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„Die Menschen in Afrika hören der Musik nicht zu, sie tanzen sie. Sie hören mit den Füßen“. (Manu Dibango)1)
Traditionelle west-afrikanische Trommelmusik ist in der Regel untrennbar mit Tanz verbunden.2) Manche Meistertrommler riefen mithilfe ihrer Trommelsprache die Namen einzelner Personen auf, forderten sie zum Tanzen auf und stimmten als Leiter ihrer Trommelgruppe die Rhythmen auf die Bewegungen sowie die Fähigkeiten der Tänzer ab. Sie waren Zeremonienmeister, die für ein gelungenes Zusammenspiel mit den Tänzern und für ein erfreuliches Erlebnis aller Beteiligten verantwortlich waren.3) – Weil Musik und Tanz in west-afrikanischen Kulturen eine zentrale Bedeutung hatten und eine der wenigen Stücke Heimat waren, die die versklavten und verschleppten Afrikaner mitnehmen konnten, pflegten sie diese Traditionen in Amerika, wo ihnen das möglich war. Besonders viel davon bewahrten bestimmte religiöse Traditionen in Lateinamerika, etwa in Kuba und Brasilien. Aber auch zum Beispiel die weltliche afro-kubanische Rumba-Musik enthält starke west-afrikanische Anteile und in ihr kommunizieren Trommler ebenfalls mit Tänzern. So treten in der Columbia genannten Form der Rumba abwechselnd Solo-Tänzer in den Kreis der Zuschauer und messen sich in einem Zusammenspiel mit dem führenden, improvisierenden Trommler.4)
In Nordamerika waren die Bedingungen für eine Fortführung afrikanischer Traditionen wesentlich ungünstiger, doch behielt auch hier rhythmischer, bewegungsintensiver Tanz einen hohen Stellenwert für viele Afro-Amerikaner. Für sie war er nicht bloß Unterhaltung, sondern ein Lebenselixier, das auch im religiösen Bereich wichtig war, was aus christlicher, insbesondere protestantischer Sicht gotteslästerlich war. Einen Kompromiss fanden Versklavte im Ring-Shout, bei dem sie sich zu hitzigem Gesang und antreibenden Rhythmen, die sie durch Klatschen und Stampfen erzeugten, mit schlurfenden Schritten zunehmend schneller im Kreis bewegten. Sie fassten dieses intensive rhythmische Bewegen nicht als Tanz auf, solange die Beine nicht überkreuzt wurden, und traten mithilfe dieses auf afrikanischem Verständnis beruhenden religiösen Rituals in Kontakt zu Gott, der nach ihrer Auffassung ihren Körper betrat und den Zustand der Trance auslöste. Bis in die Gegenwart ist in manchen afro-amerikanischen Kirchen Religionsausübung mit Rhythmus, Tanz und Besessenheit verbunden. – Aber auch im weltlichen Bereich entwickelten die Nachfahren der aus Afrika Verschleppten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln eine Reihe eigener Musikformen und Tänze, die dann die westliche populäre Musik- und Tanzkultur grundlegend veränderten. Wie sie mit ihren Rhythmen den von europäischer Kultur geprägten Westen in Bewegung versetzten, lässt zum Beispiel folgender Bericht aus dem Jahr 1918 über einen Auftritt des afro-amerikanischen Militärorchesters von James Reese Europe in Frankreich erkennen: „Kornettisten und Klarinettenspieler begannen die Töne in jenen typischen Rhythmen zu artikulieren (jenen Rhythmen, die noch kein Künstler jemals hat zu Papier bringen können). Und als die Trommler loslegten, begannen ihre Schultern im Rhythmus ihrer synkopierten Schläge zu schwingen. Dann schien es, als geriete das ganze Publikum in Schwingungen. Würdevolle französische Offiziere begannen mit den Füßen zu stampfen, ebenso wie der amerikanische General, der zwischenzeitlich Stil und Würde zu verlieren schien. [...] Das Publikum war außer Rand und Band, der Jazz-Bazillus hatte sie angesteckt, es schien, als hätte er ihr vitales Zentrum getroffen und all ihre Muskeln gelöst.“5)
Jazz diente lange Zeit vor allem als Tanzmusik6) – unter freiem Himmel, in Kneipen7), auf Partys und in Tanzsälen8). Chick Webb, dessen Orchester in den 1930er Jahren die Hausband eines der bekanntesten Tanzsäle Harlems, dem Savoy Ballroom, bildete, sagte: Wenn zu viele Leute sitzen blieben und nur zuhörten, dann „wussten wir, wir spielten schlecht. Wir müssen ihre Füße zwingen zu tanzen, sie müssen einfach nicht widerstehen können, erst dann ist die Musik wirklich gut.“9) Duke Ellington trat mit seinem Orchester damals ebenfalls in Tanzsälen auf und erklärte: „Die Beine der Tänzer sind im Grunde nichts anderes als die Instrumente der Musiker. Auch die Füße machen Musik.“10) Der Posaunist Dicky Wells, der ab 1938 in Count Basies Band spielte, fand: „Es war einfach mehr Seele drin, als Jazz und Tanzen zusammengehörten.“11) Count Basie, der seine besonders stark swingende Bigband vom Klavier aus leitete, erzählte: Wenn er ins Publikum hinunterschaut, dann picke er sich manchmal ein Pärchen oder einen Einzelnen heraus. „Dann spiele ich diese Person an. […] Ich bearbeite diesen Menschen und wenn ich ihn dann dazu kriege, irgendetwas zu tun, sag ich: Hab ich dich.“12) – Man möchte fast meinen, Count Basie wäre von einem west-afrikanischen Trommelmeister unterrichtet worden, wie John Miller Chernoff, der in Ghana Trommeln lernte13) und Folgendes berichtete: Als er beim Spielen die Augen schloss, um zu verhindern, dass ihm der Schweiß in die Augen läuft, rief sein Lehrer: „John, he John, schläfst du? Schau mich an: schlafe ich etwa beim Spielen?“ Ein Trommler müsse die Menschen um sich wahrnehmen und auf sie reagieren. Meistertrommler beobachten die Füße der Tänzer und die Bewegungen ihres Körpers und je nachdem, wie der Tänzer seine Schritte wählt, begleiten sie ihn auf ihrer Trommel.14) Der Lehrer erklärte Chernoff, wie die Trommler bei einem bestimmten Tanz die Tänzer umkreisen, und dabei könne man dann mit dem Klang der Trommel einen Tänzer so treffen, dass „er sich nach innen bewegt, und du kannst ihm folgen und die Trommel bis in sein Inneres hineinschlagen. Dann wird er glücklich sein und sehr gut tanzen.“15)
Jazz begleitete bis in die 1960er Jahre16) auch Stepptänzer in Shows von Nachtlokalen17) und in Filmen – zunächst etwa Bill „Bojangles“ Robinson18), später unter anderem die eleganten Tänzer Charles „Honi“ Coles und Charles „Cholly“ Atkins sowie die Akrobatik mit Eleganz verbindenden Nicholas Brothers und Berry Brothers. Viele früheren Jazz-Schlagzeuger waren ursprünglich selbst Stepptänzer, unter anderem Jo Jones und Philly Joe Jones, und Max Roach sagte, er habe viel von Stepptänzern gelernt, vor allem von Baby Laurence19). Miles Davis erzählte: „Ich sah und hörte Stepptänzern unheimlich gern zu. Ihr Klacken klingt wie Musik. Das sind schon fast Drummer und allein vom Rhythmus ihrer Taps kannst du viel lernen. Tagsüber trafen sie sich immer vorm Minton’s20) und forderten sich gegenseitig auf dem Bürgersteig raus. Ich erinnere mich ganz besonders an die Duelle zwischen Baby Laurence und einem unheimlich großen, dürren Kerl namens Ground Hog. […] Meistens stand ’ne Menge Leute um sie rum und sie tanzten wie die Wahnsinnigen. Mann, Baby Laurence war so unglaublich, man kann's einfach nicht beschreiben. Aber Ground Hog hat sich von Baby nichts vormachen lassen. [...] Barney Biggs war ein anderer toller Stepptänzer, genau wie ein Typ namens L. D. oder Fred und Sledge und die Step Brothers. Die meisten dieser Jungs waren drogensüchtig […] Wenn du nicht in warst, hattest du keine Ahnung, was da vorm Minton’s abging. Von Fred Astaire und anderen weißen Tänzern redeten diese Jungs, als wären sie nichts – und sie waren auch tatsächlich nichts im Vergleich zu ihnen. Aber sie waren schwarz und brauchten sich keine Hoffnungen zu machen, dass sie jemals den Durchbruch schafften und durchs Tanzen zu Geld und Ruhm kommen würden.“21)
In den 1950er Jahren wurde der Jazz als Tanzmusik zunehmend von anderen afro-amerikanischen Musikarten und von lateinamerikanischer Musik abgelöst. Zwar gab es auch weiterhin dem Jazz zugerechnete Richtungen, die an Tanzmusik anknüpften: in den 1950er und 1960er Jahren zum Beispiel so genannten Soul-Jazz22) und Latin-Jazz23), ab ungefähr 1970 vor allem das, was als Funk-Jazz24) und Fusion25) bezeichnet wurde, sowie ab ungefähr 1990 Verbindungen von Jazz mit Rap26). Aber selbst diese Stilarten hatten in der Regel keine primäre Tanzfunktion und außerdem im Jazz-Kontext eher geringe künstlerische Bedeutung.
Andererseits spielten manche Jazz-Musiker schon lange, bevor der Jazz als Tanzmusik an Bedeutung verlor, eine kunstvolle Musik, die weniger als Tanz- und Unterhaltungsmusik zu verstehen war. Bereits in den 1930er Jahren entfaltete zum Beispiel der Pianist Art Tatum27) in seinen Improvisationen einen solchen rhythmischen und harmonischen Reichtum, dass seine Musik verstärkte Aufmerksamkeit erforderte. In den 1940er Jahren schlug im Zuge der Bebop-Bewegung eine ganze Reihe junger Musiker eine Richtung ein, die bewusst von der Funktion des Jazz als Tanzmusik wegführte und zum konzentrierten Zuhören herausforderte. Im Grunde gaben diese Musiker die Verbindung zum Tanz jedoch nicht auf und es wurde zu ihrer Musik mitunter auch tatsächlich getanzt, nicht nur vom oben erwähnten Stepptänzer Baby Laurence, sondern auch von manchem Publikum.28) Der zum Bebop-Kreis zählende Dizzy Gillespie sagte: „Meine Musik ist mehr zum Hören bestimmt, aber dennoch bringt sie dich dazu, mit dem Kopf zu wackeln und mit dem Fuß zu klopfen. Wenn ich ins Publikum schaue, während wir spielen, und niemand macht das, dann weiß ich, dass wir das Publikum nicht wirklich erreichen.“29) – John Miller Chernoff erzählte: In einer Bar in Ghana hörte ein Amerikaner der Musik zu und wippte dabei mit dem Fuß. Plötzlich zeigten Leute lachend auf seine Zehen und meinten: „Oh, du versuchst ja zu tanzen, prima!“30) Afrikanische Musik ist nach Aussage des Musikethnologen Richard Waterman in der Regel als Tanzmusik zu verstehen, selbst wenn der Tanz nur innerlich stattfindet.31) Auch Jazz, der nicht mehr eine Tanzfunktion erfüllt, braucht größtenteils den inneren Tanz, um adäquat gehört zu werden. Allerdings wurde es für Hörer allmählich schwieriger, den Groove der Musik zu fühlen, denn die sich laufend verändernden, improvisierten Teile nahmen zu und die beständigen ab.32) Tanzmusik bevorzugt leicht erkennbare, verlässlich wiederkehrende Strukturen: Patterns33), Riffs34) und/oder eine Betonung des Beats. So erzeugten in den 1920er Jahren die Stride-Pianisten35), die unter anderem auf Rent-Partys36) ohne weitere Instrumente für Tanzmusik sorgten, mit der linken Hand ein kräftiges „Um-Ta, Um-Ta …“ im tieferen Tonbereich, während sie mit der rechten Hand oft kühne Improvisationen darüber legten, die den Grundrhythmus belebten. Art Tatum spielte dann den Stride-Rhythmus einmal mit atemberaubend virtuosen Überlagerungen und dann deutete er ihn wieder nur vorübergehend an, sodass sein überquellendes Klavierspiel für Tanzmusik zu wenig konstant gewesen wäre. Sein sich ständig wandelndes, vor Einfällen sprudelndes Spiel hatte aber dennoch einen starken Rhythmus, sodass (zumindest in seinen schnelleren Stücken) der innerliche Tanz einen wesentlichen Teil des Hörvergnügens bildet. – Abgesehen von dieser Solo-Klaviermusik wurde der Grundrhythmus im Jazz vor allem von Bass und Schlagzeug bereitgestellt, wobei der Part des Schlagzeugs bald zunehmend leichter und unbeständiger wurde, sodass als konstantes Element oft nicht viel mehr als ein dezentes Pulsieren des Basses im Hintergrund übrig blieb. Und schließlich deutete auch der Bass den Beat häufig nur mehr an.37) Um das vielfältige und vielschichtige rhythmische Geschehen nachvollziehen zu können, mussten Hörer somit zunehmend in der Lage sein, es auf einen Grundrhythmus zu beziehen, der immer weniger tatsächlich hörbar war. Ist man mit den jeweiligen Spielweisen des Jazz vertraut, so stellt sich eine Art „Metronom-Sinn“ ein, wie der erwähnte Musikethnologe Waterman in Bezug auf afrikanische Musik die Fähigkeit nannte, einen Beat zu fühlen, der in der Musik nur indirekt ausgedrückt wird.38) Selbst gewisse Solo-Saxofon-Improvisationen können dann trotz des Fehlens jeder Begleitung und trotz ständiger Veränderung als groovend empfunden werden.39)
In der um 1960 begonnenen Free-Jazz-Bewegung wurde häufig jede rhythmische Regelmäßigkeit vermieden, sodass der innerliche Tanz nicht deshalb zum Erliegen kam, weil Rhythmusstrukturen für Hörer zu kompliziert und ihr Groove daher nicht mehr nachfühlbar gewesen wären, sondern weil solche Strukturen schlicht nicht mehr vorhanden waren. Viele Hörer verloren an diesem Punkt das Interesse an aktuellen Entwicklungen des Jazz und die Verbliebenen waren mehr oder weniger auf jenen europäischen „Kunst“-Zugang angewiesen, der im Zusammenhang mit der „Moderne“ entstanden war und in wenig lustvoller klanglicher, bildender oder darstellender Kunst einen intellektuellen Wert sieht. Aus einer solchen Perspektive erschienen Tanz und Freude an Melodik ohnehin als wenig ernsthaft, rückständig und eher einfältig. Zwar orientierten sich viele Free-Jazz-Musiker keineswegs an europäischer Kultur, distanzierten sich von ihr sogar, doch bot ihre Musik oft so wenig an unmittelbar musikalischer Qualität (Rhythmus, Melodie, Harmonie), dass auf der Hörerseite kaum40) ein anderer Zugang als der der europäischen „Moderne“ übrig blieb. Bezeichnenderweise fand der Free-Jazz in Europa wesentlich mehr Anklang als in den USA, von wo er kam, und manche Musiker, die der Free-Jazz-Bewegung zugerechnet werden, hatten sich durchaus selbst den Musikauffassungen europäischer Konzertmusik angenähert. Praktisch zu allen Zeiten der Jazz-Geschichte bestanden auch Stilrichtungen, die stärker an europäischer Kunstmusik ausgerichtet waren, und sie haben gemeinsam, dass in ihnen Swing, Groove und damit das Tanzelement weniger zum Zug kamen.
In den 1980er Jahren stellte der junge afro-amerikanische Alt-Saxofonist Steve Coleman fest, dass viele seiner gleichaltrigen Kollegen eine Weiterentwicklung des Jazz nach dem Vorbild der europäischen Konzertmusik anstrebten und den Schwerpunkt dementsprechend im harmonischen Bereich setzten. Coleman dachte sich: „Nein, das ist nicht unsere Musik. Unsere Musik hat den Rhythmus als unverzichtbare Sache zur Basis.“ Ältere Musiker wie Sonny Rollins, Dizzy Gillespie und Von Freeman bestätigten ihm, dass es in erster Linie der Rhythmus ist, der diese Musik unterscheidet. Unter Rhythmus verstand Coleman, „was diese afrikanischen Musiker machten und was auf verschiedene Weise in Brasilien, Kuba, Belize, in den USA und so weiter umgeformt wurde“.41) Auch war „Freiheit“ im Sinn von Free-Jazz längst ein Thema älterer Musikergenerationen, als Coleman in den 1980er Jahren an einem eigenen Rhythmuskonzept arbeitete. Er entwickelte eine stark groovende Musik mit anspruchsvollen Strukturen, die besonders in rhythmischer Hinsicht Meisterschaft erforderten, um über ihnen freizügig und stimmig zu improvisieren. Trotz ihrer Komplexität war ihm eine nicht auf Notenschrift bezogene Herangehensweise wichtig und deshalb forderte er bei Proben Musiker öfters auf: „Zähl’ nicht, tanze!“42) Mehrere Jahre lang trat er mit einer Tänzerin auf und er setzte immer wieder afro-kubanische und afro-brasilianische Trommler ein, die von afrikanisch geprägten Tanzmusiktraditionen herkamen. Im Jahr 1993, als Colemans Musik noch offensichtlicher mit der Funkmusik seiner Jugendzeit verbunden war als später, fand ein Jazz-Kritiker, sie sei die „raffinierteste Tanzmusik aller Zeiten“43). Tatsächlich war sie allerdings bereits damals viel zu kompliziert, um zu ihr ohne viel Konzentration in einem geselligen Rahmen tanzen zu können, wie man es sich von einer Tanzmusik erwarten würde. Aber zumindest ein innerlicher Tanz ist für ein angemessenes Hören der Musik Colemans unbedingt erforderlich. Fühlt man ihren Groove, so lassen sich von ihm aus die Rhythmen in ihrer ständig wandelnden Mehrschichtigkeit plastisch erleben. Und dann werden auch die melodischen Improvisationen mit ihrem tänzerischen Charakter erfassbarer.
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