HÖRBEISPIEL: Betty Carter: My Favorite Things (1979)
Betty Carter war die bedeutendste Sängerin der neueren Jazz-Geschichte – eine hervorragende Musikerin mit sehr persönlichem, cleverem Ausdruck und echter Improvisationskunst.1) In jungen Jahren wurde sie von Charlie Parker auf die Bühne geholt, wenn er in ihrer Heimatstadt Detroit auftrat. Charlie Parkers Geist, Kreativität und Raffinesse prägten ihr Jazz-Verständnis.2) Bis ins Alter bewahrte sie den kreativen Geist und Offenheit für neue Impulse junger Musiker.3) Musiktheoretische Kenntnisse waren ihr wichtig, aber ebenso Natürlichkeit. Sie sagte, so wie Billie Holiday sang – ungeschult, unerschrocken und unbefangen. Die rohe, natürliche Art, wie die Musik aus Billie Holiday kam, war in Betty Carters Augen eine wesentliche Qualität des Jazz. Auch Sarah Vaughn und Ella Fitzgerald hätten einen natürlichen Zugang gehabt.4)
Mit der Natürlichkeit ist Individualität verbunden. Auf sie wurde in Betty Carters Anfangszeit großer Wert gelegt. Man dachte nicht über Geld nach, sondern nur, wie man sein „Ding“ zusammenbekommt, eigenständig klingt, erklärte Betty Carter. Nach jemand anderem zu klingen, habe als eine Art Sünde gegolten.5) Mittlerweile sei Individualität fast ausgestorben. Die Jungen befänden sich in einer Falle, imitieren alle möglichen Vorbilder und sind frustriert. Wenn sie irgendetwas als Vorbild bewirken kann, dann möchte sie zu Individualität anregen.6)
HÖRBEISPIEL: Betty Carter: Open The Door (1979)
Ende der 1950er Jahre wurde Betty Carter vom Jazz-Star Miles Davis dem Publikum präsentiert.7) Sie kannte ihn seit der Zeit, als er der Trompeter der Charlie-Parker-Band war. Mit seiner eigenen Band bereitete Miles Davis die Musik für ein größeres Publikum verständlicher und gefälliger auf und trug dabei doch viel vom Geist der Charlie-Parker-Ära weiter. Als Sängerin bot auch Betty Carter dem Publikum ein unterhaltsames und zugleich anspruchsvolles Musikerlebnis. In ihren Augen war Miles Davis bis Ende der 1960er Jahre einer der beständigsten Jazz-Musiker. Dann habe er sie jedoch mit seiner Jazz-Rock-Fusion enttäuscht. Wie vielen Jazz-Musikern der 1970er Jahre sei es ihm nur mehr um Sound gegangen, um Mätzchen mit elektronischen Instrumenten. Sie wolle etwas Richtiges hören, nicht bloß Sound. Wenn man Sound produziert, dann sollte man damit etwas Musikalisches machen, nicht einfach nur Sound des Sounds wegen.8)
HÖRBEISPIEL: Miles Davis: Zimbabwe (1975)
Sound alleine genügt nicht, so beeindruckend er auch sein mag. Es muss damit etwas wirklich Musikalisches gemacht werden. Diese Kritik Betty Carters betrifft auch die so genannte Free-Jazz-Bewegung, die um 1960 in Gang kam. Ausdrucksvolle Klänge waren schon immer eine Stärke afro-amerikanischer Musik. Was Jazz-Meister in der Tradition von Louis Armstrong auszeichnet, ist jedoch vor allem ihr bestechendes rhythmisch-melodische Spiel mit diesen Klängen. Charlie Parker führte diese Kunst auf ein unübertreffliches Niveau, mit viel spontaner Gestaltung. Die Initiatoren der Free-Jazz-Bewegung, Ornette Coleman und so weiter, erweiterten dann die Spielmöglichkeiten, indem sie die vorgegebenen Strukturen wieder vereinfachten und sich weniger um ein Richtig-Klingen kümmerten, mehr Schrägheit in Kauf nahmen. Weitere Vertreter dieser Bewegung setzten schließlich ganz auf die Ausdruckskraft eindringlicher Sounds.
HÖRBEISPIEL: Albert Ayler: Ghosts – First Variation (1964)
Die puren, schrillen Klänge wurden als Schrei der Befreiung verstanden. Der afro-amerikanische Schriftsteller und Aktivist Amiri Baraka meinte sogar, generell drücke der Sound afro-amerikanischer Musik aus: „Lass mich gehen! Lass mich frei!“ Man müsse das hören, auch wenn es nicht wörtlich, nur musikalisch ausgedrückt wird.9)
Betty Carter sah das Befreiungsthema der Free-Jazz-Bewegung kritisch: Es habe die afro-amerikanischen Jazz-Hörer vertrieben, denn die wollten nicht auch noch in einem Jazzclub mit ihrer gesellschaftlichen Problematik konfrontiert werden, sondern etwas Wohltuendes, Erhebendes erleben, das Kraft für den Alltag gibt. So mancher Free-Jazz-Musiker habe ganz gut davon gelebt, unerfahrene Europäer zu verarschen und Subventionen für Werke zu beziehen, die er nicht einmal selbst hören mochte.10) Sun Ra wäre mit seiner lächerlichen Show und substanzlosen Musik von afro-amerikanischen Bühnen verjagt worden, wenn er es gewagt hätte, dort aufzutreten. Auch Ornette Coleman habe das afro-amerikanische Publikum aus gutem Grund gemieden und sich stattdessen an „Weiße“ gewandt.11)
HÖRBEISPIEL: Ornette Coleman: Free Jazz (1960)
Betty Carter vertrat aber nicht die konservative Linie von Wynton Marsalis, sondern kritisierte auch ihn scharf.12)
HÖRBEISPIEL: Betty Carter: Feed the Fire (1993, Geri Allen Solo)
Die avantgardistische Richtung, so genannter Free-Jazz, trug kaum etwas zur Wertschätzung des Jazz in afro-amerikanischen Communitys bei und nichts zur Erhaltung der Jazzklub-Szene, die Betty Carter als Existenzgrundlage der Jazz-Tradition am Herzen lag. Aber sehr wohl ging es vielen Avantgarde-Musikern um ehrlichen Ausdruck, frei vom Unterhaltungs-Bedürfnis eines Publikums, und dieser wahrhaftige Ausdruck hat seinen eigenen Wert, zumindest für einen kleinen Hörerkreis. Auch entwickelten einige dieser Musiker spannende musikalische Konzepte und beeindruckende Spielweisen.
John Coltrane wies darauf hin, dass Charlie Parker und Dizzy Gillespie in den 1940er Jahren einen Bruch mit der Tanztradition des Jazz herbeiführten. Fast 10 Jahre später sei Miles Davis wieder in die entgegengesetzte Richtung gependelt, mehr hin zur Tanztradition. Ornette Coleman und Cecil Taylor entfernten sich davon dann noch weiter. Von Ornette Colemans Ideen war Coltrane angetan und er nutzte schließlich viele Einflüsse der Free-Jazz-Bewegung, um mit seiner Musik zum Kern der menschlichen Existenz vorzudringen, wie er es empfand.13) Seine Musik klang zunehmend extrem.
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Suite (1965)
Der Saxofonist Fred Anderson, der selbst zum Free-Jazz gezählt wurde, betrieb bis 2010 in Chicago einen Jazzclub, der Free-Jazz-Musikern eine Bühne bot, während sie sonst kaum mehr Auftrittsmöglichkeiten hatten. Er sagte: Als erste Aufnahmen von Ornette Coleman erschienen (Ende der 1950er Jahre), habe er sofort gespürt, wie sehr der von Charlie Parker beeinflusst war. Charlie Parker sei allerdings noch wesentlich freier gewesen.14)
Charlie Parker konnte spontan verwegene rhythmisch-melodische Sprünge hervorbringen und dann wie eine Katze sicher auf allen Vieren landen, sodass es sich völlig richtig und natürlich anfühlte, erklärte Steve Coleman.15) Charlie Parkers Spitzname war Bird oder Yardbird, also Vogel oder Gartenvogel, wie Afro-Amerikaner in den Südstaaten Hühner nannten. Charlie Parker aß sie besonders gerne und nannte sie auch so.16) Der Spitzname Bird war aber auch insofern treffend, als Charlie Parker in seinem Saxofon-Spiel wie ein Vogel flog – kühn, elegant und frei.
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Confirmation (1947)
Fred Anderson erklärte: In seiner Tradition gehe es darum, mit der Musik eine Art Geschichte zu erzählen17), den Geist seines Volkes (der afro-amerikanischen Minderheit) aufrecht zu erhalten, den Geist ihres Überlebens in Amerika. Musik und Tanz seien das einzige Eigene gewesen, das ihnen blieb.18)
Von der Verschleppung afrikanischer Sklaven bis zu heutigen Kindern, die in Gettos durch Gewalt und Verwahrlosung zugrunde gehen, von der früheren Ausgrenzung durch so genannte „Rassentrennung“ bis zur heutigen durch soziales Elend, Bildungsmangel und Arbeitslosigkeit, von den Rassenlehren, die dunkelhäutigen Menschen jede Fähigkeit zu Kultur und Zivilisation absprachen, bis zur Missachtung von Meistern wie Charlie Parker und Steve Coleman – Afro-Amerikaner sind seit Jahrhunderten von Auslöschung bedroht – als Person, als bedeutender Teil der Gesellschaft, als Minderheit mit eigener Identität, Geschichte und Kultur. Dagegen entwickelten sie in ihrer Musik einen brennenden Ausdruck des Überlebens, der Lebendigkeit und Freiheit. Unzählige – vor allem junge – Leute weltweit hat ihre Musik damit bereits begeistert – von Trommel-Rhythmen und Tänzen der Sklaven bis zu Hip-Hop und top-intelligentem, lässigem Jazz.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Khet & KaBa (2018)
Das Anleiten und Bewerten durch Lehrer, wie es in der heutigen Jazz-Ausbildung üblich ist, widerspricht völlig dem selbstbestimmten, freien Geist der kreativen Meister und der Vorliebe dieser Musikkultur für persönlichen, individuellen Ausdruck.
Im Jahr 2014 erschien der Kinofilm Whiplash, der unmenschlichen schulischen Leistungsdruck thematisiert – anhand der Jazz-Ausbildung. Zwar geht es in Jazz-Schulen wohl nicht generell herzlos wie in diesem Film zu.19) Aber dass der Jazz überhaupt für die Darstellung von schulischem Drill in Frage kam, zeigt, wie sehr er in den letzten Jahrzehnten durch die Verschulung verändert wurde. Jazz war geradezu ein Symbol für Freiheit, Selbstbestimmung und Individualität.
HÖRBEISPIEL: Dizzy Gillespie: Oop-Pop-A-Da (1947)
Was die kreativen Meister antrieb, war ihre Faszination von dieser Musiktradition und ihr Verlangen, mit einem wertvollen Beitrag Teil davon zu werden. Das erforderte ein hohes Maß an Hingabe, eine Liebe zu dieser Kultur. Die Meister bestechen durch eine Brillanz des Ausdrucks, der Ideen, des spontanen Gestaltens, nicht bloß durch technische Virtuosität. Die diente nur als Mittel zum Zweck. Pures Virtuosentum im Imitieren von Vorbildern, um das es im Whiplash-Film geht und das heute allgegenwärtig ist, war belanglos.
HÖRBEISPIEL: Art Tatum: Makin' Whoopee (1953)
Für den heutigen Jazz bezeichnend ist im Whiplash-Film auch, dass er als überwiegend „weiße“ Musik erscheint. Die Protagonisten sind „weiß“, Afro-Amerikaner nur ein Teil der Kulisse. Verkrampfte Anstrengung ersetzt afro-amerikanische Lockerheit und Lässigkeit. Ein Ereignis in Charlie Parkers Anfangszeit, bei dem der Schlagzeuger Jo Jones ein Becken auf den Boden warf, wird verfälscht erzählt und hochgespielt20), um Erziehungsmethoden zu rechtfertigen. Der Film ergibt ein düsteres, aber nicht aus der Luft gegriffenes Bild davon, was aus der Jazz genannten, afro-amerikanischen Musikkultur in den letzten Jahrzehnten gemacht wurde.
Vogelfrei, frei wie ein Vogel, bedeutet auch ohne jeden Schutz der Gesellschaft. So werden die schöpferischen Meister des Jazz und damit großartige afro-amerikanische Kultur in die Vergangenheit verdrängt.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Common Law – take 2 (2002)
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