Das Jazzinstitut Darmstadt bespricht in seinem diesjährigen Forum (2025) die
Bedeutung von Spiritualität im Jazz und das Widerspiegeln gesellschaftlicher
und globaler Verhältnisse.
Diese Themen sind auch Teil meiner Video-Reihe Jazz-Spirit und in der geht es um Meister wie Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane, Steve Coleman und so weiter. Aufgrund ihrer zentralen Bedeutung im Jazz sind in erster Linie ihre Anliegen, Botschaften, Hintergründe interessant und für das Verständnis dieser Musikkultur wichtig.
Die Bedeutung der Spiritualität sehe ich so:
Wir Menschen denken ständig, produzieren Vorstellungen, leben in ihnen. Manche Vorstellungen erweisen sich als verfehlt, manche bewähren sich, erfassen reale Zusammenhänge, ergeben Wissen und ermöglichen damit erfolgreiches Handeln. Oft dienen Vorstellungen aber auch einfach dazu, emotional zu stimulieren – anzuregen oder zu beruhigen, Zuversicht, Lebensmut, Wohlbefinden zu verschaffen, die Realität erträglich zu machen – in Form von Hoffnungen, Fantasien, Geschichten, Glauben. Aus solchen Vorstellungen besteht, was „Spiritualität“ genannt wird. Musik dient ebenfalls dem puren Stimulieren, belebt motorisch, emotional, geistig und wird mit allen möglichen Vorstellungen verbunden – romantischen, spirituellen, politischen und so weiter. Die Musik ist jedoch nicht an die Vorstellungen der Musiker gebunden und kann noch unmittelbarer, noch stärker wirken. John Coltranes Gebet, das er seinem Album A Love Supreme zugrunde legte, wirkt naiv, die Musik hingegen tiefgründig.
In jungen Jahren beeindruckten mich Sun Ras bunte Auftritte und fantastischen Geschichten. Heute finde ich diese theatralischen, show-artigen Elemente eher peinlich und die Musik schrill, aber nicht spannend. Mit den afrozentrischen Ideen, die Sun Ra inspirierten, beschäftigte ich mich in Bezug auf Coltrane und Steve Coleman und ich verstehe sie als Ringen um eine würdevolle afro-amerikanische Identität anstelle der aufgezwungenen, beschämenden. Dieses Ringen trägt zur Kraft der Musik bei und ist insofern eine Stärke dieser Kultur. Faszinierend ist für mich aber die unmittelbare Wirkung der Musik, nicht der weltanschauliche, spirituelle, gesellschaftliche Hintergrund, über den sich nun einmal leichter reden und schreiben lässt als über die Musik.
Die Spielweisen der kreativen Meister werden weltweit nachgeahmt, mit anderen Musikarten vermischt und verwässert – besonders, seit Jazz-Schulen den kleinen Jazz-Markt mit Schulabsolventen überschwemmen. Mit den Jazz-Schulen etablierte sich die akademische Jazz-Forschung. Die versucht nicht wie Jazz-Kritiker früher, die bedeutendsten Jazz-Beiträge herauszufiltern, sondern behandelt alles, was „Jazz“ genannt wird, als gleichwertigen Forschungsgegenstand. So wird nach dem Programm des Darmstädter Jazz-Forums heuer ein Ethnologe über Jazz in Madagaskar sprechen, ein afrikanischer Musikwissenschaftler über Jazz in West-Afrika, ein christlicher, deutscher Musiker, der Jazz für Kirchenmusik verwendet, über „spirituellen“, „sakralen“ und „liturgischen“ Jazz, ein bayrischer Musiklehrer, der Jazz mit alpenländischer Volksmusik verbindet, über seine Improvisationsweise. Eine Kulturanthropologin, eine Medien- und Kommunikations-Expertin, eine Musikpädagogin werden Vorträge halten und so weiter. Für diese Mitwirkenden ist das Jazz-Forum gewiss eine willkommene Gelegenheit, sich mitzuteilen und auszutauschen, aber die Relevanz ihrer Beiträge ist natürlich sehr begrenzt.
Staatliche Jazz-Förderungen fördern heute nicht das Kulturgut Jazz, sondern den heimischen Markt, heimische Berufsgruppen und Institutionen, die für die Jazz-Kultur selbst kaum noch förderlich wirken. Nationalistische Sichtweisen setzten sich durch: In Bremen wird die jährliche Fachmesse jazzahead veranstaltet und dabei deutscher Jazz als German Market und German Jazz Expo präsentiert. Ebenfalls jährlich wird mit beträchtlichem öffentlichem Geld und mit medialer Präsenz der Deutsche Jazzpreis vergeben – als wäre Deutschland dazu berufen, die Beiträge zu dieser ihrem Wesen nach außer-europäischen Musikart zu bewerten, und laufend werden weitere Preise verliehen – größtenteils an Musikerinnen und Musiker der heimischen Jazz-Szenen. Ähnliche Förderungen gibt es auch in einigen anderen europäischen Ländern. Jazz-Interessierten wird ein stark verzerrtes Bild dieser Musikart vermittelt. Forscher, Lehrer, Juroren, Leute, die als Jazz-Experten auftreten, scheinen oft selbst wenig Verständnis für die Musikkultur der Meister zu haben und daher die wirklich wertvollen Beiträge nicht zu erkennen.
Divers und global ist der „Jazz“ genannte Musikbereich seit jeher. Will man mitbekommen, was die Musik der Meister so herausragend macht, dann muss man ein wenig über das Getümmel der Jazz-Szene hinausschauen und sich auf die Kultur der Meister einlassen, Gespür für ihre besonderen Qualitäten, ihren speziellen Reiz entwickeln – so, wie es alte Jazz-Fans machten. Und es gibt auch heute eine Menge junge Leute, die für eine aktuelle Form dieser großartigen Musik empfänglich sind, wie in folgendem Konzertmitschnitt aus Frankreich zu hören ist. Wer sich als Jazz-Experte betrachtet, sollten da nachziehen.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: 9 to 5 (2024)