Jazz war ursprünglich Tanzmusik, und zwar oft mitreißende.
HÖRBEISPIEL: Count Basie and
His Orchestra: Every Tub (1938)
HÖRBEISPIEL: Count Basie and His
Orchestra: Jumpin' At The Woodside (1938)
Im Untergrund gab es schon
früh auch Auftritte von Jazz-Musikern, bei denen sie ihr Können
präsentierten, ohne dass dazu getanzt wurde.1)
Als sich eine größere Zahl von Jazz-Fans dafür interessierte, wurden solche
Auftritte für sie veranstaltet.2)
Daraus entstand allmählich die heute vorherrschende Form des Jazz-Hörens:
Man sitzt da und hört zu. Ältere Musiker bedauerten diese Entwicklung. Ein
Posaunist der Count-Basie-Band (Dicky Wells) sagte: „Es war einfach mehr
Seele drin, als Jazz und Tanzen zusammengehörten.“3)
Aber die Meister des Jazz gaben den Tanz nicht wirklich auf. Er verlagerte
sich nur. Die Meister scheinen selbst wie Tänzer zu spielen und ihre
melodischen Bewegungen sind so geschickt, dass sie jeden körperlichen Tanz
verblassen lassen. Empfängliche Zuhörer schwingen innerlich mit. Äußerlich
zeigt sich das in kleinen Körperbewegungen wie einem Fußwippen. Dizzy
Gillespie sagte: „Meine Musik ist mehr zum Zuhören bestimmt, aber dennoch
bringt sie dich dazu, mit dem Kopf zu wackeln und mit dem Fuß zu klopfen.
Wenn ich ins Publikum schaue, während wir spielen, und niemand macht das,
dann weiß ich, dass wir das Publikum nicht wirklich erreichen.“
Kunstmusik im europäischen Sinn distanziert
sich weitgehend vom Bewegungsgefühl der Volks- und Popmusik. Die Kunst der
Jazz-Meister hingegen baut auf einer reichen afro-amerikanischen Subkultur
auf, die auf stilvolle Bewegung Wert legt, nicht nur in Musik und Tanz,
sondern auch im Sport und in anderen Lebensbereichen. Bereits auf der
volkstümlichen Ebene kommt es auf Gewandtheit, Lässigkeit,
Reaktionsfähigkeit und Einfallsreichtum an. Die Meister des Jazz treiben das
in ihrer Musik auf die Spitze, besonders mit ihrem melodischen Spiel. Diese
Kunst der Bewegung trägt entscheidend dazu bei, dass ihre Musik ein
unmittelbar befriedigendes Hörerlebnis ergibt.
Ich habe es immer wieder erlebt, dass mir
Charlie Parkers Melodielinien so in die Knochen fuhren, dass ich
unwillkürlich aufstand und zu tanzen begann, zum Beispiel bei diesem Solo:
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker:
Bluebird (1947)
Charlie Parkers Spiel enthält viele kleine melodische
Figuren, die so schnell ablaufen und raffiniert gestaltet sind, dass ich sie
oft nur in groben Zügen mitbekomme – aber doch gut genug um zu spüren, wie
elegant diese Kurven, Schwünge und feinen rhythmischen Verschiebungen sind.
Wenn ich in lockerer Verfassung und aufnahmebereit bin, kann diese Musik
faszinierende Bewegungsgefühle auslösen.
Dasselbe
erlebe ich mit Steve Colemans Musik, obwohl die ein viel komplizierteres
rhythmisches Fundament hat. Charlie Parkers Musik beruht auf einem einfachen
klaren Puls oder Beat, der vom so genannten Walking-Bass dargestellt wird,
also dem gehenden oder laufenden Kontrabass:
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker:
Bluebird (1947)
Steve Colemans Musik liegt ebenfalls ein Puls zugrunde,
aber der wird nicht in einfacher Weise dargestellt, sondern ergibt sich aus
einem komplexen rhythmischen Geflecht. Das braucht ein wenig Einhören. Umso
spannender und reichhaltiger ist dann jedoch der Groove, den man erlebt:
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and
Five Elements: Adrenal, Got Ghost (2012)
Steve Coleman hat viele solche rhythmischen Geflechte
geschaffen, die keineswegs bloß kompliziert sind, sondern einen starken
Groove entfalten, in bester afro-amerikanischer Tradition. Darüber spielt er
auf dem Saxofon brillante melodische Linien und die sprühen durch all die
spannenden Beziehungen zum Rhythmusgeflecht:
HÖRBEISPIEL:
Steve Coleman and Five Elements: Attila 04 (Closing Ritual) (2006)
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