Das Jazzinstitut Darmstadt diskutiert bei seinem heurigen Forum (2023) über
die Zukunft des Jazz. Hier ist meine Sicht dazu:
Im Jazz finden viele Akteure Entfaltungsmöglichkeiten – Musiker, Veranstalter, Produzenten, Lehrer, Forscher, Musikwissenschaftler, Jazz-Kritiker. Die Szene floriert in Europa dank der starken staatlichen Förderung. Das Jazz-Interesse von Konsumenten ist gering. Das Publikum ist klein, blieb aber relativ beständig. Die im Verhältnis dazu vielen Musiker haben oft mit geringen Verdienstmöglichkeiten zu kämpfen, die heimische Szene insgesamt ist jedoch etabliert und hat ihre Lobby. Ihr Fortbestehen scheint nicht auf dem Spiel zu stehen, auch wenn sich ihre gesellschaftliche Bedeutung eher verringert.
Eine ganz andere Frage ist, wie sich der Jazz musikalisch entwickelt:
Es wird sehr unterschiedliche Musik als Jazz bezeichnet – oft jede Musik mit improvisierten Anteilen, sofern sie nicht eindeutig einem anderen Genre zuzuordnen ist – Blues, Rock, nicht-westlicher Musik. Sehr unterschiedlich sind auch die Auffassungen, auf welche musikalischen Qualitäten es im Jazz ankommt. Die gesamte Jazz-Geschichte hindurch haben bedeutende Musiker die Bezeichnung „Jazz“ für ihre Musik als irreführend abgelehnt.1) Auch haben angesehene Musiker darauf Wert gelegt, dass ihr spontanes Spiel nicht als Improvisation verstanden wird.2) Jazz ist eine sehr diffuse Musikkategorie, über die kaum etwas Allgemeingültiges festgestellt werden kann, und das wird wohl auch in Zukunft so bleiben.
Unbestritten ist jedoch, dass der Jazz seine Wurzeln in einer afro-amerikanischen Subkultur hat. Diese Kultur entwickelte sich bis in die Gegenwart weiter und brachte große Meister wie Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane hervor. Sie verkörpern eine zusammenhängende Musiktradition mit spezifischem Charakter.3) Ihre Meisterwerke ergeben für Musiker, die sich auf diese Tradition beziehen, eine enorme Herausforderung. Davon kann man sich nicht „emanzipieren“, wie es in Europa gerne gesehen wird.4) Natürlich kann man etwas Eigenes machen und es ebenfalls Jazz nennen. Es kann eigene Qualitäten haben, aber eben andere, nicht die speziellen der faszinierenden Tradition der Meister.
Charlie Parker sagte bekanntlich: „Wenn Du es nicht lebst, wird es nicht aus deinem Horn kommen.“5) Und ich denke, wenn man es nicht lebt, wird man es auch nicht in seine Ohren bekommen. Der Zugang zu dieser Musik geht nicht über akademische Bildung, schulischen Fleiß, europäische Kunstauffassung, sondern über das Entwickeln eines einfühlsamen Verständnisses für diese fremde Kultur und ihren Lebensbezug.
Leute in afro-amerikanischen Gettos brachten eine hippe, coole, lässige Musik hervor. Die wurde „Jazz“ genannt und begeisterte auch in der Mehrheitsgesellschaft viele Hörer. So erhielt diese Musik-Subkultur eine stärkere Existenzgrundlage, konnte aufblühen und sich weiterentwickeln. Schon früh wurde sie weltweit nachgeahmt, aber bis heute kamen die richtungsweisenden Innovationen mit dem speziellen Feeling und Spirit dieser Tradition aus der afro-amerikanischen Subkultur – von Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane, Steve Coleman und so weiter. Mit der allmählichen Anerkennung dieser Musikart wuchs auch die Nachahmung und Abwandlung und schließlich folgte die Institutionalisierung und Verschulung. Die Subkultur verlor ihre Existenzgrundlage. Heute kommen Jazz-Musiker nicht mehr aus ihr, sondern aus Jazz-Schulen und bürgerlichen Kreisen.
Steve Coleman ist der letzte große, innovative Meister, der die alte Jazz-Subkultur verkörpert. Bevor man über die Zukunft des Jazz spekuliert, geht es erst einmal darum, den aktuellen Entwicklungsstand mitzubekommen, indem man Zugang zu Steve Colemans Musik findet – so wie es in Charlie Parkers Zeit darauf ankam, Zugang zu seiner Musik zu finden. Wie großartig Charlie Parkers Musik tatsächlich ist, auch heute noch, erkennt man nicht ohne Weiteres. Das gilt auch für Steve Colemans Musik.
Die wichtigste Aufgabe der Jazz-Szene wäre es, kreativen Meistern wie Charlie Parker und Steve Coleman genügend Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten und ihre Musik für nachfolgende Generationen zu bewahren. Doch wird die Szene von den Eigeninteressen der vielen Akteure beherrscht und produziert so eine Flut von Aufnahmen, die bei Weitem nicht an die Meisterwerke herankommen – an ihre Originalität, ihre Ausdruckskraft und hippe Raffinesse.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Pad Thai – Mdw Ntr (2018)
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