HÖRBEISPIEL: Dinah Washington: What a Diff’rence a Day Makes (1959)
Musik, die mich einmal bewegt hat, bleibt in der Erinnerung mit der Musikerperson verbunden. So gehört dieser Song Dinah Washington, obwohl sie ihn nicht selbst geschrieben hat. Aber sie hat ihm mit ihrer Stimme einen unvergesslichen persönlichen Stempel aufgedrückt. Im folgenden Beispiel beeindruckte mich die Melodie des Stückes und daher ist es der Komponist, mit dem das Stück verknüpft blieb:
HÖRBEISPIEL: Wave von Antônio Carlos Jobim (gesungen von Gal Costa, 1999)
In der „klassischen“ Musik ist ein gewisser Kult um Star-Interpreten üblich. Sie verleihen den alten Werken einen aktuellen Touch und tragen so dazu bei, dass die Aufführungen immer noch erfolgreiche Events ergeben. Der Spielraum der Interpreten ist allerdings gering. Sie müssen die Kompositionen notengetreu ausführen und so bleibt die Musik eindeutig das Werk der alten Komponisten.
Die Meisterwerke des Jazz sind hingegen keine Notenwerke, sondern Tonaufnahmen, die das Spiel der Meister selbst und ihrer Bands wiedergeben – mit all ihrer persönlichen Ausdruckskraft und Kunst der spontanen Gestaltung. Das macht diese Werke besonders lebendig. Ein Wiederaufführen würde viel zu viel davon über Bord werfen und dem hohen Stellenwert von Echtheit und Unmittelbarkeit in dieser Musikkultur widersprechen. Die Aufnahmen geben allerdings keinen Anlass zu geselligen Veranstaltungen. Man hört sie mehr oder weniger alleine, während die alten Kompositionen der „Klassik“ immer wieder aufgeführt werden und damit Gegenstand gesellschaftlicher Ereignisse sind.
HÖRBEISPIEL: Betty Carter: My Favorite Things (1979)
Große schöpferische Meister sind selten – in allen Musikarten. „Klassik“-Hörer bekommen stets Meisterwerke präsentiert. Was Jazz-Veranstaltungen und Jazz-Medien anbieten, liegt hingegen größtenteils weit unter dem Niveau der kreativen Meister des Jazz. Schon immer gelangte die Mehrheit der Jazz-Musiker kaum über das Nachahmen ihrer Vorbilder hinaus. In den 1950er Jahren trat im New Yorker Lokal Birdland der Tenor-Saxofonist Lester Young auf, abwechselnd mit einem seiner vielen Nachahmer. Lester Young verließ schließlich irritiert die Bühne und sagte, er wisse nicht mehr, ob er wie er selbst spielen soll oder wie der Nachahmer, da der so sehr spiele wie er.1) – Charlie Parker wurde ebenfalls von unzähligen Musikern nachgeahmt. Was als Bebop-Stil verstanden wird, ist eine formelhafte Vereinfachung, etwas völlig anderes als das kreative, tiefgründige Spiel Charlie Parkers. Mittlerweile treibt die schulische Jazz-Ausbildung das Formalisieren auf die Spitze. Ein Großteil des heutigen Jazz entspricht nur mehr oberflächlich der Musikkultur der kreativen Meister.2)
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Nature Boy (1963)
Natürlich ahmen nicht alle Jazz-Musiker nur nach. Manche bringen sogar sehr eigenwillige Kreationen hervor. Aber Jazz ist nicht alles Beliebige, was irgendwelchen Vorstellungen von Kunst entspricht und mehr oder weniger improvisiert ist. Die Herausforderung besteht darin, auf eigene Weise die Qualitäten zu erreichen, auf die es in dieser Musiktradition ankommt. Inwieweit das einem Musiker gelingt, kristallisiert sich oft erst über längere Zeit unter Insidern heraus. Manche, eher Ältere, finden keinen Zugang zum Neuen, sehen die Tradition in der neuen Form nicht oder mögen die konkrete Ausformung nicht. Louis Armstrong akzeptierte nie recht, was Charlie Parker und Dizzy Gillespie machten. Andere, oft Jüngere, sind offen genug und schätzen den frischen Wind, lassen sich aber vielleicht auch von Neuem beeindrucken, das nicht die Qualität der Meister hat. Charlie Parker erweiterte den Jazz sehr, aber auf eine Weise, die die Tradition bruchlos weiterführte. Das ist zumindest rückblickend offensichtlich.
In seinem folgenden Solo ziert er Louis Armstrongs berühmte Einleitung des West End Blues aus 1928 und das fügt sich völlig harmonisch in seine Improvisation ein.
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Cheryl (1949, Carnegie Hall)
Wie eine solche organische Weiterentwicklung zustande kommen kann, wird an Steve Colemans Beispiel deutlich, denn im Gegensatz zu seinen Vorgängern spricht er ausführlich über seine Erfahrungen. Jungen Musikern empfiehlt er, möglichst viel mit älteren Meistern beisammen zu sein, sodass sie durch den persönlichen Kontakt in diese Kultur eingeführt werden. Er hat das in der Szene des afro-amerikanischen Viertels von Chicago, in dem er aufwuchs, selbst erlebt. Davor prägte ihn die afro-amerikanische Subkultur mit ihrer Tanzmusik, mit ihrem Sinn für Rhythmus, Bewegung, Stil und so weiter. Diese Erfahrungen spielten in der Entwicklung seines Musikempfindens eine große Rolle.3)
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Little Girl On Fire (1993)
Der Schlagzeuger Max Roach, der in den 1940er Jahren Charlie Parkers Partner war, sagte im Alter zum wesentlich jüngeren Steve Coleman: Die jungen Musiker von heute können nicht dasselbe machen wie seine Generation. Steve Coleman war das bewusst und er beabsichtigte das auch nicht. Er fand, alles ändere sich nun einmal, man kann zwar Dinge in einem Museum bewahren, aber die wirkliche Sache stirbt.4) Musiker wie Charlie Parker waren die Besten ihrer Ära und erreichten im damaligen Stil eine außerordentliche Tiefe. Auch was sein Mentor Von Freeman machte, sei sehr, sehr tiefgehend. Um so tief in seinen Stil hineinzugelangen, müsste man sein ganzes Leben mit Nachahmen verbringen, was hieße, seine Zeit zu vergeuden. Denn wie Max Roach sagte: „Wir machten es bereits.“5)
HÖRBEISPIEL: Von Freeman: Young And Foolish (1977)
Von Freeman erzählte Steve Coleman, wie er die melodische Gestaltung eingehend erforschte. Er habe sich monatelang mit einem Ton beschäftigt und sich dann angesehen, was man mit zwei Tönen alles machen kann, und das habe noch viel länger gebraucht. Dann arbeitete er mit drei Tönen und so weiter. Um zu verstehen, was Von Freeman damit meinte, braucht es nach Steve Colemans Erklärung viel Erfahrung.6) Aber ich denke, man merkt zumindest, dass sich Von Freeman in sehr elementarer Weise mit der melodischen Gestaltung auseinandergesetzt hat.
HÖRBEISPIEL: Von Freeman: Bye Bye Blackbird (1977)
Steve Coleman beginnt beim Üben oft mit Material aus der Vergangenheit, zum Beispiel mit Charlie Parkers Musik, und erkundet dabei die melodische Kunst der alten Meister. So präpariert er sich, um auf ihr Niveau zu gelangen. Dann geht er zunehmend zu seiner eigenen Musik über und achtet dabei darauf, dasselbe hohe Niveau zu erreichen. John Coltrane entwickelte seine Musik ähnlich.7) Steve Colemans Herangehensweise zeigt sich bei Auftritten, indem er manchmal Songs aus der Vergangenheit anklingen lässt, allerdings völlig integriert in seinen eigenen Stil, zum Beispiel folgendes Charlie-Parker-Stück:
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Ah-Leu-Cha (1948)
In Steve Colemans Bearbeitung klingt das dann zum Beispiel so:
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Ah-Leu-Cha (2001)
Nach Steve Colemans Verständnis geht es in dieser Musik letztlich darum, auszudrücken, was man ist – nicht, wer man sein möchte oder für wen man sich hält, sondern was man im Innersten tatsächlich ist – emotional, großteils unbewusst, mit aller persönlichen Erfahrung. Über Jahre hat er mit Meditation und Imagination trainiert, sich so tiefgründig auszudrücken.8) Und das trägt wesentlich dazu bei, dass seine Musik so einzigartig klingt.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman's Natal Eclipse: Dancing and Jabbing (2016)
Schulen vermitteln einen anderen Zugang. Der Schlagzeuger Marvin „Smitty“ Smith, der selbst eine renommierte Jazz-Schule besuchte, sagte: „Sie formulieren heute alles.“ Aber das sei nicht die Art, wie sich diese Musik entwickelte. Sich selbst entdecken, das könne niemand mit einem teilen. Es sei eine große, aufregende Herausforderung, denn man muss sich selbst auf die Suche machen.9)
Die Ausbildung der Meister bestand einerseits aus einem intensiven eigenen Erforschen und Entwickeln und andererseits aus viel Kontakt zu erfahrenen Insidern dieser Musikkultur.10) Dazu muss aber auch eine entsprechende Szene vorhanden sein und die braucht eine geschäftliche Basis. Die Flut von Schulabgängern saugt heute das ohnehin spärliche Jazz-Geschäft weitgehend auf. Aber gerade der nicht-schulische, unkonventionelle Geist des Jazz war entscheidend für seine Entstehung, für seine laufende Weiterentwicklung und für seinen besonders lebendigen, lässigen Charakter. Mehr dazu im nächsten Video.
Belege für meine Aussagen findet man – wie immer – auf meiner Website. Links stehen im Video-Text.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman's Natal Eclipse: Dancing and Jabbing (2016)
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