Ein Schulbuch unterscheidet Volksmusik, Kunstmusik und populäre Musik, wobei es unter Kunstmusik nur die klassische europäische Konzertmusik versteht. Das ist immer noch eine weitverbreitete Sichtweise. Den Jazz zählt das Schulbuch zur populären Musik und auch diese Auffassung vertreten die „klassisch“ dominierten Institutionen häufig. In den Mittelpunkt des Jazz stellt das Schulbuch Miles Davis, der mit seiner Musik immer wieder ein größeres Publikum ansprach. Das Buch bezeichnet ihn sogar als „Motor des Jazz“. Aber das war er weniger. Er war vor allem darin geschickt, Trends aufzugreifen, ausgezeichnete Bands zu bilden und die Musik in zugänglicher Weise zu inszenieren.
Wirklich populär war der Jazz jedoch schon zu Miles Davis‘ Zeiten nicht mehr. Und nun ist er längst eine Minderheitenmusik, die nur rund ein Prozent der verkauften Musik ausmacht und als schwer zugänglich gilt. Dagegen wendet ein anderes Schulbuch ein, der Jazz mische sich doch mittlerweile sehr mit anderen Musikarten. Das Buch bespricht dann eine Fusion-Aufnahme von Herbie Hancock und ein Stück des englischen Sängers Jamie Cullum. Beide haben nur geringe Jazz-Anteile. Auch andere Schulbücher führen immer wieder Musiker aus dem Übergangsbereich des Jazz zur Popmusik an, etwa die Fusion-Band Weather Report, das schwedische Esbjörn Svensson Trio, die holländische Saxofonistin Candy Dulfer, die Sängerinnen Diana Krall und Norah Jones und den Sänger Michael Bublé. Mehrfach wird auf hohe Verkaufszahlen eines Albums hingewiesen, als wäre das ein Qualitätskriterium.
Im Allgemeinen ordnen die Schulbücher aber den Jazz nicht ausdrücklich der populären Musik zu. Und sie nennen auch oft Aufnahmen, die eine Tendenz zur Ästhetik der „klassischen“ Musik haben, – offenbar weil sie dadurch künstlerisch wertvoll erscheinen. Die „klassisch“ angehauchte Linie gibt es bereits seit den 1920er Jahren und sie war immer wieder besonders erfolgreich, zum Beispiel als so genannter Cool Jazz und später etwa durch Pianisten wie Keith Jarrett, Brad Mehldau und in Europa etwa durch Esbjörn Svensson. Es ist kein Wunder, dass die „klassisch“-lastigen Schulbücher dafür empfänglich sind.
Die Tendenz zum europäischen Künstlertum und die Tendenz zur Popmusik verdecken beide den starken, eigenständigen Kern des Jazz: die afro-amerikanische Tradition der großen Meister. Sie wird von Musikern wie Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane, Sonny Rollins und in neuerer Zeit Steve Coleman repräsentiert. Diese Musik ist eine der kunstvollsten aller Zeiten. Sie hat einen eigenen Charakter, den man mit dem typisch europäischen Kunstmusikverständnis nicht erfassen kann. Und sie hat auch starke volkstümliche Elemente bewahrt, die sie nicht abgehoben, sondern sehr natürlich, lebendig klingen lassen. Viele weltoffene Europäer haben eine Liebe zu dieser Musikkultur entwickelt. Doch im Allgemeinen hat sich für sie keine Wertschätzung als große kulturelle Leistung etabliert, vor allem nicht im „klassisch“ dominierten Kulturbetrieb. So fehlt auch in den Schulbüchern eine angemessene Würdigung.
Die Musik, die junge Leute überwiegend hören, stammt zu einem großen Teil aus derselben afro-amerikanischen Subkultur, aus der auch der Jazz kam. Die Musik von Coltrane, Rollins, Steve Coleman und so weiter ist einfach der am stärksten entwickelte, kunstvollste Teil dieser Subkultur. Wenn die Schule Kultur vermitteln soll, und zwar vor allem eine Kultur, die mit dem Leben der Menschen verbunden ist, dann müsste sie also von Musikern wie Coltrane, Rollins und Steve Coleman sprechen.
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