Die Schulbücher für den Musikunterricht charakterisieren den Jazz mit etwas unterschiedlichen Schwerpunkten. Zusammengenommen kann man aus ihnen folgende 8 Jazz-Merkmale herausfiltern:
Nun zu den einzelnen Punkten:
die Improvisation:
Sie hat im Jazz eine zentrale Bedeutung. Darum gehe ich im nächsten Video näher auf sie ein.
eine spezielle Rhythmik mit einem Feeling, das Swing oder Groove genannt wird:
Der Rhythmus ist im Jazz nicht nur als Fundament der Musik wichtig, sondern insgesamt drückt der Jazz viel an rhythmischer Bewegung aus. Manche Schulbücher versuchen, Swing theoretisch zu erklären. Mehr dazu im übernächsten Video.
persönlicher Ausdruck:
In der „klassischen“ Musik gibt es einerseits die Komponisten, die Werke in Notenschrift verfassten, und andererseits Musiker, die die Werke möglichst notengetreu ausführen. Die Ausführung ist so standardisiert, dass jeder Musiker ohne Weiteres ersetzt werden kann. Im Jazz ist das ganz anders. Da sollen die Musiker selbst gestalten. Sie verwenden zwar oft ein Stück, das sie nicht selbst geschrieben haben. Aber sie benutzen es nur als Ausgangsmaterial. In ihren Improvisationen versuchen sie, einen eigenen Beitrag mit persönlichem Charakter hervorzubringen. In ausgeprägter Form gelingt das allerdings nur einer begrenzten Zahl von Musikern. Die meisten lehnen sich weitgehend an Vorbilder an und unterscheiden sich daher nur relativ wenig voneinander.
expressive Klangfarben:
In der „klassischen“ Musik müssen die Instrumente stets in derselben reinen Art klingen. Im Jazz hingegen wird eine reiche Palette an Klangfarben genutzt. Schulbücher bezeichnen sie als veränderte, verschleierte Töne, Dirty Tones, Growls (also raue, heisere Klänge), sogar als unnatürliche Töne. Das ist eine typische Sichtweise der „klassischen“ Musik. In Wahrheit sind die Klänge des Jazz keineswegs unnatürlich oder schmutzig.
flexible Tonhöhen:
In der „klassischen“ Musik wird großer Wert auf sauberes, harmonisches Zusammenklingen gelegt und daher müssen die Instrumente nicht nur mit neutralen Klangfarben, sondern auch exakten Tonhöhen gespielt werden. Im Jazz besteht dieser Reinheits- und Harmonie-Anspruch nicht. Somit ist eine gewisse Flexibilität der Tonhöhen möglich und die wird für den persönlichen Ausdruck genutzt. Schulbücher sprechen in diesem Zusammenhang von Schleiftönen, Glissandi (also gleitenden Tonhöhen), Smears (verschmierten Tönen), einer Hot Intonation oder Dirty Intonation. Hier zeigt sich wieder die Perspektive der „klassischen“ Musik. Was die Meister des Jazz mit flexiblen Tonhöhen und expressiven Klangfarben erreichen, ist in Wahrheit eine sehr kunstvolle Klanggestaltung mit großartiger Ausdruckskraft. Niemand sagt, John Coltrane spielt verschmiert oder schmutzig. Das wäre einfach lächerlich.
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Out Of This World (1962)
Call and Response:
Also Ruf-und-Antwort. In Bigbands antwortet oft eine Bläsergruppe auf die Rufe der anderen Bläsergruppe. Zum Beispiel rufen die Blechbläser, also Trompeten und Posaunen, und die Saxofone und Klarinetten antworten. Wie in folgendem Beispiel:
HÖRBEISPIEL: Bennie Moten's Kansas City Orchestra: Lafayette (1932)
Das Ruf-und-Antwort-Spiel gibt es auch in anderen Musikarten. Im Jazz spielt jedoch eine spontane musikalische Kommunikation eine große Rolle und da kommt es viel auf geschicktes Antworten an.1) Solisten werden oft mit einer laufenden Beantwortung ihrer Improvisationen begleitet.
Blues-Einfluss:
Viele frühere Jazz-Musiker waren stark von der Blues-Musik geprägt. Was sie vom Blues in den Jazz brachten, das sind nach den Schulbüchern vor allem die so genannten Blue Notes. Damit sind drei Noten der Tonleiter gemeint, die etwas tiefer gespielt werden, als das Notensystem vorsieht. Der Blues wird aber nicht erfasst, indem man einfach Blue Notes in das Notensystem einfügt. Auch besteht der Blues nicht einfach aus dem so genannten Blues-Schema, das in Schulbüchern ebenfalls oft erwähnt wird. Es ist eine bestimmte Liedform mit bestimmten Akkorden, die im Blues üblich wurde. Der Blues ist viel mehr als das und sein Einfluss auf den Jazz geht viel weiter. Der Blues beruht auf einem Musikverständnis, das grundlegend von der europäischen Musiktheorie abweicht.2)
eigenes Verhältnis zur Harmonik:
In manchen Schulbüchern wird von einer eigenen Jazz-Harmonik gesprochen, die ein weiteres Merkmal sein soll. Ein Schulbuch versteht darunter bestimmte typische Akkorde und nennt als Beispiel einen Song des brasilianischen Komponisten Antônio Carlos Jobim. Der war aber nicht einmal ein Jazz-Musiker und schon gar nicht repräsentativ für den gesamten Jazz. In Wahrheit gibt es im Jazz alle möglichen Tonkombinationen bis hin zu afrikanischen und asiatischen Einflüssen und avantgardistischen Tonsystemen. Die Eigenständigkeit der Jazz-Tradition geht tiefer: Die Meister des Jazz gestalten ihre Musik grundsätzlich mit einem freieren, kreativen Zugang, der deutlich vom engen harmonischen Verständnis der Musikschulen abweicht. Davon ist in den Schulbüchern jedoch keine Rede.
So viel zu diesen 8 Merkmalen. Man muss allerdings noch dazu sagen: Sie gelten keineswegs für alles, was als Jazz bezeichnet wird. Im Großen und Ganzen gelten sie aber zumindest für die afro-amerikanische Jazz-Tradition, die von den großen, kreativen Meistern des Jazz repräsentiert wird – vor allem von Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane und in neuerer Zeit von Steve Coleman.
Wenn man mitbekommen will, was diese großartige und sehr hippe Musikkultur tatsächlich ist, dann genügt es nicht, ein paar Merkmale aufzuzählen. Es muss sich ein Gespür für sie entwickeln und das kommt nur durch häufiges Hören der echten Meister zustande.
Mehr zu den besonderen Qualitäten des Jazz auf meiner Website. Dort kann man auch die Musik in meinem Radioprogramm hören und das Video steht in Textform zur Verfügung. Die Adressen stehen in den Video-Infos.
Mehr zu den speziellen Qualitäten des Jazz: Link
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