Radio
Alle Videos
Startseite

JAZZ SPIRIT – 11. Politik (bis 1950)


          HÖRBEISPIEL: Gus Cannon: Can You Blame The Colored Man (1927)

Now Booker T., he left Tuskegee,
to the White House he went one day.
He was going to call on the president
in a quiet and a sociable way,
was in his car
a'was feeling fine.
Nun, Booker T. (Washington) verließ Tuskegee,
zum Weißen Haus fuhr er eines Tages.
Er wollte den Präsidenten besuchen
auf eine ruhige und gesellige Weise,
war in seinem (segregierten) Wagon
und fühlte sich wohl.

Dieser spöttische Gesang stammt von einem afro-amerikanischen Sänger und Banjo-Spieler der ländlichen Blues-Musik und wurde in den 1920er Jahren aufgenommen. Er erzählt von einem politischen Ereignis: 1901 lud der amerikanische Präsident einen Sprecher der diskriminierten, afro-amerikanischen Minderheit zu einem Gespräch ins Weiße Haus ein. Der Song macht sich über den Sprecher der Afro-Amerikaner lustig und prangert in keiner Weise ihre Diskriminierung an. Sonst wäre er auch niemals als Schallplatte veröffentlicht worden.

          HÖRBEISPIEL: Gus Cannon: Can You Blame The Colored Man (1927)

Now can you blame the colored man
for makin' them goo-goo eyes?
And when he sat down at the President's table
he began to smile
eatin' lamb, ham, veal, and roast,
chicken, turkey, quail on toast.
Nun, kann man es einem farbigen Mann verübeln,
wenn er ihnen schöne Augen macht?
Und als er sich an den Tisch des Präsidenten setzte,
begann er zu lächeln,
aß Lamm, Schinken, Kalbfleisch und Braten,
Hähnchen, Truthahn, Wachteln auf Toast.

Afro-Amerikaner wurden in den Südstaaten der USA entrechtet, gedemütigt und mit Gräueltaten eingeschüchtert. Auch in den Städten des Nordens bildeten sie eine benachteiligte, ausgegrenzte Unterschicht.1) Radiosender und Schallplatten-Produktion waren in „weißer“ Hand. Von afro-amerikanischen Musikern wurden erst spät regelmäßig Schallplatten aufgenommen und die waren dann auch nur für afro-amerikanische Käufer vorgesehen. Sie wurden in eigenen Listen als „Race Records“ (Rassen-Platten) geführt und so vor „weißen“ Plattenkäufern weitgehend verborgen.2) Doch entdeckten auch einige „weiße“ junge Leute diese Musik und begannen sich für sie zu begeistern. Das Spiel eines Jazz-Meisters wie Louis Armstrong war besonders beeindruckend.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong and His Hot Seven: Potato Head Blues (1927)

Für die finanzschwachen Afro-Amerikaner zu spielen, brachte Musikern nur geringe Einkünfte. Um beim größeren und wohlhabenderen „weißen“ Publikum anzukommen, begann Louis Armstrong eine Clown-Rolle zu spielen, die an Minstrel-Shows3) erinnerte. Das war seine Möglichkeit, mit der Subkultur, aus der er kam, in einer Gesellschaft Erfolg zu haben, die für seine Herkunft nur Verachtung übrig hatte.

Im Jahr 1929 nahm Louis Armstrong erstmals den Song Black and Blue auf, der vom Leid spricht, das Diskriminierung verursacht. Der Songtext fragt jedoch: Was habe ich bloß getan, dass ich so schwarz und unglücklich bin? – als wäre das Unglück selbstverschuldet. Der Song war eigentlich rassistische Parodie4), doch sang ihn Louis Armstrong so, dass er beim Publikum Mitgefühl auslöste, zum Beispiel 1947 in Boston:

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong: (What Did I Do To Be So) Black And Blue (1947, Boston)

In dieser erbärmlichen Opferrolle erreichte Louis Armstrong sein „weißes“ Publikum – auch in der Rolle des freundlichen Spaßmachers, die er meistens spielte. Für wehrhafte Afro-Amerikaner erwartete er hingegen wenig Verständnis. Noch Mitte der 1960er Jahre erklärte er, er wolle mit dem Black-and-Blue-Song niemanden an die Märsche der Bürgerrechtsbewegung oder an Gleichberechtigung denken lassen.5)

Auf politische Fragen ließ er sich nicht ein. Sein strahlendes Trompetenspiel sprach jedoch für sich, demonstrierte Stolz, Mut und den Willen, sich nicht mit dem zugewiesenen Platz am Rande der Gesellschaft zu begnügen. Louis Armstrongs Kunst, mit der er die Welt eroberte, war revolutionär und bildete die andere Seite seines zwiespältigen Spiels, mit dem er sich aus dem Loch befreite, in das er hineingeboren wurde. Seine Musik konnte man als laute Stimme seiner diskriminierten Minderheit verstehen. Viele nahmen jedoch nur Spaß, Unterhaltung und das erstaunliche Talent eines Ungebildeten wahr.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong: Basin Street Blues (1928)

Duke Ellington hatte leichtere Startbedingungen als Louis Armstrong und als Orchesterleiter eine souveräne Rolle. Aber auch er musste mit dem Rassismus und Gangstertum des Unterhaltungsgeschäfts zurechtkommen und dazu gute Laune zeigen. Er war von panafrikanischen Ideen beeinflusst6), nach denen Afro-Amerikaner tatsächlich Afrikaner sind, die in der Diaspora leben – verschleppt aus ihrer Heimat. Bereits in den 1930er Jahren erklärte Duke Ellington, seine Musik sei Ausdruck des Lebens seines eigenen Volkes.7) Zugleich trat er gebildet, kultiviert auf und bekundete seinen Glauben an die amerikanische Demokratie8). Das machte sein afro-amerikanisches Selbstverständnis akzeptabel.9) 1943 konnte er sogar in der altehrwürdigen Carnegie Hall sein Werk Black, Brown and Beige aufführen, das die afro-amerikanische Geschichte darstellt. Dem überwiegend „weißen“ Publikum gefiel es.10) Duke Ellington leistete viele Benefizkonzerte für Bürgerrechtsgruppen.11)

          HÖRBEISPIEL: Duke Ellington: Ko-Ko (1940, Fargo)

Als frühes Proteststück des Jazz gilt der Song Strange Fruit, den Billie Holiday ab 1939 sang. Er beschreibt, wie gelynchte Afro-Amerikaner auf Bäumen hängen – wie seltsame Früchte (so der Titel). Aufwühlend an diesem Song sind die grausigen Morde selbst, die in den Südstaaten der USA immer wieder als Form des rassistischen Terrors begangen wurden. Der Song stammte nicht von Billie Holiday. Gesellschaftskritische „Weiße“ überredeten sie, ihn zu singen.12) Obwohl sie nicht aus dem tiefen Süden kam und in New York lebte, war sie selbst immer wieder von Diskriminierung betroffen und hätte daher genug Grund zu Protest gehabt. Aber sie erwartete nicht, dass das Publikum von solchen Problemen berührt werden wollte.13) Auch wirbelte der Song in ihr immer wieder schmerzliche Erinnerungen auf14), die sie beim Singen in Tränen ausbrechen ließen15). Er blieb das einzige sozialkritische Stück in ihrem Repertoire.16)

          HÖRBEISPIEL: Billie Holiday: Strange Fruit (1939)

In der so genannten „Bebop“-Bewegung der 1940er Jahre sah Duke Ellington den Geist des politischen Führers Marcus Garvey17), der in den 1920er Jahren die erste afro-amerikanische Massenbewegung in Gang gesetzt hatte18). Die Musik, die „Bebop“ genannt wurde, enthielt jedoch keine direkten politischen Aussagen, sondern knüpfte auf folgende Weise an Marcus Garveys Panafrikanismus an: Musiker wie Charlie Parker und Dizzy Gillespie begannen sich mit afro-kubanischer und afrikanischer Musik auseinanderzusetzen und verstanden das als Entdecken ihrer Identität im panafrikanischen Sinn.19) Dieses Wiederverbinden mit verlorengegangenen afrikanischen Wurzeln blieb bis heute ein starker Motor für die Weiterentwicklung des Jazz – meistens in nicht sofort erkennbarer Weise, manchmal in offensichtlicher.20)

          HÖRBEISPIEL: Max Roach: Garvey‘s Ghost (1961, mit Booker Little)

Die jungen Musiker der „Bebop“-Bewegung entfernten sich von der Tanz- und Unterhaltungsfunktion des Jazz weiter als alle ihre Vorgänger. Sie schufen eine anspruchsvolle Musik zum Zuhören, die den eigenen, afro-amerikanischen Charakter der Jazz-Tradition bewahrte und sich damit stark von der europäisch geprägten Kunstmusik unterschied. Anerkennung von der Mehrheitsgesellschaft war nicht zu erwarten, denn afro-amerikanischer Kultur wurde grundsätzlich kein ernsthafter Wert zugestanden. Selbst unter Afro-Amerikanern blieb die Anhängerschaft dieses „Bebop“ sehr begrenzt. Die meisten fanden ihn zu verrückt. Sich kompromisslos der Entwicklung dieser Musik zu verschreiben, ohne existenzielle Absicherung, war also kühn. Auch das erinnerte an den Geist von Marcus Garvey, der alles daran setzte, etwas Eigenes zu schaffen, statt sich um Integration zu bemühen.

          HÖRBEISPIEL: Dizzy Gillespie: Things to Come (1946)

Dizzy Gillespie sagte: „Wir gingen nicht hinaus und hielten Reden oder sagten: Lasst uns acht Takte Protest spielen! Wir spielten einfach unsere Musik und die verkündete unsere Identität. Die Musik enthielt alle Aussagen, die wir machen wollten.“21)

Für ihre Botschaft waren jedoch selbst viele Anhänger nicht aufgeschlossen, sondern projizierten eigene Anliegen in die Musik. So genannte Beatniks und Hipster, „weiße“ junge Leute, sahen in „Bebop“ eine ausgeflippte Lebensart, die sich um oberflächliche Kicks drehte.22) In Wahrheit ging es in dieser Musik laut Dizzy Gillespie um Intelligenz, Sensibilität, Kreativität, Veränderung, um Weisheit, Freude, Mut, Frieden, Zusammengehörigkeit und Anständigkeit.23)

Charlie Parkers wunderbares Spiel ist wie ein Blick in eine hellere, humanere Welt – jenseits von Rücksichtslosigkeit, Menschenverachtung und Gewalt.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Out Of Nowhere (1948)

Im nächsten Video geht es mit den 1950er Jahren weiter. Quellenangaben und Erläuterungen gibt es wie immer im Video-Text. Ein Link steht unter dem Video.

 

Alle Video-Texte

——————————————————

Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Ingrid Monson: Eine der größten Missverständnisse über Jim Crow („Rassentrennung“) sei, dass es ein ausschließlich südliches Phänomen war. (Quelle: Ingrid Monson, Freedom Sounds, 2007, S. 31)
  2. Näheres: Link
  3. Näheres zu Minstrel-Shows: Link
  4. Im Jahr 1929 lief eine Broadway-Revue mit dem Titel Hot Chocolates, die von Fats Waller komponiert und Andy Razaf (aus Madagaskar stammend) geschrieben wurde. Der Finanzier der Show, der Gangster Dutch Schultz, verlangte ein komisches Lied, in dem ein „farbiges Mädchen“ darüber klagt, wie schwer es ist, „schwarz“ zu sein. Als sich Razaf weigerte, bedrohte ihn Schultz mit einer Pistole. Armstrong spielte in anderen Stücken dieser Revue mit. Als er im selben Jahr unter anderem Black and Blue aufnahm, ließ er die Einleitung des Songs weg, sodass der Song nicht mehr eine Klage über Benachteiligung innerhalb der Gruppe der „Farbigen“ durch besonders dunkle Hautfarbe war, sondern über die Benachteiligung aller „Farbigen“. (Quelle: Terry Teachout, Pops. A Life of Louis Armstrong, 2010/2009, S. 136-139)
  5. Quelle: Louis Armstrong/Richard Meryman, Louis Armstrong – a self-portrait, 1971/1966, S. 42; Meryman ließ seinen Teil des Interviews weg, wodurch der irreführende Eindruck eines Monologs entsteht. (Quelle: Thomas Brothers, Louis Armstrong. Master of Modernism, 2014, Kindle-Ausgabe, S. 516, Anmerkung 125)
  6. Näheres und Quelle: Link
  7. Näheres und Quelle: Link
  8. Penny M. Von Eschen zu Duke Ellingtons Tourneen für das Außenministerium ab 1963: Er scheine nicht nur ein Patriot gewesen zu sein, sondern glaubte bei seinen Tourneen im Auftrag des amerikanischen Außenministeriums offenbar auch ernsthaft an die Mission Amerikas im Kalten Krieg, die Überlegenheit der Demokratie zu propagieren, – eine Sichtweise, die nicht unbedingt von den Mitgliedern seines Orchesters geteilt wurde. (Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 123)
  9. Duke Ellington erhielt zum Beispiel für seine Creole Rhapsody (1931), die die afro-amerikanische Existenz zum Ausdruck bringen sollte, sogar einen Kompositionspreis, der ihm vom New Yorker Bürgermeister überreicht wurde. (Quelle: Wolfram Knauer, Duke Ellington, 2017, S. 97)
  10. Näheres und Quelle: Link
  11. Wolfram Knauer: Duke Ellington sei ab den 1930er Jahren regelmäßig bei Benefizkonzerten für „schwarze“ Bürgerrechtsgruppen aufgetreten – oft „linken“ Gruppen, die vom FBI für verdächtigt gehalten und observiert wurden. (Quelle: Wolfram Knauer, „Reminiscing in Tempo”, in: Wolfram Knauer [Hrsg.], Duke Ellington und die Folgen, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 6, S. 52f.)
  12. Quelle: Donald Clarke, Billie Holiday. Wishing on the Moon, 1995/1994, deutsche Ausgabe, S. 196-199
  13. Billie Holiday: Sie habe anfangs Bedenken gehabt, dass „die Leute den Text hassen würden“. (Quelle: Donald Clarke, Billie Holiday. Wishing on the Moon, 1995/1994, deutsche Ausgabe, S. 199)
  14. insbesondere an den Tod ihres Vaters, der nach ihrer Auffassung sterben musste, weil ihm in Dallas, Texas, aus rassistischen Gründen eine angemessene ärztliche Hilfe verweigert wurde (Quelle: Donald Clarke, Billie Holiday. Wishing on the Moon, 1995/1994, deutsche Ausgabe, S. 146 und 203)
  15. Quelle: Donald Clarke, Billie Holiday. Wishing on the Moon, 1995/1994, deutsche Ausgabe, S. 199f.
  16. Quelle: Donald Clarke, Billie Holiday. Wishing on the Moon, 1995/1994, deutsche Ausgabe, S. 202
  17. Näheres und Quelle: Link
  18. Näheres und Quelle: Link
  19. Näheres: Link
  20. Näheres: Link
  21. Quelle: Dizzy Gillespie/Al Fraser, To Be, or Not … to Bop, 1979/2009, S. 291
  22. Quelle: Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, 2003, S. 137-139
  23. Quelle: Dizzy Gillespie/Al Fraser, To Be, or Not … to Bop, 1979/2009, S. 297

 

 

 

Kontakt / Offenlegung