Ist man auf einem einigermaßen aktuellen Wissensstand,
dann lassen sich die sozialen, gesellschaftlichen und globalen Verhältnisse
nicht beschönigen, die hässlichen Seiten des Lebens, die zerstörerischen der
Natur nicht ausblenden. Unbeschwerter Happy-Sound und wohlige Harmonien wirken
da oft seicht. Ich möchte in der Musik eine stärkere Antwort hören, einen
realeren Ausdruck mit Intensität. Echter Jazz hat das seit jeher, kommt er
doch von der afro-amerikanischen Minderheit, die mit besonders harten
Lebensbedingungen zu kämpfen hatte.
In den 1960er Jahren begannen einige Musiker sogar, dem Aufschrei einen zentralen Platz in ihrem Ausdruck zu geben.1)
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Ascension II (1965)
In diesen Klängen der Erhebung und Befreiung spiegelte sich der damalige Kampf der Bürgerrechtsbewegung und der ekstatische Ausdruck hatte Wurzeln in afro-amerikanischen Kirchen.2) Die schreienden Klänge dieser Jazz-Musiker boten Hörern kein angenehmes musikalisches Feeling, sondern forderten Anteilnahme. Amiri Baraka, ein kämpferischer afro-amerikanischer Schriftsteller, sah in solcher Musik das brennende Anliegen seines Volkes, die lange Geschichte des Leids, aber auch Stolz, Widerstandskraft und Auflehnung. Die meisten Afro-Amerikaner mochten diese wilde, schräge Musik jedoch nicht, genossen lieber soulige und funkige Musik, die Schwung gab für die Bewältigung des Alltags. So erreichte die Botschaft der so genannten Free-Jazz-Musiker ihre eigenen Leute nicht.
HÖRBEISPIEL: Pharoah Sanders: Upper Egypt and Lower Egypt (1966)
Empfänglich für die entfesselten Klänge der neuen Jazz-Richtung waren vor allem junge Europäer, denen es weniger um musikalisches Feeling ging als um abenteuerliche Erfahrungen und um ein Sprengen von Konventionen und gesellschaftlichen Machtstrukturen.3) Sie konnten sich eine Zeit lang Widerständigkeit leisten. Angehörige der diskriminierten afro-amerikanischen Minderheit zahlten hingegen für jeden Widerstand einen bitter hohen Preis. Der Aufschrei der Jazz-Musiker war nicht einfach Protest, sondern tief empfundener Ausdruck mit einer starken spirituellen Komponente. Die Anhänger in Europa projizierten in diese Musik ihren eigenen Freiheitsdrang. Manche europäischen Musiker nutzten den Free-Jazz-Trend sogar, um sich vom afro-amerikanischen Jazz selbst zu befreien, ihn „kaputt zu spielen“, wie sie sagten, und ihn so als erdrückendes Vorbild loszuwerden.4)
Schließlich verhallte der afro-amerikanische Aufschrei und am Jazz blieb das Image einer schwer erträglichen Kunst haften.
HÖRBEISPIEL: Henry Threadgill: Melin (1982)
Appelle an Machthaber oder an eine Mehrheitsgesellschaft sind selten wirksam. Alle – auch Gruppen, Institutionen, ganze Staaten – lavieren in einem Geflecht von Machtverhältnissen – gnadenlosen, chaotischen. Gier regiert. Wer mehr teilt als andere, fällt zurück. Andererseits ist gerade Kooperation unsere Chance. Sie beruht auf Gegenseitigkeit – wie die Musik. Die wirkt durch Resonanz.
Der Saxofonist Sonny Stitt wurde gefragt, ob denn nicht auch Charlie Parker anfangs sein Publikum hinter sich ließ, wie später der Free-Jazz. Er antwortete: Nicht wirklich. Charlie Parker habe das Publikum gefüttert wie eine Vogelmutter ihre Jungen mit ihren weit aufgerissenen Schnäbeln. Er habe es verzaubert, regelrecht hypnotisiert, nicht verwirrt.5)
Charlie Parker fütterte sein Publikum mit einer kräftigen, würzigen Kost, die auch Ausrufe, mitunter einen Aufschrei enthielt. Das beantwortete die rauen, schwierigen Lebensverhältnisse.
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Cosmic Rays (1952)
Jazz drückte schon immer rauen, schwierigen, aber auch cleveren Lebenskampf aus. Louis Armstrongs clownhafte Show übertünchte, was für ein Kämpfer er in Wirklichkeit war.6)
HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong: Tight Like This (1928)
Klingt in diesem strahlenden Trompetenspiel Angriffslust, Leidenschaft, Leid, Lebenslust, Übermut, Triumph? Vieles kann man darin hören, jedenfalls einen kämpferischen Geist. Das war Musik für afro-amerikanische Leute, die sich nicht mit einer lausigen Existenz in Unterdrückung und Ausbeutung begnügen wollten und um eine Verbesserung ihrer Lebenssituation rangen. Sie liebten Louis Armstrongs damalige Musik.7) Alles Leben ist zu einem großen Teil Ringen, Beanspruchen und Behaupten eines Platzes. Das Ringen ist der Motor des Lebens und kann auch Quelle seiner Schönheit sein.
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Pursuance (1964)
Viele bedeutende Jazz-Musiker waren am Boxsport interessiert, waren von der Gewandtheit und Geschmeidigkeit begeistert, mit der afro-amerikanische Champions siegten, während sie als Minderheit in entwürdigender Unterdrückung gefangen waren. Die Brutalität des Boxens ist abstoßend, keine Frage. Wird das Kampfspiel jedoch auf eine musikalische Ebene gebracht, indem die gewandten, kraftvollen Bewegungen in Melodien und Rhythmen einfließen, dann wird es zu einem friedlichen Schauspiel der Lebendigkeit.
Wie in der Kampfkunst so kommt es auch in der Jazz-Improvisation auf fein entwickeltes Gespür für Bewegung, Timing, Rhythmus an, auf intelligentes Reagieren, blitzschnelles Erfassen einer Vielzahl von Komponenten und auf Körpereinsatz. Wird es mit Eleganz, mit „Stil“ gemacht, dann ist dieses musikalische Spiel faszinierend.8)
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Unit Fractions (2018)
In der fortgeschrittenen Zivilisation findet der Lebenskampf überwiegend im Kopf statt. Die Anspannung wird nicht körperlich ausagiert und staut sich auf. Musik, die das Bewegungsgefühl anregt, lockert und bringt neuen Schwung. Die übliche Tanzmusik hat einen einfachen, stark betonten Beat und man tanzt oder hüpft entsprechend dazu. Jazz-Rhythmen sind komplizierter.
Ein afrikanischer Trommelmeister berichtete von seiner Ausbildung in Ghana: Man durfte als Schüler die komplizierten Rhythmen auf keinen Fall vereinfachen. Das wurde als Ausweichen vor den Herausforderungen des Lebens verstanden.9) – Auch wenn man das nicht so streng sieht, so haben komplexe Grooves doch eine spezielle Wirkung. Sie fordern nicht nur heraus, sondern machen eine ganze Menge spannender, ineinander verflochtener Bewegungen spürbar.
HÖRBEISPIEL: Trommel-Ensemble des Anlo-Ewe-Volkes: Langsamer Atsiagbeko (1974-1976, Drums of West Africa. Ritual Music of Ghana)
Die Rhythmen des Jazz sind anders. Auch spielt sich viel von seiner Rhythmik im melodischen Bereich ab. Das Spiel mit komplexen Bewegungen findet aber auch hier statt, zumindest in rhythmisch starkem, afro-amerikanischem Jazz. Auch hier fordert die Komplexität heraus und verschafft eine berauschende Fülle von Bewegungsgefühlen.
HÖRBEISPIEL: Woody Shaw: Obsequious (1975)
Sich friedfertig, kooperativ, nachgiebig zu verhalten, reicht nicht immer aus. Vieles, von dem wir täglich profitieren, wurde in zähem Kampf Machthabern abgerungen und droht ständig wieder verloren zu gehen. Es genügt nicht, vorgegebene Sichtweisen zu übernehmen, sich mit den Rollen zu identifizieren, die einem zugewiesen werden, und es anderen zu überlassen, sich um eine kritische, verantwortungsvolle Haltung zu bemühen.
Die Meister des Jazz verkörpern eine kompromisslose, kreative Lebensart und bringen damit einen erfrischenden Impuls in den Alltag. Sie bieten keine Lösungen oder Anleitungen, sondern regen an, selbst kreativ zu werden, den Blick zu öffnen und Dinge in Angriff zu nehmen. Besonnenheit und Nachdenklichkeit sind wichtig und nur allzu oft ist es vernünftig sich zu fügen. Zehrt das Erdulden aber zu viel Lebendigkeit auf, dann können kämpferische Klänge aus dem afro-amerikanischen Jazz-Untergrund wunderbar wiederbeleben.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Rumble Young Man, Rumble (2018)
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