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Der Bassist Oscar Pettiford, ein bedeutender Musiker des Bebop-Kreises, sagte: „Die schwarze Musik ist voller Botschaften, von Anfang an.“1) Auch Bemerkungen anderer Insider der afro-amerikanischen Jazz-Tradition zeigen, dass sie diese Musik mit vielen Bedeutungen wahrnehmen, die weit über rein klangliche Aspekte hinausgehen und für sie essentiell sind. Natürlich haben auch andere Musikkulturen für ihre Kenner solche weitreichenden Bedeutungen, doch sind sie im Jazz wohl aufgrund seines Reichtums an Ideen, seiner Tiefgründigkeit, seiner kreativen Freiheit, seiner Wertschätzung für individuellen Ausdruck und seiner engen Verbindung mit dem Ringen der afro-amerikanischen Minderheit besonders vielfältig und wichtig. Sie stellen für den eingeweihten Hörer Botschaften dar, mitunter vergleichbar mit den leidenschaftlichen Offenbarungen afro-amerikanischer Kirchen.2) Doch ist das, was sie vermitteln, viel umfassender und facettenreicher als eine Heilsverkündung. Es lässt sich nicht auf eine einzelne Aussage reduzieren und mit einigen Gedanken erfassen. Vielmehr erfordern die Botschaften der kreativen Meister der Jazz-Tradition ein Ertasten des Vermittelten mit Geist und Gefühl in einem längeren Prozess. So wie man Personen erst durch vielfältige Erfahrungen näher kennenlernt, immer wieder Neues an ihnen entdecken und ihr Wesen nie ganz erfassen kann, so entwickelt sich auch das Verständnis für das, was die Meister des Jazz mit ihrer Musik abbilden, nur allmählich, durch lange Hörerfahrung, Anregungen und Information.3) Das Verständnis kann immer nur mehr oder weniger differenziert, nie vollständig und nie objektiv richtig sein, sondern bestenfalls dem nahekommen, wie die Musik von den Meistern selbst gemeint und von Insidern aufgefasst wurde. Die in vieler Hinsicht erhebliche Fremdartigkeit ihrer Kultur erschwert das Begreifen, macht die Beschäftigung mit ihren Botschaften zugleich aber umso spannender und aufschlussreicher in Bezug auf das Wesen menschlicher Lebendigkeit.
Jeder Versuch, der Musik einfache Aussagen zu entnehmen, birgt die Gefahr der Verzerrung. Denn selbst wenn eine Aussage in gewisser Weise tatsächlich in der Musik enthalten ist, so bildet sie nur einen Aspekt, der durch das Herausgreifen unangemessenes Gewicht erhalten kann. Auf diese Weise führten die eigenen Motive von Hörern immer wieder zu gravierenden Fehlinterpretationen:
In den 1920 Jahren genossen zum Beispiel viele „weiße“ Besucher die Auftritte von Musikern wie Louis Armstrong und Duke Ellington mit seinem Orchester in den afro-amerikanischen Armenvierteln von Chicago beziehungsweise New York als primitive, von bürgerlichen Normen befreiende Feste der Sinnlichkeit und Emotion. Körperlichkeit, Geschmeidigkeit und Gefühl waren zweifelsohne Qualitäten der Kunst Armstrongs und Ellingtons, ihre Intelligenz und kulturelle Leistung missachteten diese Besucher aber aufgrund allgemeiner rassistischer Sichtweisen, die selbst noch in der Gegenwart nachklingen.4)
Auch die Musiker der Bebop-Bewegung der 1940er Jahre, besonders Dizzy Gillespie, aber auch Charlie Parker und andere, erhielten unter jungen „weißen“ Leuten mit nonkonformistischen Tendenzen eine Anhängerschaft und diese Hörer deuteten die Musik im Sinn ihrer Vorliebe für ein Durchbrechen bürgerlichen Ordnungssinns, für Unkonventionelles, für Spontanität und Kreativität. Viel davon wurde von den Musikern der Bebop-Bewegung, die ebenfalls jung waren, in gewisser Weise tatsächlich verkörpert, etwa durch Gillespies spaßige Art, Parkers Drogensucht und auch durch ihre ungewöhnliche, rasante, sprühende Musik. Doch zeichnete sich Parkers und Gillespies Kunst vor allem durch großartige Meisterschaft mit Formsinn aus. Sie stellte keineswegs einen individualistischen, chaotischen Ausbruch aus spießiger Ordnung dar, sondern einen besonders virtuosen Beitrag zu einer eigenen, hochentwickelten Musikkultur. Darauf kam es den „Beatnik“-Fans aber offenbar weniger an.5)
Im Zuge der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre entstand in Europa ein größeres Interesse an so genanntem Free-Jazz, da er als politischer Protest und Ausdruck von Freiheitsdrang verstanden wurde. Freiheit war natürlich seit jeher ein bedeutender Aspekt afro-amerikanischer Kultur und die Meister des Jazz waren intelligente, weltoffene Personen, die die gesellschaftliche und politische Lage sehr bewusst wahrnahmen. Ihre Musik spiegelte schon immer ihre kulturelle und soziale Identität wider und manche setzten sie mitunter sogar für ein dezidiertes politisches Statement ein6). Der in den 1960er Jahren mit aggressivem, „freiem“ Spiel hervorgetretene Tenor-Saxofonist Archie Shepp präsentierte seine Musik häufig als politischen Kampf, ansonsten demonstrierten aber auch die bedeutenden Vertreter der Free-Jazz-Bewegung, wenn überhaupt, so nur selten ein ausdrückliches politisches Engagement.7) Außerdem befanden sich afro-amerikanische Jazz-Musiker und allgemein die afro-amerikanische Minderheit in ganz anderen Situationen als europäische Studenten aus bürgerlichem Haus, sodass die Projektion von studentischem Widerstandsgeist auf den Jazz auch deshalb Missverständnisse nahelegte. Die lange nachwirkende politisierte Wahrnehmung des Jazz brachte eine verfehlte Gewichtung der einzelnen Beiträge und Strömungen des Jazz sowie eine Missachtung von Meisterwerken und generell von Meisterschaft im Sinne der Jazz-Tradition mit sich.8)
Das sind nur einige vereinfachte, aber typische Beispiele für Fehldeutungen, die immer wieder durch die Motive der Hörer entstehen. Andererseits sind ihre eigenen Motive und Sichtweisen für die Entwicklung eines Interesses am Jazz nun einmal notwendig und dieses Interesse bildet schließlich eine wichtige ökonomische Grundlage für die weniger populären Bereiche des Jazz. Bleibt man als Hörer anhaltend interessiert, dann lässt sich die Wahrnehmung in einer anregenden Weiterentwicklung allmählich schärfen und vertiefen.
Facetten
Selbst Aussagen von Musiker-Insidern können bei isolierter Betrachtung zu falschen Schlussfolgerungen führen, wie zum Beispiel der Vergleich folgender Äußerungen zur Bedeutung von Emotionalität zeigt:
Sam Rivers: An was er interessiert ist, sei das Abbilden von Emotion. Er habe fast 70 Jahre lang Musik sorgfältig studiert und gespielt und so brauche ihm keiner, der nicht Musiker ist, zu sagen, er verstehe seine Musik. Er möchte stattdessen, dass seine Musik gefühlt wird. Es gehe um Gefühl. Bei Musik und jeder anderen Kunst gehe es um Gefühl, nicht um Intellekt. Es mag Intellekt notwendig sein, um die Emotion zu machen, aber man müsse es in Emotion oder Gefühl übersetzen. Viele Musiker würden manchmal vergessen, um was es bei Kunst geht.9)
Steve Coleman: Um subtilere Gefühle zu kommunizieren, brauche es eine gewisse Art der Verfeinerung und um zu dieser höheren Sache zu gelangen, müsse man seine Emotionen kontrollieren. Aus diesem Grund müssten Mönche ihre Leidenschaft – also ihre Emotionen, diese wilden Antworten auf die Dinge – kontrollieren, denn diese würden ihr Denken vernebeln.10)
Nach diesen Aussagen könnte man von Rivers eine sehr emotionale Musik, von Coleman hingegen eine eher abstrakte erwarten. Doch enthalten ihre musikalischen Ergebnisse stets beide Anteile und es hängt lediglich von den persönlichen Stilpräferenzen der Hörer ab, welche sie als emotionaler beziehungsweise abstrakter empfinden. Rivers sprach im Zitat mehr von der Wirkung der Musik auf Hörer, Coleman vom musikalischen Gestalten. Auch wenn sie unterschiedliche Aspekte hervorhoben, so dürften ihre Auffassungen in dieser Hinsicht durchaus übereingestimmt haben. Coleman spielte in jungen Jahren in Rivers Band und erhielt von ihm bedeutende Anregungen, die auf einem ausgesprochen avancierten Konzept beruhten.11) Coleman wiederum erwähnte in anderem Zusammenhang, dass „Feeling oder Emotion und Spiritualität […] sehr, sehr viel“ mit seiner Musik zu tun haben12), und daraus ergibt sich keineswegs ein Widerspruch zu seiner zuvor zitierten Aussage.13)
Weitere Sichtweisen zum emotionalen Aspekt der Musik sind zum Beispiel aus folgenden Bemerkungen ersichtlich:
Sonny Rollins: Er überlasse die Emotion den höheren Mächten. Sie sei der spirituelle Teil der Musik – und von allem. Würde man zu verstehen versuchen, woher das kommt und wie man es erreicht, dann wäre das wie Gott zu verstehen versuchen. Beim Spielen habe er sich einfach bemüht, den technischen Teil so gut hinzubekommen, wie er konnte, und den anderen Teil dem universellen Geist überlassen. Wenn er seinen Teil macht, werde das Universum schon seinen Teil machen.14)
Max Roach: In Wahrheit sei die Musik, die Dizzy Gillespie, Charlie Parker, Thelonious Monk und so weiter schufen, technisch schwer zu meistern und in emotionaler Hinsicht sehr schwer zu spielen, denn man müsse seine Emotionen auf das Niveau der beteiligten Technik bringen, was nicht leicht sei.15)
Rollins delegierte hier die Frage der Emotion an die „höheren Mächte“ und gab dem technischen Aspekt Gewicht. Roach verband in seiner Aussage Emotion und Technik in einer interessanten, allerdings wenig anschaulichen Weise, wobei er unter Technik wohl nicht nur instrumentale verstanden haben dürfte, sondern auch die musikalischen Konzepte. Steve Coleman wies darauf hin, dass die instrumentale Meisterschaft der herausragenden Musiker stets der Verwirklichung musikalischer Konzepte und persönlicher Aussagen diente.
Mehr dazu: Steve Coleman über den Stellenwert von Virtuosität
Letztlich sprachen alle vier Musiker (Roach, Rollins, Rivers, Coleman) über weitgehend dieselbe, für ihre Musiktradition typische Art der musikalischen Gestaltung, obwohl ihre Erläuterungen auf den ersten Blick recht unterschiedlich erscheinen.
Kernaussagen
Die elementaren Botschaften der Meisterwerke stimmen im Wesentlichen überein. So sprach Charlie Parker zum Beispiel mit folgender oft zitierten Aussage ein fundamentales Verständnis dieser Musiktradition an: „Musik ist deine eigene Erfahrung, deine eigenen Gedanken, deine Weisheit. Wenn du es nicht lebst, wird es nicht aus deinem Horn kommen.“16) Wie sehr die Spielweisen der kreativen Meister persönlicher Ausdruck von Gelebtem sind, macht zum Beispiel folgende Aussage Steve Colemans über ein Gespräch mit Sonny Rollins deutlich: Sie hätten eigentlich gar nicht so viel über Musik geredet. Doch verbinde er alles, was jemand sagt und was er spielt, damit, wer er ist. Einfach mit Rollins zu sprechen, sei für ihn daher bereits gewesen, als würden sie über Musik sprechen. Es sei tatsächlich wie ihn spielen hören gewesen. Denn diese Musiker würden in einer bestimmten Art sprechen und diese Art sei in ihrem Spiel und in dem, wer sie sind. Es sei einfach eine Art des Seins.17) Coleman erklärte auch zu seiner eigenen Musik, er versuche, so sehr sich selbst zu spielen, wie er nur kann.18) Es gehe darum ehrlich zu sein und das bedeute zu spielen, was man wirklich fühlt. Man könne mit dem stärksten Gefühl spielen, wenn man sich selbst spielt – nicht einfach irgendwelchen Blues oder etwas, von dem man weiß, dass die Leute es mögen. Er betrachte diese Musikart nicht als Unterhaltung. Sie könne unterhaltsam sein und manche Leute kämen ins Konzert, um unterhalten zu werden. Aber er betrachte sie mehr als Storytelling. Er übermittle mit seiner Band Botschaften. Storytelling könne unterhaltsam sein, aber auch schmerzlich und vieles mehr. Er verstehe es mehr im Sinne der Griots und Troubadours, als wären sie umherreisende Musiker, die Geschichten erzählen und gewisse Traditionen bewahren – nicht in imitierender, sondern eigener, kreativer Weise.19)
Da die kreativen Meister der afro-amerikanischen Jazz-Tradition somit das Leben und ihre Erfahrung ausdrücken, hat der Charakter ihrer Musik auch eine raue, herbe, wenig harmonisierte Seite. Sie kamen großteils aus belastenden sozialen Verhältnissen, die von der Diskriminierung der afro-amerikanischen Minderheit geprägt waren. Auch als Musiker haben sie mit schwierigen Lebensumständen zu kämpfen. Die faszinierende Wirkung ihrer Musik besteht aber gerade darin, dass sie mit kraftvollem Schwung die Widrigkeiten überwindet und gesteigerte Lebendigkeit in einer Form von Schönheit hervorbringt.
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Der Schlagzeuger Kenny Clarke, ein Initiator der Bebop-Bewegung, sagte rückblickend: Es habe in ihrer Musik eine Botschaft gegeben: Was immer du angehst, gehe es intelligent an!20) Clarke spielte unter anderem mit Charlie Parker, der in seinen Augen eines jener Genies war, von denen es nicht mehr als eines in einem Vierteljahrhundert gebe.21) Parkers Spiel war sehr ausdrucksstark, aber auch äußerst raffiniert strukturiert. John Coltrane knüpfte an Parkers Innovationen an und trieb auf eigene Weise die kunstvolle Gestaltung auf die Spitze. Später setzte er zunehmend raue, wilde Klänge ein, die dem Ausdruck seines spirituellen Strebens dienten22), doch gab er die komplizierte Strukturierung in seinen Improvisationen nie auf.23) In neuerer Zeit ging Steve Coleman vor allem in rhythmischer Hinsicht über das zuvor erreichte Maß an Komplexität noch deutlich hinaus und schuf eine zugleich sehr geschmeidige, groovende Musik mit großem Ausdrucksreichtum. Aber auch schon zu Beginn dieser Linie einflussreicher, kreativer Meister der Jazz-Tradition stand mit Louis Armstrong ein Musiker, der damals vor allem in Bezug auf Kenntnissen, Einfallsreichtum und Gestaltungskunst hervorstach. Weitere Meister wie Duke Ellington, Art Tatum und Sonny Rollins erlangten ebenfalls in erster Linie aufgrund der Raffinesse ihrer Kunst hohes Ansehen. Ihre gesteigerte geistige Lebendigkeit ist völlig unakademisch, freizügig in ihrer Kreativität und lebensnah.
Die von diesen Meistern repräsentierte Musiktradition ist essentiell afro-amerikanisch, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre spezielle Ästhetik, die von Afro-Amerikanern entwickelt und weiterentwickelt wurde24) und mit anderen Formen afro-amerikanischer Subkultur in Verbindung steht25). Vielmehr wurde diese Musik von ihren Schöpfern als Ausdruck einer spezifisch afro-amerikanischen Identität und Erfahrung verstanden.26) Dieses Verständnis wurde auf vielfältige Art ausgedrückt – entsprechend den verschiedenartigen Persönlichkeiten der Musiker und ihren jeweils eigenen Lebenssituationen27) und gefördert von der im Jazz bestehenden Vorliebe für Individualität und persönlichen Ausdruck. Viel an Bedeutung wird durch einen laufenden Bezug auf ein kulturelles „Hintergrundwissen“ vermittelt, wie es Vijay Iyer nannte.28) Zum Beispiel spielte der aus der Charlie-Parker-Zeit stammende Schlagzeuger Roy Haynes im Jahr 2006 auf der Beerdigung des Saxofonisten Dewey Redman überraschenderweise einfach einen mittelschnellen, stark swingenden Blues.29) Aufgrund der weit zurückreichenden Bedeutung des Blues für die afro-amerikanische Jazz-Tradition und Identität und wohl auch im Hinblick auf Redmans Herkunft sowie seine Rolle im avantgardistischen Umfeld leistete Haynes damit einen vielsagenden Beitrag. – Die Bedeutungen, die die Musik durch das afro-amerikanische Selbstverständnis erhält, sind wesentlicher Teil ihrer Botschaft und können gerade durch die separate Position gegenüber der Mehrheitskultur auch für europäische Hörer reizvoll sein.
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