Radio
Alle Videos
Startseite

JAZZ WANDEL – 3. Selektion


          HÖRBEISPIEL: Miles Davis: Joshua (1963, mit George Coleman, Tenorsaxofon)

Miles Davis engagierte im Jahr 1963 für seine neue Band den Saxofonisten George Coleman und schätzte seine Beiträge. Der junge Schlagzeuger der Band, Tony Williams, fand George Colemans Stil hingegen zu traditionell. Im darauffolgenden Jahr (1964) wurde George Coleman durch den Saxofonisten Sam Rivers ersetzt, den Tony Williams in der Band haben wollte.

          HÖRBEISPIEL: Miles Davis: So What (1964, mit Sam Rivers, Tenorsaxofon)

Sam Rivers schied bereits nach einigen Monaten wieder aus. Sein Stil passte nicht perfekt in diese Band.1) Er kam aus der Jazz-Tradition, hatte auch in Blues-Bands gespielt und europäische Komposition studiert. Anfang der 1960er Jahre wandte er sich der Free-Jazz-Bewegung zu. Er fand es erfrischend, wie sich junge Musiker ausdrückten, ohne sich um Tradition und Meisterschaft zu kümmern. Davon angeregt, entwickelte er eine Improvisationsweise, die ganz den spontanen Impulsen folgte – so, wie man beim Reden die Gedanken einfach fließen und sich selbst ordnen lassen kann, erklärte Sam Rivers.2)

Ihm zuzuhören erforderte einiges an Interesse und Ausdauer. Sein Spiel klang verschmiert, verstümmelt3), melodisch und rhythmisch wenig ansprechend, wie ein langes Selbstgespräch.

          HÖRBEISPIEL: Sam Rivers: Streams – Tenor Saxophone Section (1973)

Die musikalische und technische Unbedarftheit junger Free-Jazz-Musiker hatte auch eine problematische Seite und mit der war Sam Rivers konfrontiert, als er in den 1970er Jahren sein Studio Rivbea betrieb – das bedeutendste so genannte Loft der New Yorker Avantgarde-Szene, ein selbstorganisiertes Zentrum für Zusammenkünfte und Veranstaltungen. Bei seinen Auftritten ließ er großzügig junge Musiker einsteigen. Manche von ihnen konnten jedoch nur hupen und kreischen und bekamen dafür unter Umständen auch noch eine Menge Applaus, erzählte Sam Rivers. Er fand es beleidigend, wie sie seine Musik und den ganzen Abend ruinierten. Schließlich wurde er restriktiver. Wenn sie auf die Bühne kamen, fragte er sie: „Was kannst du dem noch hinzufügen? Du bist hier gesessen und hast mich zwei Stunden lang spielen gehört, hast gehört, wie wir die Intensität gesteigert haben. Was kannst du alldem noch hinzufügen?“ Sie grinsten oder starrten ihn an und zogen ab.4)

          HÖRBEISPIEL: Sam Rivers: Shockwave (1978)

Sam Rivers legte auch Wert auf seine Kompetenz in traditionelleren Spielweisen. In den 1980er Jahren gehörte er eine Zeit lang der Band des älteren Trompeters Dizzy Gillespie an. Er sagte, Dizzy Gillespies Musik zu spielen, sei Präzisionsarbeit gewesen, ein komplizierter Prozess, wesentlich schwieriger als das freie Spiel.5) In denen 1960er Jahren wollten viele Musiker nichts von Harmonien und Form wissen und das habe das musikalische Niveau erheblich sinken lassen.6)

Sam Rivers nutzte auch seine Kenntnisse in europäischer Komposition und entwickelte – angeregt von Strawinskis Musik – aufregende Bigband-Sounds. Sie inspirierten den jungen Steve Coleman, der dann mit seinen Konzepten die Jazz-Entwicklung weiter vorantrieb.

          HÖRBEISPIEL: Sam Rivers‘ Rivbea Orchestra: Nebula (1998)

Sam Rivers Frage „Was kannst du alldem noch hinzufügen?“ war für die Musiker, an die sie sich richtete, ärgerlich. Sie wollten einfach mitspielen, eine Chance bekommen, wahrgenommen werden. Für das Gelingen der Aufführung war die Frage jedoch essentiell – und sie ist es für den Jazz generell: Eine Musikkultur kann ihren Charakter, ihre spezielle Qualität nur bewahren, wenn diese Frage eine zentrale Rolle spielt. Qualität muss zur Geltung kommen, Meister erkannt und geachtet werden, kulturelle Identität gepflegt werden.

Was fügt all den großartigen Aufnahmen der Jazz-Meister etwas Hörenswertes hinzu? Welche Beiträge und neueren Entwicklungen bereichern diese wunderbare Kultur? Diese Fragen sind auch für Hörer wichtig. Hörer bringen nun einmal nur sehr begrenzt Zeit, Energie und Interesse für Jazz auf und sollten vor allem zu seinem wirklich faszinierenden Teil Zugang finden.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Impressions (1963)

Wie die biologische Evolution, so braucht auch eine lebendige Kultur das Zusammenspiel zweier entgegengesetzter Prozesse: einerseits Variation, Mutation, Vervielfältigung und andererseits Auslese, Selektion. Das hält die Qualität, die Lebenskraft aufrecht. Natürlich will auf dem Markt jeder zum Zug kommen und Vielfalt ist wertvoll, aber Auswahl ist unumgänglich und findet immer statt. Es kommt nur darauf an, nach welchen Kriterien – nach Marktinteressen oder nach dem Wert für die jeweilige Kultur. Diesen Wert einer Musik einzuschätzen, erfordert Insider-Kenntnis der Kultur.

Sam Rivers war in Steve Colemans Augen ein von der Jazz-Geschichtsschreibung übersehener Musiker.7) Greg Osby teilte diese Auffassung.8) Im Jahr 1998 ermöglichte Steve Coleman Aufnahmen von Sam Rivers Bigband-Musik, die in zwei Alben veröffentlicht wurden.9) Steve Coleman fand allerdings nicht ganz befriedigend, dass Sam Rivers allen Band-Mitgliedern gleich viel Raum für Soli gab, um niemanden zu benachteiligen. Die Soli gerieten dadurch sehr kurz und die wirklich starken Solisten traten zu wenig hervor.10) Sam Rivers scheute hier also Selektion und beeinträchtigte damit das Ergebnis.

          HÖRBEISPIEL: Sam Rivers‘ Rivbea Orchestra: Nebula (1998, Steve Colemans Solo)

Wer mehr über Jazz erfahren wollte, las früher im deutschsprachigen Raum das Jazzbuch von Joachim-Ernst Berendt. Wie andere Jazz-Kritiker vertrat Berendt oft eigenwillige und abwegige Sichtweisen, aber er sagte auch: „Fast alles, was die Kritiker in 50 Jahren Jazz-Kritik an wirklich Relevantem zusammengetragen haben, stammt von den Musikern selbst.“11) Daher waren ihm seine persönlichen Kontakte zu Meistern wie Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane wichtig. Die gebildeten, „weißen" Jazz-Kritiker sind keine Insider der afro-amerikanischen Kultur der Meister. Das gilt auch für Jazz-Klubbetreiber, Konzertveranstalter und Musikproduzenten. Von ihnen hängt jedoch ab, was Jazz-Interessierte zu hören und über Jazz zu lesen bekommen. Kritiker, Veranstalter, Produzenten selektieren – angetrieben von Idealismus und Eigeninteressen, Begeisterung und Selbstgefälligkeit.

Das Angebot für Jazz-Interessierte wurde immer breiter. Zu den Meistern zu finden und zu erkennen, was ihre Musik so großartig macht, war nie ganz einfach. Die Jazz-Literatur bot aber immerhin genügend Ansatzpunkte, um sich einen Weg dorthin zu bahnen.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Hot House (1949, Royal Roost)

Die Jazz-Kritiker legten sich gedankliche Schubladen zurecht – die so genannten Jazz-Stile –, in die sie das Geschehen auf der Jazz-Szene einordneten – wie sie es aus ihrer Warte wahrnahmen. Die Jazz-Geschichte stellten sie als Abfolge dieser Stile dar: New-Orleans-Stil, Chicago-Stil, Swing, Bebop und so weiter. Bis heute wird Jazz so gelehrt, auch auf Hochschulen. Joachim-Ernst Berendt trieb es auf die Spitze, indem er die Stile genau den Jahrzehnten zuordnete und dahinter eine innere Dynamik des Jazz sah. Er neigte zur Esoterik, der er sich im Alter als Autor widmete – anstelle des Jazz.12)

Die Kategorisierungen und Bewertungen der Kritiker waren die gesamte Jazz-Geschichte hindurch für afro-amerikanische Musiker ein Ärgernis mit tiefsitzender Rassen-Problematik. Doch durften die Musiker es sich nicht mit den Kritikern verscherzen, mussten freundliche Mine zeigen, denn die Kritiker beeinflussten maßgeblich Publikum, Veranstalter und Produzenten und entschieden damit weitgehen über Musikkarrieren, über die Präsenz ganzer Musikerkreise, auch über die Wahrnehmung und Anerkennung afro-amerikanische Jazz-Kultur insgesamt.

          HÖRBEISPIEL: Yusef Lateef/Von Freeman: South Side (1992)

Musik, die als Jazz bezeichnet wird, war schon immer vielfältig. Neue Spielweisen ersetzten nicht ältere, wie es die Abfolge von Stilen erscheinen lässt, sondern kamen hinzu und vermischten sich mit älteren.

Steve Coleman sagte: „Die Leute lesen diese Bücher von Kritikern wie Berendt, die diese großen Abhandlungen über Jazz schreiben, und haben dieses Zeug in ihren Köpfen, realisieren nicht, dass das Leben nicht so ist, wie es diese Bücher darstellen mit ihren ganzen Kategorien. Das geschah in der Swing-Ära, das in der Bebop-Ära, das in New Orleans und dann kam die Musik den Fluss herauf. Das ist alles bloß ein riesengroßer Mythos."13)

Ab den 1970er Jahren gelang es den Jazz-Kritikern immer weniger, das System der Stil-Kategorien weiterzuführen. Sie erklärten das wiederum mit der Entwicklung des Jazz: Er sei nun unübersichtlich geworden, habe keinen überragenden neuen Stil mehr hervorgebracht.

Dabei erwies sich Steve Coleman mit seinen innovativen Konzepten ab 1990 als einer der großen, kreativen Meister der afro-amerikanischen Jazz-Kultur-Geschichte. Und er beeinflusste – in den Worten des älteren Musikers Billy Hart – „im Stillen die gesamte Musikwelt des Jazz“.14)

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Drop Kick Live (1995)

Berendt zog sich aus dem Jazz zurück und überließ es einem jüngeren Kritiker, sein Jazzbuch weiterzuführen. Der versuchte, die Vielfalt der verschiedenen Szenen einzufangen, und dementsprechend überfrachtet wurde das Jazzbuch.

Als richtungsweisenden Jazz-Musiker der 1990er Jahre stellte er den Saxofonisten John Zorn vor, der als „Stile-Zertrümmerer" für die „Pluralität" des „postmodernen“ Jazz stehe.15) Doch erklärte John Zorn, er habe sich immer eher als klassischer Musiker verstanden. Seine Musik werde zwar in Jazz-Magazinen besprochen, gehöre aber eigentlich nicht dorthin, und er trete nur deshalb im Rahmen von Jazz-Veranstaltungen auf, weil er sonst nirgendwo spielen kann.16) Eine bedeutende Figur der Linie von Meistern wie Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane ist John Zorn also zweifellos nicht – Steve Coleman hingegen sehr wohl. Ihm spricht das Jazzbuch jedoch keine richtungsweisende Bedeutung zu.

Nicht nur das Jazzbuch, sondern auch angesehene amerikanische Jazz-Kritiker nennen als Jazz-Stil mittlerweile auch Modeerscheinungen wie Pop-Jazz-Gesang, Smooth-Jazz, Acid-Jazz, New-Age-Jazz, Hip-Hop-Jazz, Nu-Jazz und Lounge-Jazz. Eine Selektion, die Jazz-Interessierten die Kultur der Meister nahebringt, leistet die Jazz-Kritik kaum mehr. Sie ist nach Aussage eines Musikers größtenteils Selbstbefriedigung, liefert keine nützlichen Einblicke oder Informationen, sagt den Leuten bloß vor, was „in“ sein soll, statt wirklich bedeutende Leistungen zu würdigen.

Kritiker wie Berendt verschafften John Coltranes Musik noch große Wertschätzung unter Jazz-Anhängern. Die besondere Bedeutung von Steve Coleman wurde hingegen nicht mehr entsprechend vermittelt, obwohl Musiker immer wieder auf sie hinwiesen.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Figit Time (2017))

Alle Video-Texte

——————————————————

Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Näheres: Link
  2. Näheres: Link
  3. Näheres: Link
  4. Quelle: Ekkehard Jost, Jazzmusiker, 1982, S. 83-85
  5. Quelle und Näheres: Link
  6. Quelle: Ekkehard Jost, Jazzmusiker, 1982, S. 83-85
  7. Näheres: Link
  8. Näheres: Link
  9. Inspiration und Culmination
  10. Näheres: Link
  11. Näheres: Link
  12. Mehr dazu: Link
  13. Quelle: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 22: Tools and Vibe, Audio im Abschnitt 1:38:57 bis 1:41:29 Stunden/Minuten/Sekunden, veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://M-Base.net
  14. Mehr dazu und Quelle: Link
  15. Quelle: Link
  16. John Zorn erklärte zu einer seiner Bands: „Vielleicht kommt Uri [ein Bandmitglied] ein bisschen mehr aus dem Jazz-Lager und Fred Frith [ein anderes Bandmitglied] ein bisschen mehr aus dem Rocklager. Jeder [der Musiker der Band] hat verschiedene Wurzeln. Ich habe mich immer mehr als klassischer Musiker verstanden. Aber die Musik, die daraus entstand, ist keine klassische Musik, sie ist kein Jazz und kein Rock. Es ist neue Musik. Aber wo wurde sie verhandelt? In Jazz-Magazinen. Und weil diese Musik fast immer ein Element von Improvisation enthielt, hieß es: Okay, wir schreiben die Rezension, wir machen dieses Interview mit Fred Frith oder John Zorn. Auch wenn es da eigentlich nicht hingehört. Das hat ein großes Missverständnis über unsere Musik entstehen lassen. Die Leute haben die Musik an Jazz-Parametern gemessen. Ich spiele beim Marciac Jazz Festival, weil ich nirgends sonst spielen kann.“ (QUELLE: Zeitschrift Jazzthing, Nr. 78, 2009, S. 52)

 

 

 

Kontakt / Offenlegung