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JAZZ WANDEL – 10. Gerede


Der einflussreichste deutsche Beitrag im Jazz-Bereich stammt wohl von Joachim-Ernst Berendt, einem so genannten Jazz-Kritiker, Buchautor, der noch dazu von sich sagte, er sei mehr Schriftsteller als Jazz-Spezialist.1) Sein Jazzbuch, das er über Jahrzehnte immer wieder aktualisierte, wurde in viele Sprachen übersetzt und gilt als weltweit meistgekauftes Buch über Jazz.2) Sein Einfluss wuchs bereits in den 1950er Jahren. Rückblickend berichtete er: Der angebliche „Jazz-Boom“ der damaligen Zeit sei ein Boom des Geredes gewesen. Die Kritiker waren mit ihren Büchern erfolgreich, aber die Musiker hungerten und der „fade, leere“ West-Coast-Jazz triumphierte.3)

Vieles, was über Jazz geschrieben wird, ist Gerede. Die Schreiber sind keine Insider der Musikkultur der Meister und die Insider keine Schreiber.

          HÖRBEISPIEL: Von Freeman: Von Freeman's Blues (1975)

Jazz-Hochschulen entstanden, wuchsen und veränderten den Jazz grundlegend. Eine universitäre Jazz-Forschung etablierte sich. Universitätsprofessor Ekkehard Jost analysierte zum Beispiel das Saxofonspiel von Peter Brötzmann:

„Zum einen schafft er vermittels des Ansatzes und durch die Verwendung unkonventioneller Gabelgriffe überblasene Klänge, die aufgrund ihrer unharmonischen Obertonstruktur häufig den Charakter von dissonanten Mehrklängen annehmen und mitunter bis ins Geräuschhafte deformieren. Kontinuierliche Ansatz- und Griffwechsel führen dann zu jenen glissandierenden Klangbändern, die das Substrat für die von der Jazzpublizistik heraufbeschworene ‚Ästhetik des Schreis‘ bilden.“4) Und so weiter.

Brötzmanns Spielweise erscheint hier hochkompliziert. Tatsächlich schrie er einfach mit seinem Saxofon, und zwar so rüde, dass er als Berserker bezeichnet wurde.5)

          HÖRBEISPIEL: Peter Brötzmann: Tell a Green Man (1969)

Ekkehard Jost lieferte auch viele wertvolle Informationen. Es ist keineswegs alles entbehrlich, was Musikwissenschaftler und Musikjournalisten über Jazz mitgeteilt haben. Vieles ist jedoch irreführend oder einfach falsch.

Die angesehene Universität von Oxford veröffentlichte im Jahr 2000 ein Nachschlagewerk, das den Jazz besonders breit und tief darstellen soll. Darin wird behauptet, Louis Armstrong habe für sein Trompetenspiel viel von Opernsängern gelernt.6) Thomas Brothers, der die beiden besten, fundiertesten Bücher über Louis Armstrong schrieb, widerlegte das.7) Aber seine Ausführungen muss man erst einmal finden, um die falsche Information aus Oxford wieder aus dem Kopf zu bringen.

Wie man eine Musik erlebt, hängt sehr von der Musikerfahrung ab, die man mitbringt. Jazz-Autoren sind in der Regel akademisch und damit klassisch europäisch gebildet und so kann einer Ähnlichkeiten mit Opernarien wahrnehmen, ohne dass ein realer Zusammenhang besteht. Die Jazz-Literatur enthält viele eigenwillige Interpretationen, selbstgefällige Bewertungen und Verallgemeinerungen persönlicher Vorlieben. Die ein wenig fremdartige, afro-amerikanische Subkultur von Meistern wie Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane und Steve Coleman wird oft missverstanden und nicht angemessen gewürdigt.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong: Basin Street Blues (1928)

Im Jahr 2001 verkündete der britische Jazz-Kritiker Stewart Nicholson, europäische Musiker hätten die „kreative Initiative“ im Jazz übernommen. Er meinte junge Musiker, die Jazz mit populärer elektronischer Musik verbanden, zum Beispiel Bugge Wesseltoft, einen kommerziell erfolgreichen Keyboarder. Der erklärte aber schon bald darauf, die Elektro-Jazz-Bewegung habe sich totgelaufen, er müsse sich erneuern. Nun produzierte er einschläfernde Entspannungs- und Stimmungs-Musik, interpretierte Pop-Songs und eingängige „klassische“ Stücke und nannte ein Album Everybody Loves Angels, alle lieben Engel. Deutsche Musiker verjazzten alte Schlager wie Kauf dir einen bunten Luftballon und nannten das Album Great German Songbook.8)

Stewart Nicholsons Botschaft war eine Blase, die schon nach kurzer Zeit platzen musste, sagte ein Jazz-Kritiker treffend.9) Aber eine Aufwertung des europäischen Jazz, wie sie Nicholson offensiv betrieb, war vielen ein Anliegen. Der Konkurrenzdruck unter den vielen Jazz-Schulabsolventen und zwischen den europäischen Jazz-Szenen war gewachsen. Staatliche Jazz-Förderungen sind in Europa beträchtlich, reichen aber nie aus. Musiker, Veranstalter, Institute hängen von ihnen ab. All das befeuert das Ringen um Beachtung und Anerkennung – auch in Konkurrenz zur afro-amerikanischen Tradition.

Europäische Journalisten und Wissenschaftler unterstützen die heimischen Interessen mit Texten und Theorien und verleihen sich damit selbst Gewicht. Universitätsprofessor Martin Pfleiderer forderte eine neue Ästhetik des Jazz, die sich von den afro-amerikanischen Traditionen ablöst und im Einklang mit europäischer Kunstmusik steht.10) Verständnis für die afro-amerikanische Subkultur der Meister war ohnehin nur wenig verbreitet und schwindet immer weiter.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Cousin Mary (1963)

Jazz war ursprünglich eine spaßige Tanzmusikmode mit schrillen Klängen oder als Sweet-Jazz eine schmalzige Variante davon mit Geigenklängen. In den 1930er Jahren dominierte seichte Swing-Musik, in den 1940er Jahren das Dixieland-Revival, in den 1950er Jahren der „fade, leere“ West-Coast-Jazz, wie Joachim-Ernst Berendt schrieb. Dass die afro-amerikanische Subkultur von Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane weltweit bekannt wurde, ist engagierten Jazz-Kritikern zu verdanken. Das waren keine Musikwissenschaftler, sondern aufgeschlossene, begeisterungsfähige, „weiße“, junge Leute. Den besonderen Reiz und Wert dieser Subkultur zu erkennen, erfordert eine entsprechende Offenheit, Empfänglichkeit, Sensibilität. Die erwirbt man nicht durch theoretisches Wissen oder schulischen Fleiß. Akademisches Expertentum ist hier nutzlos.

Das Jazzinstitut Darmstadt stellte auf seiner Website die Jazz-Geschichte dar. Bedeutende Musiker der 1990er Jahre sah es vor allem auch in Europa, etwa den Trompeter Pino Minafra, der italienische Folklore und europäische Kunstmusik heranzog, die Sängerin Mari Boine, die skandinavische Folklore in Jan Garbareks Musik einbrachte, den Pianisten Esbjörn Svensson, der mit Anklängen an Keith Jarrett, an Rock, Pop und Klassik junge Hörer gewann, die beiden deutschen Musiker Christof Lauer und Jens Thomas, die mit Stimmungen in der Art Jan Garbareks arbeiteten.11)

          HÖRBEISPIEL: Pino Minafra: Rosso e nero (1995)

          HÖRBEISPIEL: Jan Garbarek: Evening Land (1995, mit Mari Boine)

          HÖRBEISPIEL: Esbjörn Svensson: Tuesday Wonderland live (2006)

          HÖRBEISPIEL: Christof Lauer/Jens Thomas: Shadows in the Rain (2001)

Das ist alles weit von Charlie Parkers und John Coltranes Tradition entfernt. Diese Tradition entwickelte Steve Coleman in den 1990er Jahren brillant und zeitgemäß weiter und er faszinierte damit auf vielen Europa-Tourneen tausende Zuhörer. Das Jazzinstitut Darmstadt war für seine Musik nicht empfänglich, erwähnte Steve Coleman mit keinem Wort. Später löschte es einfach die gesamte Darstellung der Jazz-Geschichte von der Website.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Drop Kick Live (1995)

Das Jazzinstitut Darmstadt versteht sich als internationales Forschungs- und Informationszentrum und veranstaltet alle 2 Jahre ein Forum zu Fragen der Jazz-Forschung. Beim Forum des Jahres 2023 war einer der Vortragenden ein angesehener deutscher Hochschullehrer und Musiker.12) Aus seiner Sicht sind viele europäische Musiker genauso bedeutend wie John Coltrane. Besonders schätzt er zum Beispiel Solo-Aufnahmen des britischen Saxofonisten Evan Parker.13)

          HÖRBEISPIEL: Evan Parker: Monoceros 2 (1978)

Wie Evan Parker vielfältige Saxofon-Klänge ineinander verflechtet, ist kunstvoll und aus der afro-amerikanischen Jazz-Tradition abgeleitet, ähnelt aber mehr abstrakter europäischer Kunstmusik. Meister wie Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane und Steve Coleman sprechen hingegen mit ihrem stimmähnlichen Ausdruck aus der Seele, vermitteln durch Groove Schwung und Lebensmut, bezaubern mit melodischen Linien, berühren tiefgehend.

Evan Parker spielte alleine in einem Raum mit spezieller Akustik. Die Musik der Jazz-Meister hingegen ist eine Gruppenmusik. Spielen sie ausnahmsweise alleine, dann ist die Rhythmusgruppe immer noch in ihrem Spiel spürbar, erklärte Steve Coleman.14) Live kommt die kommunikative Kraft und Lebendigkeit ihrer Musik besonders zur Geltung – in Resonanz mit Zuhörern.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Hits/Straight No Chaser (2002)

Im Jahr 2024 wurde die Leitung des Jazzinstituts Darmstadt von einer jüngeren, hochgebildeten Frau übernommen. Für eine Radio-Sendung, in der sie als neue Leiterin interviewt wurde, wählte sie 4 Musikstücke aus, die für sie besondere Bedeutung haben:

1. einen lieblichen, folkloristischen Pop-Song von Simon & Garfunkel (April Come She Will),

2. einen Pop-Song im Stil der Country-Musik von einer Band, die sich Dixie Chicks nannte (Taking the Long Way, 2006),

3. ein getragenes, „klassisches“ Geigenstück von Johannes Brahms (Streichsextett B-Dur op. 18, Andante) und

4. einen alten Musical-Song (Just in Time), gesungen von Nina Simon, die zwischendurch auch ein unspektakuläres Klavier-Solo spielte, und dieses Klavier-Solo war der einzige Jazz-Bezug in der gesamten Musikauswahl.15)

Joachim-Ernst Berendt erzählte: Wenn er bei Leuten sein Jazzbuch im Bücherregal stehen sah, freute er sich, aber dann fand er oft unter den Schallplatten höchstens das Modern Jazz Quartet – keine Billie Holiday, keinen Lester Young, keinen Charlie Parker – und da dachte er sich: All seine Vermittlungsarbeit war umsonst.16)

Heute ist diese wunderbare Musikkultur noch wesentlich weniger präsent – nicht einmal in der Radio-Sendung über die Leiterin des bedeutendsten Jazz-Instituts im deutschsprachigen Raum. Dabei ist diese Musikkultur noch immer lebendig – in großartiger, aktueller Form durch Steve Coleman, zum Beispiel in folgender Live-Aufnahme, die 2024 in Frankreich gemacht wurde, und darin ist an den Reaktionen des Publikums erkennbar: Diese Musik funktioniert wie eh und je hinreißend.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Spontaneous Drum (2024)

Alle Video-Texte

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Quelle: Joachim-Ernst Berendt, Das Leben – Ein Klang, 2007, S. 315
  2. Quellen: 1. Günther Huesmann in: Ulrich Habersetzer, Der streitbare Streiter des Jazz, 19.7.2022, Internet-Adresse: https://www.br-klassik.de/themen/jazz-und-weltmusik/joachim-ernst-berendt-100-geburtstag-gesraech-huesmann-100.html; 2. Frederik Steiner, Die Welt muss wieder hörend werden, 24.7.2022, Internet-Adresse: https://www.zeit.de/kultur/musik/2022-07/joachim-ernst-berendt-jazz-musikgeschichte/komplettansicht
  3. Quelle: Joachim-Ernst Berendt, Ein Fenster aus Jazz, 1977, S. 12
  4. Quelle: Ekkehard Jost, Europas Jazz 1960-80, 1987, S. 91
  5. Joachim-Ernst Berendt: „Ausländische Beobachter haben gelegentlich gewisse ‚bersekerhafte’ Züge deutscher Jazzmusik als typisch ‚teutonisch’ bezeichnet. Zum Beispiel tat dies die maßgebliche englische Musikzeitschrift Melody Maker in Bezug auf die Improvisationen des deutschen Saxofonisten Peter Brötzmann, dessen musikalischer Kahlschlag viele Zuhörer erschreckt hat. – ‚Es ist eine Musik, die dich buchstäblich mit Hass auflädt‘, sagte damals der Gitarrist Attila Zoller über Brötzmann. ‚Ich kann’s nicht hören, ich möchte alles anstecken oder kurz und klein schlagen, wenn ich eine Weile Brötzmann gehört habe.‘ Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Brötzmann, obwohl in unserem Lande hochgeschätzt, im Ausland trotz verschiedener Festival- und Konzertauftritte vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit gefunden hat." (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt, Ein Fenster aus Jazz, 1977, S. 243)
  6. Quelle: William H. Youngren, European Roots of Jazz, in: Bill Kirchner [Hrsg.], The Oxford Companion to Jazz, 2000, S. 24f.
  7. Näheres: Link
  8. Näheres: Link
  9. Näheres: Link
  10. Näheres: Link
  11. Das Jazzinstitut erweiterte seine Darstellung der Jazz-Geschichte im Jahr 2003 mit einem Kapitel über die 1990er Jahre und entfernte die gesamte Jazz-Geschichte 2014 ersatzlos.
  12. Frank Gratkowski
  13. Quelle: Kommentar von Frank Gratkowski zum YouTube-Video 18. Darmstädter Jazzforum – Frank Gratkowski: Was ist Jazz?, Internet-Adresse: https://www.youtube.com/watch?v=ud9389xIxCI&list=PL4idoz_UfmMoQAxjPlRkxRlx-yA97CXSv&index=9&ab_channel=JazzinstitutDarmstadt
  14. Steve Coleman dazu: Link
  15. Quelle: Podcast der Serie Doppelkopf des Hessischen Rundfunks, „Jazz ist tolle Musik und hat dafür in Deutschland einen kleinen Stellenwert." Bettina Bohle, Jazzinstitut Darmstadt, 25.9.2024, Internet-Adresse: https://www.hr2.de/podcasts/doppelkopf/jazz-ist-tolle-musik-und-hat-dafuer-in-deutschland-einen-kleinen-stellenwert--bettina-bohle-jazzinstitut-darmstadt,podcast-episode-134882.html
  16. Quelle: Joachim-Ernst Berendt, Ein Fenster aus Jazz, 1977, S. 12

 

 

 

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