opferten sogar den Groove, der bei Max Roach und Elvin Jones sehr wichtig war, wobei Milford Graves – im Gegensatz zu anderen – trotz der Unregelmäßigkeit seines Spiels doch noch eine Art Groove oder zumindest einen Anschein von Groove hervorgebracht habe, aufgrund seines Verständnisses für afro-kubanische Rhythmen.4)
HÖRBEISPIEL: Milford Graves: Continuous Conversations (2000)
Dieses unregelmäßige Trommeln, das doch ein gewisses Rhythmusgefühl auslösen kann, finde ich interessant, aber nicht befriedigend. Und wenn Milford Graves dann noch seine seltsamen Stimm-Improvisationen hinzufügt, endet mein Interesse an dieser Musik.
HÖRBEISPIEL: Milford Graves: Continuous Conversations (2000)
In den 1960er Jahren klang Milford Graves Musik noch extremer.
HÖRBEISPIEL: Milford Graves: Bäbi (1969)
Steve Coleman sagte, Milford Graves habe nicht wie Max Roach und Elvin Jones den Vorteil gehabt, mit einem rhythmisch wirklich starken Bläser zusammenzuarbeiten.5) Das lag wohl schon daran, dass Milford Graves avantgardistische Richtung keinen entsprechenden Meister hervorbrachte, weil sie vor allem auf ungehemmten Ausdruck durch expressive Klänge Wert legte, weniger auf ein kunstvolles Spiel mit anspruchsvollen Strukturen.
Milford Graves war in seiner Szene gefragt und spielte mit angesehenen Kollegen wie Albert Ayler, Anthony Braxton und David Murray.
HÖRBEISPIEL: Anthony Braxton/Milford Graves/William Parker: Second Meeting (2008)
Solche Musik verlangt Hörern viel ab, bietet relativ wenig an nachvollziehbaren Verläufen, Zyklen, spannenden Zusammenhängen, Regelmäßigkeiten, die man entdecken und in die man einhaken kann. All das ist zum Beispiel in Charlie Parkers Musik in Fülle vorhanden, in Form von Melodie, Rhythmus, Harmonie. Oberflächlich klingt seine Musik im Vergleich zur Avantgarde volksmusikartig und zugleich ist sie im Detail, in der Tiefe anspruchsvoller – für Musiker und Hörer.
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Ornithology (1948, Royal Roost)
Avantgardistische Musiker wie Milford Graves sprachen nur einen sehr kleinen Hörerkreis an und konnten auf Dauer nicht davon leben. Ab den 1970er Jahren gelang es einigen, sich mit einer Lehrtätigkeit ein regelmäßiges Einkommen zu verschaffen. Milford Graves unterrichtete 39 Jahre lang auf einer Hochschule „weiße“ Studenten aus wohlhabenden Verhältnissen in Ästhetik und Kraft „schwarzer“ Musik – aus seiner schamanenartigen Perspektive.6) Die Bürgerrechtsbewegung der afro-amerikanischen Minderheit und die Protestbewegungen junger Leute hatten ein Interesse an widerständiger afro-amerikanischer Musik geweckt – sogar in Hochschulen, wo sie als moderne, experimentelle Kunst verstanden wurde.7)
Manche kritisierten, durch die Lehrtätigkeit von Musikern wie Milford Graves verliere die Szene ihre Führer, werde die Musik von „Weißen“ geklaut.8) Aber das Publikums-Interesse an dieser Musik schwand Ende der 1970er Jahre noch – und damit auch die Auftritts- und Verdienstmöglichkeiten. Unterricht in Hochschulen, Workshops und so weiter erschien als bestmöglicher Ersatz9) für die eigentliche Funktion von Musikern: vor einem Publikum zu spielen.
Milford Graves Auftritte und Aufnahmen wurden selten.
HÖRBEISPIEL: Milford Graves/David Murray: Luxor (1991)
Auch Jazz-Musiker anderer Stilrichtungen nutzten zunehmend die Möglichkeit, ihr Einkommen aus einer Lehrtätigkeit zu beziehen. Unterricht wurde zu einer wichtigen wirtschaftlichen Grundlage des Jazz. Die wachsende Zahl an Jazz-Schulen und Studenten ermöglichte das. Die Schulen brauchen viele Studenten, werben junge Leute aus wohlhabenden Verhältnissen an und überfluten den kleinen Jazz-Markt mit Schulabsolventen. Deren Chance, vom Musizieren leben zu können, ist gering.
Eine europäische Jazz-Musikerin erzählte, sie sei als Studentin – in den 1980er Jahren – den Direktor des Konservatoriums angegangen: „Wie könnt ihr so viele Menschen ausbilden, wo ihr doch gar nicht wisst, wo wir eigentlich spielen sollen. Ihr macht das doch nur, damit ihr eure Position habt.“ Danach musste sie zu Kreuze kriechen, um nicht aus dem Konservatorium geschmissen zu werden. Dabei habe sie nur die Wahrheit gesagt. Seither sei die Lage auf dem überfüllten Jazz-Markt noch wesentlich schlechter geworden.10)
Jazz-Schulen ersetzten die afro-amerikanischen Subkultur-Szenen, die die großen, kreativen Meister hervorbrachten – Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane, Steve Coleman und so weiter. Heutiger Jazz ist weitgehend Nachahmung früher entwickelter Spielweisen und Vermischung mit anderen Musikarten. Dieses Verwerten, Ausschlachten, Globalisieren einer wunderbaren Musikkultur finde ich nicht attraktiv. Ich höre die Originale. Und ein Teil der alten Subkultur ist noch lebendig, sogar sehr lebendig, wie hier zu hören ist.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Mdw Ntr (2024)
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