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JAZZ ESSENZ – 14. Melodie


Volksmusik, Pop-Musik, Rock … die meiste Musik besteht aus Songs. Wir sind nun einmal von Natur aus für menschliche Stimmen sehr empfänglich – nicht nur für ihre sprachlichen Inhalte, sondern besonders auch für ihren emotionalen Ausdruck. Insofern ist die Singstimme in ihrer Aussagekraft unübertrefflich. Andererseits erweitern Instrumente die musikalischen Möglichkeiten sehr und der Jazz schöpft sie voll aus. Er ist eine größtenteils instrumentale Musik und wenn Gesang eingesetzt wird, dann oft ähnlich wie Instrumente. Umgekehrt wird ein stimmähnlicher Ausdruck der Instrumente geschätzt und weil Blasinstrumente dafür besonders geeignet sind, geben sie im Jazz den Ton an.

Lange Zeit interpretierten Jazz-Musiker bekannte Songs und sie lösten sich in ihren Improvisationen erst allmählich ganz von den Song-Melodien. Den Grundcharakter des Jazz-Spiels behalten die Meister bis heute bei. Sonny Rollins sagte in den 1980er-Jahren: „Ich höre mir Louis Armstrong an und höre da etwas, was ich in allem hören möchte, das ‚Jazz‘ genannt wird.“1) Was meinte Sonny Rollins? Was macht Louis Armstrongs Spiel so weit über seine Zeit hinaus richtungsweisend?

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong and His Hot Seven: Wild Man Blues (1927)

Ich höre in dieser Musik vor allem einen brillanten Vortrag einer eindringlichen instrumentalen Stimme. Sie spricht von echtem, rauem Leben, von Leidenschaft, Leid, Geschicklichkeit, Gewandtheit, Mut, Lebenslust. All das ist deutlich hörbar, zumindest wenn einem Louis Armstrong und seine Kultur ein wenig vertraut sind.

Oft werden an erster Stelle die Klangfarben des Jazz wahrgenommen. So wurde Louis Armstrongs Musik wegen ihrer „heißen“ Klänge zum so genannten „Hot-Jazz“ gezählt. In seiner Jugendzeit war es sein Mentor Joe „King“ Oliver, der das Spiel mit Klangfarben am eindrucksvollsten beherrschte. Er entlockte dem Kornett vielfältige, ausdrucksstarke, bluesige Laute. Darin war der junge Louis Armstrong für ihn keine Konkurrenz. Armstrong entwickelte eine andere Stärke, nämlich die der melodischen Gestaltung. Schließlich fesselte er das Publikum mit den blendenden melodischen Linien seiner Soli noch viel mehr als King Oliver.

Später, in den 1930er Jahren, als Louis Armstrong in das große Showgeschäft gelangte, begann er, mehr zu singen und seine Soli zu einem dramatischen Höhepunkt hinzuentwickeln, mit spektakulär hohen Trompetentönen. In den 1920er Jahren hingegen stand seine kreative, kunstvolle melodische Gestaltung im Vordergrund.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong and His Hot Five: Struttin' With Some Barbecue (1927)

Diese Art des melodischen Spiels steht in einer spannenden Beziehung zur Grundstruktur, die das jeweilige Stück rhythmisch und harmonisch vorgibt. Meister wie Louis Armstrong und dann besonders Charlie Parker und so weiter lösen sich von der Grundstruktur und folgen ihrer eigenen, kühnen melodischen Logik2), verlieren dabei aber nicht den Bezug zur Grundstruktur. Dadurch entsteht eine Fülle spannender musikalischer Beziehungen, die diese Musik bereichern. Oft verwenden die Meister sogar besonders anspruchsvolle Grundstrukturen und steigern damit noch ihre Kunst.3) Ein wichtiger Teil dieser Kunst ist die Rhythmik, die sie mit ihren melodischen Phrasen erzeugen. Diese Rhythmik entsteht nicht nur durch die Gestalt der Phrasen, sondern besonders auch durch ihre Platzierung. Steve Coleman hat diese Kunst in seinem Artikel über Charlie Parker eingehend dargestellt.4) Er sagt, Musiker wie Charlie Parker erreichten die größte Komplexität im rhythmischen und melodischen Bereich. Sie erlernten das Musizieren zunächst im Wesentlichen ohne Noten und hatten dadurch ein dynamischeres Konzept.5) Auch in Steve Colemans Entwicklung spielte dieser Zugang eine entscheidende Rolle.6)

So klingt das Spiel der Meister bei aller Kunst natürlich. Sie sprechen das Gefühl für Körperbewegung an, knüpfen an volkstümliche Wurzeln an – an Blues- und Gospelmusik, afro-amerikanische und afro-kubanische Tanzmusik. Von Charlie Parker wird berichtet, dass er die unterschiedlichsten Leute anzog und mit seiner Musik verzauberte – Seeleute, Beamte, Arbeiter.7) John Coltrane spielte nicht nur rasend schnelle Läufe mit komplizierten Strukturen, sondern verwendete oft auch einige wenige einprägsame Töne, die er immer wieder anders zusammensetzte und als eine Art Zelle seiner Musik zu Grunde legte, zum Beispiel in seinem berühmten Album A Love Supreme. Schon in einer Aufnahme aus dem Jahr 1960 ist zu hören, wie er damit eine besondere melodische Wirkung erreichte – damals noch als Mitglied der Miles-Davis-Band.8)

          HÖRBEISPIEL: Miles Davis: Oleo (1960)

Das Spiel der Meister hat in den vielen Jahren meines Jazz-Interesses nichts an Reiz verloren, vielmehr erst allmählich seine faszinierende Wirkung entfaltet. – Jahrzehnte nach Charlie Parkers Tod sagte ein Saxofonist, Charlie Parker klinge von Tag zu Tag besser. Und ein anderer Saxofonist, der Charlie Parkers Musik besonders eingehend kennt, bestätigte: Charlie Parker werde immer besser, je besser er selbst wird.9) – Der bekannte deutsche Jazz-Kritiker Joachim-Ernst Berendt schrieb in der ersten Ausgabe seines Jazzbuchs aus dem Jahr 1953, Charlie Parkers Spielweise könne am besten als „asketisch“ beschrieben werden. Offenbar war sie Berendt damals noch zu fremdartig. In Wahrheit ist Charlie Parkers Spiel mit seinem überquellenden Reichtum und seiner emotionalen Tiefe alles andere als asketisch und seine Lebensweise war es bekanntlich ebenso wenig. Steve Colemans besondere Wertschätzung für Charlie Parkers Musik regte mich an, sie oft und aufmerksam zu hören, und sie begann mich so zu bewegen wie nur wenig andere Musik. Steve Colemans Musik wurde von manchen Jazz-Kritikern noch krasser beschrieben als mit dem Wort „asketisch“. Mir ist sie seit Langem vertraut und sie bewegt mich ebenso stark wie Charlie Parkers Musik.10)

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Reflection Upon Two Worlds (2002)

Viele finden Jazz unmelodiös. Dabei hat er gerade im melodischen Bereich eine Kunst entfaltet wie keine andere Musikart.11) Die Melodik der Meister ist so reich und dicht, dass es Zeit braucht, bis man ihre Strukturen und ihre Logik ausreichend erfasst. Allerdings gibt es auch viel Jazz mit tatsächlich wenig melodischer Qualität. Oft wird der sogar als besonders anspruchsvoll betrachtet, wie schwierige moderne Kunst. Mich fasziniert am Jazz vor allem die großartige Melodik, die cleveren Rhythmen und lässigen Sounds der Meister. Das sind natürliche Bestandteile einer Volksmusik, aber auf sehr kunstvollem Niveau.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Common Law (2002)

Die Natürlichkeit ergibt sich unter anderem aus dem Grundcharakter der Jazz-Improvisation. Mehr dazu im nächsten Video.

Wie immer steht unter dem Video ein Link zum Text des Videos. Dort führe ich Quellen an und verlinke weiterführende Texte.    

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1991, S. 97
  2. Siehe zum Beispiel: Link – Auch erklärte zum Beispiel Steve Coleman in Bezug auf Bud Powells Solo in Off Minor (1947): Powell spiele nicht wirklich die Changes, sondern etwas, das in Bezug auf die Changes funktioniert – nicht die Noten in den Akkorden, das sei nicht das, was Musiker wie Bud Powell machten. Sie spielten vielmehr etwas, das mit der Art zusammenging, wie sich der Song bewegt. Was sie spielten, habe so funktioniert wie der Song. Wenn der Song eine Straße entlang ging, gingen sie eine andere Straße, gelangten aber zum selben Ort. Wenn die älteren Musiker also vom Spielen der Changes sprachen, so habe er (Coleman) das wörtlich genommen, in dem Sinn, dass sie den Sound einer Sache spielten und ihn zu einer anderen veränderten (change-ten). Wenn jedoch heute Leute vom Spielen der Changes sprechen, meinen sie, die Noten in den Akkorden spielen und das sei etwas ganz anderes. Denn Bud Powell spielt vielleicht überhaupt nicht die Noten des Akkords, aber was er spielt funktioniert, weil er es dorthin bekommt, wohin er gehen will. (Quelle: Steve Colemans Video-Konferenz mit Mitgliedern seiner Internet-Plattform M-Base Ways am 26. August 2020)
  3. Näheres: Link
  4. Eigene Übersetzung dieses Artikels: Link
  5. Näheres: Link
  6. Näheres: Link
  7. Wynton Marsalis: „John Lewis [Pianist, der mit Parker spielte] erzählte mir, dass die verschiedensten Leute zu Charlie Parkers Auftritten gingen, was ihn jedes Mal überraschte: Seeleute, Feuerwehrmänner, Polizisten, städtische Beamte, Prostituierte, Drogenabhängige, ganz normale Arbeiter – und wenn Bird [Parkers Spitzname] zu spielen anfing, verzauberte er den Saal.“ (QUELLE: Wynton Marsalis, Jazz, mein Leben, 2010, amerikanische Originalausgabe 2008, S. 172)
  8. Näheres: Link (siehe insbesondere Fußnoten 63 und 64)
  9. Der Pianist Ethan Iverson sagte im August 2020 als Interviewer zum Saxofonisten Charles McPherson, der Saxofonist Dewey Redman habe ihm gesagt, Charlie Parker klinge von Tag zu Tag besser. McPherson antwortete, das sei sehr wahr. Er habe immer gesagt: „Je besser ich werde, desto besser wird Bird.“ (QUELLE: Ethan Iverson, Charles McPherson and Steve Coleman on Charlie Parker, Ethan Iversons Internetseite DO THE M@TH, Internet-Adresse: https://ethaniverson.com/charles-mcpherson-and-steve-coleman-on-charlie-parker/)
  10. Mehr dazu: Link
  11. Näheres: Link

 

 


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