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10.) Jazz-Stile: Kritik --- FÜR DIE SCHULE ERKLÄRT


Die Jazz-Stile spiegeln wider, wie Jazz-Kritiker früher die verschiedenen Entwicklungen im Jazz-Bereich wahrgenommen und bewertet haben. Die Kritiker waren Jazz-Fans aus einem bürgerlichen Milieu, das von der Jazz-Subkultur weit entfernt war, und sie urteilten sehr selbstsicher nach eigenen Vorstellungen. Was sie als Stile feststellten, hatte zwar durchaus einen realen Kern: etwa die spezielle Tradition aus New Orleans; die Gruppe junger, „weißer“ Musiker, die in Chicago nachts ins afro-amerikanische Ghetto fuhren; die Modewelle des Swing mit Benny Goodman als Star; die so genannte Bebop-Bewegung; die Tendenz zur „klassischen“ Ästhetik, die mit der Bezeichnung Cool-Jazz umrissen wurde und so weiter. Aber das System der so genannten Stile, das daraus gebildet wurde, ist irreführend, und zwar aus folgenden Gründen:

  1. Was als Jazz-Stile bezeichnet wird, sind in Wahrheit keine auch nur einigermaßen einheitlichen und klar voneinander abgrenzbaren Stile. Zum Beispiel unterscheiden sich die persönlichen Stile der beiden bedeutendsten Pianisten der Bebop-Bewegung, Bud Powell und Thelonious Monk, gravierend. Andererseits bestanden zwischen so genannten Bebop-Musikern und älteren Musikern wie Art Tatum, Don Byas und Coleman Hawkins enge musikalische Verbindungen, die einer Trennung in unterschiedliche Stil-Kategorien widersprechen. Andere so genannte Jazz-Stile wie Chicago-Jazz, Cool-Jazz, Hardbop und Free-Jazz sind noch viel diffuser als Bebop.

  2. Die Kriterien, nach denen der Jazz in Stile eingeteilt wird, sind oberflächlich. Die Original Dixieland Jazz Band und Louis Armstrongs erste Hot-Five-Band spielten beide so genannte Kollektivimprovisationen. Aber ihre Musik drückte etwas sehr Unterschiedliches aus. Dasselbe gilt für die Musik, die Benny Goodman und Duke Ellington mit ihren Bigbands schufen. Die vielen Musiker, die Charlie Parkers Spielweisen nachahmten, spielten nach dem Schema der Stile – wie Parker selbst – Bebop. Aber Parkers eigene kreative Improvisationen sind etwas ganz anderes als die Nachahmung.

  3. Dadurch, dass die Stile als repräsentativ für eine Zeit dargestellt werden, verdecken sie die große Vielfalt des Jazz, die zu allen Zeiten bestand. Zum Beispiel wurde der Jazz in den 1940er Jahren nicht vom Bebop dominiert, sondern unter anderem vom Dixieland Revival, das im Stil-Schema überhaupt nicht vorkommt. Auch eine Menge Bigband-Musik wurde damals gespielt. Von einem kommerziellen Erfolg, wie ihn der „weiße“ Bigband-Leiter Stan Kenton mit seinem „Progressive Jazz“ hatte, konnte Charlie Parker nur träumen. Und es gab noch sehr viel mehr, was damals eine erhebliche Rolle spielte, zum Beispiel Billie Holiday, Nat King Cole, Louis Jordan, Frank Sinatra mit Tommy Dorsey und so weiter. Vor und nach den 1940er Jahren war es nicht anders. Die Stile verengen den Blick und dann kommen solche Aussagen zustande wie folgende Überschrift in einem Schulbuch: „Der Jazz öffnet sich – Rockjazz und Fusion“. Der Jazz war noch nie etwas anderes als weit offen.

  4. Bei der großen Vielfalt des Jazz muss man zwangsläufig eine Auswahl treffen. Es ist Aufgabe der Jazz-Kritik, den Hörern Hinweise zu geben, welche Beiträge zum Jazz bedeutend sind. Aber die Jazz-Kritiker waren selbst keine Insider und irrten oft umher. So wie die Stile in den Schulbüchern gelehrt werden, ignorieren sie viel Bedeutendes vor der Bebop-Bewegung und das meiste wirklich Bedeutende nach der Bebop-Bewegung. Sie ignorieren die lange, reiche Jazz-Piano-Tradition, die bis in die Frühzeit des Jazz zurückreicht. Sie ignorieren Duke Ellingtons Errungenschaften der 1920er Jahre, Art Tatums große Kunst, die kleinen Bands von Coleman Hawkins, Don Byas und so weiter. Sie ignorieren den gesamten großartigen Sonny Rollins, John Coltranes überragende Werke vor 1965, Miles Davis beste Aufnahmen von den späten 1950er Jahren bis 1968, Woody Shaws Musik der 1970er Jahre und viele weitere Aufnahmen, die über ihre Zeit hinaus wichtig bleiben.

Im Bereich der „klassischen“ Musik ist es undenkbar, dass Schulbücher etwa die Bedeutung von Beethovens Sinfonien einfach übergehen. In Bezug auf die Jazz-Tradition fehlt hingegen eine entsprechende Wertschätzung für die herausragenden Werke. Das ergibt sich aus einem Mangel an grundlegendem Verständnis für diese besondere Musikkultur.

Diese großartige Kultur ist nach wie vor lebendig. Zum Beispiel hat der Saxofonist Steve Coleman die Tradition von Charlie Parker und John Coltrane in einer sehr aktuellen und sehr hippen Form weiterentwickelt. Aber das spielt sich weitgehend im Untergrund ab und gelangt wohl nie in die Schulbücher.

Mehr auf meiner Website. Und in meinem Radioprogramm kann man all diese Musik rund um die Uhr hören. Die Links findet man in den Video-Infos.

 

Mehr zu den Jazz-Stilen: Link
Mehr zu Steve Coleman: Link

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