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Timing


„Eine der interessantesten musikalischen Offenbarungen, die ich in meinem Leben erfahren habe, erlebte ich im Laufe der letzten Jahre durch das Studium des west-afrikanischen Tanztrommelns und durch das Spielen von Jazz, Hip-Hop und Funk. Die Offenbarung war, dass das simpelste sich wiederholende musikalische Muster mit einem Universum von Ausdruck getränkt sein kann. Ich habe oft miterlebt, wie der Perkussionist und Lehrer C.K. Ladzekpo aus Ghana die Musik unterbrach, um seine Studenten zu schelten, weil sie ihre Parts ohne Emotion spielten. Man mag sich fragen, wie viel Emotion man auf einer einzelnen Trommel übermitteln kann, deren Tonumfang, Klangfarbe und eigene rhythmische Darstellung so begrenzt sind, dass die einzigen beiden Elemente, die einem zur Verfügung stehen, Intensität und Timing sind. Dennoch wurde ich davon überzeugt, dass gerade mit diesen beiden Elementen eine Menge ausgedrückt werden kann.“ (Vijay Iyer)1)

Das Timing betrifft die subtile zeitliche Platzierung der Töne in der Ausführung der Musik. Töne können ziemlich exakt im Grundrhythmus oder eine Spur verschoben sein, und zwar in unterschiedlichem Maß vorgezogen oder verzögert sein und damit in gewissen mikro-zeitlichen Beziehungen zu den Tönen der Mitspieler stehen. Die Leitlinie für das Timing ist in Groove-Musik stets ein im Tempo konstant gehaltener Puls, der allerdings auch indirekt dargestellt und mehr gefühlt als tatsächlich gespielt sein kann2). In Bezug auf den gleichbleibenden Puls sind bereits winzige zeitliche Abweichungen wahrnehmbar und sie färben das Bewegungsgefühl, zu dem der Rhythmus anregt. Solche feinen Verschiebungen tragen wesentlich zu einem kunstvollen rhythmischen Ausdruck bei, der ebenso bedeutend sein kann wie andere musikalische Qualitäten. Musikkulturen, die auf ihn Wert legen, pflegen eine spezifische Ästhetik des Timings und erfordern ein entsprechendes Gespür. Auch als Hörer eröffnet sich einem die rhythmische Ausdruckskraft einer solchen Musik, je mehr sich durch Einfühlen in ihren Groove das Empfinden für ihre spezielle Art der subtilen Gestaltung entwickelt.

Der Swing des Jazz ist eng mit einer Vorliebe afro-amerikanischer Subkultur für lockere, lässige Körperbewegung verbunden. Sie wird in der Musik häufig durch eine zurückgelehnte Spielweise ausgedrückt, die die Musik aber nicht bremst, sondern ihr vielmehr einen eleganten Schwung verleiht. Töne, die den Beat unterteilen (Swing-Achteln3)), werden oft ein wenig verzögert gespielt und ergeben dadurch zum nächsten Beat hin zugleich eine kleine Beschleunigung, da der Beat konstant bleibt.4) Auch spielen Bandmitglieder häufig insgesamt in einem etwas unterschiedlichen Verhältnis zum Beat. So kann sich zum Beispiel dadurch, dass der Schlagzeuger dem Bassisten tendenziell ein kleinwenig vorauseilt beziehungsweise der Bassist nachhinkt, eine reizvolle Wirkung ergeben. Melodie-Instrumente und Sänger lehnen sich oft nicht nur im Rahmen eines subtilen Timings zurück, sondern setzen mit ihren Phrasen erheblich verzögert ein und holen dann häufig wieder auf.5)

Es wurde bereits eine Reihe theoretischer Erklärungsversuche (in neuerer Zeit gestützt auf elektronische Messungen) unternommen, um die swingende Wirkung zu erfassen.6) Die Ergebnisse bieten aber sowohl Musikern als auch Hörern kaum nützliche Einsichten. Steve Coleman, der in einem afro-amerikanischen Umfeld aufwuchs, das großen Wert auf stilvollen Groove Wert legte, und der in den 1970er Jahren als junger Musiker von älteren Meistern lernte, erklärte: Groove und Swing seien nicht auf analytische Weise durch Messung von Mikro-Beats und Millisekunden verstehbar. Meister dieser rhythmischen Qualitäten spielten nicht alle auf dieselbe Weise hinter dem Beat. Es gebe verschiedene Arten von Swing, eine James-Brown-Art, eine Thelonious-Monk-Art, eine Charlie-Parker-Art und so weiter. Bei swingenden Spielweisen sei der Beat veränderlich wie die Gestalt von Amöben, aber nicht an allen Stellen und nicht in einer beliebigen Weise, sondern es gebe dafür ein Konzept in Form ästhetischer Vorstellungen. In afro-amerikanischen Communitys werde viel auf die Art Wert gelegt, wie etwas getan wird, auf einen gewissen Stil. Das betreffe das Gehen, Tanzen, Basketballspielen, die Redekunst und so weiter. Die Musik sei lediglich Teil davon, komme also aus derselben Sensibilität. Es sei daher ein Verstehen durch Erfahrung erforderlich, durch die Art, wie sich etwas anfühlt, durch Dabei-Sein, durch Gefühl und Beteiligung. Diese Erfahrung lasse sich nicht durch ein intellektuelles Verstehen ersetzen, sondern entstehe erst durch das Erleben sehr vieler Beispiele etwa der Art, wie Dexter Gordon, Gene Ammons und Von Freeman zurückgelehnt swingen. Auch sei viel eigene Arbeit daran notwendig. Selbst fünf Jahre seien dafür nicht ausreichend und es sei ein Verständnis für die Lebenseinstellung in der betreffenden Subkultur erforderlich. Die Verzögerung im Swing eines Lester Young und Dexter Gordon habe letztlich irgendwie auch mit einem Zu-spät-Kommen in anderen Dingen zu tun.7)

Außerdem ist Timing zwar ein wichtiger Faktor, jedoch einer von mehreren, die für Swing sowie andere Formen von Groove verantwortlich sind. Letztlich kommt es auf die gesamte Gestaltung des Rhythmus an und selbst der Klang der Instrumente spielt dafür eine Rolle.8)

 

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  1. QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  2. Zu einer indirekten Darstellung des Grundrhythmus im Artikel Puls und Mehrschichtigkeit: Link
  3. Eine typische Form der swingenden Beat-Unterteilung im älteren Jazz ist die traditionelle Ride-Becken-Figur. Näheres dazu im Artikel Jazz-Beat: Link – Auch auf Melodie-Instrumenten werden oft Linien aus Achtelnoten gespielt, die somit die Viertelnoten des Beats unterteilen.
  4. Aufgrund der Verzögerung ist die Achtelnote, die zwischen den Beats angeschlagen wird, ein wenig kürzer als die auf dem Beat beginnende Achtelnote. Die Längen der Achtelnoten stehen zueinander somit nicht im Verhältnis von 1:1, aber auch nicht im Verhältnis 2:1 (wie es beim Shuffle-Rhythmus der Fall ist). Vielmehr liegt das Verhältnis der beiden Noten zwischen einer Zweier- und einer Dreier-Unterteilung und variiert je nach Tempo und persönlichem Stil des Musikers. (QUELLEN: Martin Pfleiderer, Rhythmus, 2006, S. 263-266; Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link) – Zweier-Unterteilungen werden häufig als „binär“ und Dreier-Unterteilungen (Triolen) als „ternär“ bezeichnet und demnach enthält dieser swingende Beat eine Mischform aus binärer und ternärer Unterteilung. Mitunter wird auch von einem „ternären“ Feeling oder einer „ternären“, „triolischen“ Spielweise (eines an sich binären Rhythmus) gesprochen. – Bei einem zurückgelehnten, swingenden Schlagzeugspiel werden oft Suffle-Akzente, also tatsächlich Triolen eingesetzt, um gleichzeitig anzutreiben. Näheres in Billy Hart Interviews: Link
  5. QUELLEN: Martin Pfleiderer, Rhythmus, 2006, S. 267-270 und 271-273; von Ronan Guilfoyle geleitetes Interview mit Steve Coleman, Anfang 2011, veröffentlicht am 9. März 2013 unter dem Titel Steve Coleman on Rhythm – Part 1 auf Guilfoyles Internetseite, Internet-Adresse: http://ronanguil.blogspot.ie/2013/03/steve-coleman-on-rhythm-part-1.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  6. QUELLE: Martin Pfleiderer, Rhythmus, 2006, S. 262-273; zu den älteren Versuchen, Swing zu erklären, im Artikel Groove-Theorien: Link
  7. Steve Coleman wurde gefragt, wie er als Musiker, der in der afro-amerikanischen Tradition von Musikern wie Charlie Parker steht, das rhythmische Feeling und die Grundhaltung in dieser Musik sieht, und er antwortete: Es sei schwierig darüber zu sprechen. Er betrachte Musiker wie Charlie Parker als Meister der spontanen Komposition sowie als Meister der Platzierung. Natürlich sei auch in der geschriebenen europäischen Musik Platzierung sehr wichtig. Aber es gebe dort nicht den spontanen Teil. Außerdem gehe es um die Frage, wie gespielt wird, also um die Groove-Sache. Diese Musiker seien Meister der Platzierung aus einer speziellen Sensibilität heraus, einer speziellen Haltung oder einem speziellen Standpunkt. Hier komme all der Groove und Swing ins Bild. Das sei zugleich die nebulöseste Sache, eine schwer zu fassende Sache – vor allem, wenn man es Leuten zu erklären versucht, die nicht vom selben Ort herkommen. Leute würden oft denken, sie könnten alles verstehen. Das sei eine allgemeinmenschliche Eigenschaft. Aber das funktioniere nicht immer, denn das intellektuelle Verstehen sei nur eine Art des Verstehens. Daneben gebe es das Verstehen durch Erfahrung, durch die Art, wie sich etwas anfühlt, durch Dabei-Sein, durch Gefühl, durch Beteiligung an etwas Größerem, das eine größere kulturelle Überlagerung, eine ganze Sensibilität enthält. Da gehe es um etwas völlig anderes als intellektuelles Verstehen. Er kenne sehr intelligente Leute, die diese Dinge intensiv studierten und glauben, dass sie sie verstehen, aber das Feeling ihrer Musik zeige etwas anderes. Er meine das nicht negativ, denn es gebe nun einmal viele verschiedene Zugänge und Werthaltungen. (QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 24: Community, Audio im Abschnitt von 1:14:16 bis 1:17:54 Stunden/Minuten/Sekunden, veröffentlicht 2016, Internet-Adresse: http://m-base.net/) – Steve Coleman: Wenn man aus einer Kultur kommt, die sich nicht mit Groove befasst, dann werde die Chance, grooven zu können, natürlich geringer sein. Dann stehe eben etwas anderes im Vordergrund, etwa eine Art von Gefühls-Konzept. In afro-amerikanischen Communitys werde viel auf die Art Wert gelegt, wie etwas getan wird. Es komme nicht bloß darauf an, dass etwas getan wird, sondern auch, dass es mit einem gewissen Stil getan wird. Das betreffe das Gehen, Tanzen, Basketballspielen und so weiter, selbst die Redekunst. Die Musik sei bloß Teil davon, komme aus derselben Sensibilität. Wenn man Dinge nicht in einer bestimmten Weise tat, sei man entmutigt, zurückgewiesen, verhöhnt worden. So seien bestimmte Verhaltensweisen gefördert und andere abgelehnt worden. (QUELLE: dasselbe Audio im Abschnitt von 1:44:56 bis 1:48:03 Stunden/Minuten/Sekunden) – Steve Coleman: Groove und diese Dinge hätten viel mit der Beziehung zu tun, die ein Musiker zum Beat hat, wo er auf dem Beat spielt und so weiter. Der Grund dafür, dass Musiker diese zurückgelehnte Sache machen können, sei, dass sie viele, viele Beispiele hörten, wie Musiker wie Dexter Gordon und Gene Ammons spielen. Selbst in fünf Jahren könne man das nicht einfach so lernen, sondern man brauche dazu diese Millionen von Beispielen dieser Tradition und eigene Arbeit daran. Gordon oder Lester Young hätten nicht einfach begonnen, das zu machen, sondern es komme aus einer speziellen Kultur. Es habe viel damit zu tun, zu spät zu kommen. [lacht] – Er [Coleman] habe eine solche Spielweise erstmals bei Charlie Parker bemerkt und dann noch mehr bei Lester Young. Er habe Dexter Gordon live spielen gesehen und all diese Musiker, Von Freeman und so weiter. Er habe festgestellt, dass sie alle diese Sache gemeinsam haben. Doch seien sie nicht alle auf dieselbe Weise hinter dem Beat. Es gebe kaum eine Möglichkeit, das auf dem Papier festzuhalten. Leute hätten das versucht und auch versucht, es zu messen, doch sei das nicht möglich. Man könne von Mikro-Beats sprechen, Millisekunden messen und so weiter, doch sei das Hinter-dem-Beat-Sein variabel. Leute hätten versucht, Swing, das Feeling und all das zu messen und werden es auch weiterhin versuchen. Doch das Erste, was einem auffällt, sei, dass diese Leute selbst nicht in der Lage sind zu swingen. Sie schreiben eine Arbeit darüber, was es heißt zu swingen, können es aber selbst nicht. Das sei so, wie Stanley Crouch und einige andere darüber reden, wer Swing hat, ohne es selbst zu können. Das mache einen misstrauisch. Vielleicht ist es keine Voraussetzung, aber man müsse doch zumindest nahe daran sein, um es besprechen zu können. Außerdem gebe es verschiedene Arten von Swing. Es gebe eine James-Brown-Art von Swing, eine Thelonious-Monk-Art von Swing, eine Charlie-Parker-Art und so weiter. Das sei nicht alles dieselbe Sache. (QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 18: Synovial Joints, Audio im Abschnitt von 1:33:51 bis 1:37:17 Stunden/Minuten/Sekunden, veröffentlicht 2015, Internet-Adresse: http://m-base.net/) – Weitere QUELLE: von Ronan Guilfoyle geleitetes Interview mit Steve Coleman, Anfang 2011, veröffentlicht am 9. März 2013 unter dem Titel Steve Coleman on Rhythm – Part 1 auf Guilfoyles Internetseite, Internet-Adresse: http://ronanguil.blogspot.ie/2013/03/steve-coleman-on-rhythm-part-1.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  8. Einen Eindruck von der Komplexität der Kunst zu swingen, die (wie Coleman erklärte) nicht theoretisch erfassbar ist, sondern nur durch Erfahrung erlernt werden kann, verschaffen zwei Interviews mit dem Schlagzeuger Billy Hart, die der Pianist Ethan Iverson in den Jahren 2006 und 2008 führte (QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Billy Hart, Jänner 2006, Iversons Internetseite Do the Math Internet-Adresse: http://dothemath.typepad.com/dtm/interview-with-billy-hart.html), besonders an folgender Stelle (in eigener auszugsweiser Übersetzung): Link – Weitere QUELLEN: Martin Pfleiderer, Rhythmus, 2006, S. 267; Paul F. Berliner, Thinking in Jazz, 1994, S. 147

 

 

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