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JAZZ SPIRIT – 4. Body


In manchen ländlichen Gegenden der USA bewahrten Afro-Amerikaner noch lange ihre Tradition des Ring Shout, der in christlichen Gottesdiensten abgehalten wurde. Sie sangen Spirituals und bewegten sich mit kleinen, schlurfenden Schritten im Kreis, immer schneller. Die Füße durften kaum gehoben, schon gar nicht überkreuzt werden, denn das hätte als Tanzen gegolten und damit als Gotteslästerung. In dieser merkwürdigen Regel zeigen sich konträre Auffassungen zwischen europäischer und afrikanischer Kultur. In Europa war Tanzen sinnliches Vergnügen, unvereinbar mit christlichem Glauben. In Afrika hingegen war der Tanz ein wichtiges Mittel, mit Göttern in Kontakt zu kommen.

          HÖRBEISPIEL: The McIntosh County Shouters: Lay Down, Body (1983)

Im Trance-Zustand, der durch Rhythmus, Gesang und Bewegung erreicht wird, treten die Götter in den Körper ein.

          HÖRBEISPIEL: Joe Washington Brown, Austin Coleman & Gruppe: Run, Old Jeremiah (1934)

Die europäische Einstellung zum Tanzen ergab sich aus einer generellen Skepsis gegenüber allem Körperlichen, Sinnlichen. Diese Skepsis, die oft bis zur Verteufelung ging, zieht sich durch die gesamte europäische Kulturgeschichte. Der Schriftsteller Stefan Zweig schilderte das Leben des Bürgertums um 1900: Die Männer trugen hohe steife Krägen, die so genannten „Vatermörder“, lange Anzüge, skurrile Zylinder-Hüte und bewegten sich bedächtig, „würdevoll“. Die Frauen waren wie Ritter in einer Rüstung gepanzert, sodass sie sich nicht natürlich bewegen konnten und ihr ganzes Gehabe gekünstelt wirkte. Stefan Zweig schrieb: Die Angst vor allem Körperlichen und Natürlichen beherrschte nicht nur die obersten Stände. Als sich die ersten Frauen auf ein Fahrrad wagten und auf einem Pferd wie Männer ritten, wurden sie von Bauern mit Steinen beworfen. Im Geheimen hatte die Prüderie eine Menge abwegige Sexualität zur Folge.1)

Auch in Musik und Tanz schlug sich die Steifheit nieder. Bis heute ist Ballett nach meinem Empfinden geziert, marionettenhaft, geradezu selbstquälerische Körperbeherrschung. Musiker drücken Intensität energisch, zackig aus. Dirigenten fuchteln diktatorisch mit einem Stock. Disziplin und Reinheit sind allgegenwärtig.

          HÖRBEISPIEL: Wolfgang Amadeus Mozart: Eine Kleine Nachtmusik

Seit ungefähr 1900 begeistern afro-amerikanische Rhythmen, Klänge und Tänze massenhaft junge Leute – als Ragtime, Jazz, Swing, Boogie-Woogie, Rock ’n’ Roll, Beat, Funk, Hip-Hop und so weiter. Dieser afro-amerikanische Einfluss trug entscheidend zu einem stark veränderten Lebensgefühl bei. Der Jazz-Kritiker Joachim-Ernst Berendt sagte im Alter: Allein die Art, wie sich junge Leute heute bewegen, zeige, was sich verändert hat – unvorstellbar für seine Generation, die immer für ein mehr körperliches Bewusstsein kämpfte.2)

In den 1920er Jahren verdienten Jazz-Meister wie Louis Armstrong und Duke Ellington ihr Geld noch in Nachtklubs, in denen Afro-Amerikaner so genannte „Slummers“ bedienten – „weiße“ Besucher, die in die afro-amerikanischen Slums fuhren, um dort abseits des bürgerlichen Lebens ihren sinnlichen Spaß zu haben.3) Duke Ellington spielte für sie zum Beispiel den „kreolischen Liebesruf“, in dem süßliche Klänge locken und eine raue, leidenschaftliche Stimme antwortet.

          HÖRBEISPIEL: Duke Ellington: Creole Love Call (1932)

Abgesehen von den Revuen der Nachtklubs war Jazz vor allem die Musik der Tanzsäle. Je stärker die afro-amerikanischen Anteile der Tanzmusik waren, desto aufregender klang sie und desto mehr wurde sie vom Bürgertum als unzivilisiert abgelehnt. Bei den europäischen Gesellschaftstänzen umarmten Männer Frauen und führten sie. Darin wurde nichts Unsittliches gesehen, obwohl es für Frauen manchmal ziemlich unangenehm war. Distanziertes Tanzen mit Beckenbewegungen zu mitreißenden Rhythmen wurde hingegen als kultureller Verfall kritisiert, selbst wenn Musik und Tanz anspruchsvoller waren als vieles andere im Unterhaltungsbereich.

          HÖRBEISPIEL: Benny Moten: Toby (1932)

Noch in den 1960er Jahren, in meiner Jugendzeit, wurde Jazz und andere moderne, rhythmische Musik oft verächtlich als „Negermusik“ bezeichnet, was etwas Primitives aus dem afrikanischen Urwald bedeutete. Auch Leute, die afro-amerikanische Musikarten mochten, waren oft nicht wirklich frei von solchen Klischees und suchten in dieser Musik Ursprünglichkeit, Wildheit, Befreiung von Zwängen – ähnlich wie die früheren „Slummers“ in den Nachklubs. Das wirkt zum Beispiel in dem nach, was Rock-Bands aus dem Blues abgeleitet haben. Die städtischen Blues-Musiker, die ihren Gesang mit E-Gitarren begleiteten und Vorbild für die frühen Rock-Musiker waren, spielten einfacher und rauer als Jazz-Musiker, aber nicht ausgeflippt. In ihrer volkstümlichen Form beherrschten sie eine Ausdruckskunst, die in völligem Gegensatz zu einer polternden Heavy-Metall-Band steht.

          HÖRBEISPIEL: Buddy Guy: Stone Crazy (1961)

Bis heute blieb am Jazz einiges vom sinnlich-primitiven Image haften, obwohl er sich längst von der Tanz- und Show-Unterhaltung entfernt hat. Seine Komplexität und Tiefgründigkeit stehen der „klassischen“ Musik in keiner Weise nach. Dennoch wird er aus dem Blickwinkel europäischer Bildung immer noch als weniger kultiviert betrachtet und von Musikwissenschaftlern mehr zur „populären“ Musik gezählt als zur so genannten „ernsten“ Musik – wohl, weil er eine expressive, körperliche Komponente hat, die dem europäischen Verständnis von Kultiviertheit entgegensteht.

          HÖRBEISPIEL: Von Freeman: Von Freeman's Blues (1975)

Das Leben funktioniert nicht ohne Körper, ohne Bewegungssteuerung, ohne emotionalen Antrieb. Genauso kommt für mich ein befriedigendes Musikerlebnis nicht ohne Bewegungsgefühl, Emotion, Körperlichkeit zustande. Die Jazz-Meister schöpfen das Potential der Musik auf allen Ebenen aus. So hat ihre Musik auch einen starken Körperbezug, der sie aber keineswegs weniger kultiviert und intellektuell macht, sondern zu einer Kunst, die die menschliche Wesensart besonders tiefgehend erfasst.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Mr. P.C. (1963, Stockholm)

Der Körperbezug des Jazz bildet eine stabile Basis, die viel Kompliziertes zulässt, ohne dass man die Lust am Hören verliert. Solange ein grundlegender Groove mein Bewegungsgefühl in Schwung hält, finde ich so manches spannend, was mir sonst zu abstrakt wäre.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman And Five Elements: Cerebrum Crossover (2012)

So sehr sich im letzten Jahrhundert die allgemeine Einstellung zur Körperlichkeit auch gewandelt hat, wie der Jazz-Kritiker Berendt feststellte, so sagte er doch: „Ich genieße es heute noch, wenn ich in schwarzen Städten durch die Straßen gehe, die völlig anderen Bewegungsabläufe jener Menschen zu beobachten, diesen federnden, schwingenden Gang.“ Berendt wies auf die besondere Sensibilität für Körper-Rhythmen hin, die sowohl bei afro-amerikanischen Sportlern als auch in afro-amerikanischer Musik auffällt.4) Körperlichkeit wird hier nicht bloß bejaht, sondern kultiviert. Stil ist wichtig. Es genügt beim Basketballspiel nicht, den Ball in den Korb zu bringen, es kommt auch darauf an, wie es gemacht wird.5) Die Rhythmen einer Band können noch so anspruchsvoll sein: Ergeben sie keinen guten Groove, überzeugen sie nicht.6)

Jazz kann sehr clever sein und zugleich das Bewegungsgefühl so ansprechen, dass ein wunderbares Feeling entsteht. So sollte sich das Leben auch sonst anfühlen.

In diesem Sinn: Keep swingin‘, movin‘ and groovin’!

          HÖRBEISPIEL: Strata Institute: Thebes (1991; Steve Coleman)

  

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Stefan Zweig, Die Welt von Gestern
  2. Näheres: Link
  3. Näheres zu Duke Ellington: Link; Näheres zu Louis Armstrong: Link
  4. QUELLE: Link
  5. Mehr dazu: Link
  6. Mehr dazu: Link

 

 


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