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JAZZ ESSENZ – 9. Befreiung


          HÖRBEISPIEL: Count Basie and His Orchestra: Swinging the Blues (1938)

Was der Schlagzeuger Jo Jones hier in dieser Aufnahme aus dem Jahr 1938 macht, ist lässig. Noch einmal, verlangsamt:

          HÖRBEISPIEL: Count Basie and His Orchestra: Swinging the Blues (1938)

Nun noch einmal mit normaler Geschwindigkeit:

          HÖRBEISPIEL: Count Basie and His Orchestra: Swinging the Blues (1938)

Manche Bigbands begannen damals (in den späten 1930er Jahren), hin und wieder ein richtiges Schlagzeugsolo einzubauen. Aber das waren zunächst oft eher Show-Einlagen mit wilden Gebärden des Schlagzeugers.1) Da diese Bands primär Tanzmusik spielten, hatten Schlagzeug-Soli wohl schlicht keine wirklich musikalische Funktion.

Im Allgemeinen waren die kreativen Möglichkeiten eines Schlagzeugers sehr beschränkt. Seine Hauptaufgabe war Time-Keeping – also den Beat mit konstantem Tempo swingen zu lassen. Der Schlagzeuger Billy Hart sagte: Damals sei der Schlagzeuger im Gefängnis gewesen, wenn nicht gar ein Sklave.2)

Um 1940 begann Kenny Clarke, neben dem Time-Keeping immer wieder spontan Akzente und Figuren einzufügen und mit den Melodie-Instrumenten in Dialog zu treten. In den kleinen Bands junger Musiker, die nicht zum Tanzen spielten, war Kenny Clarks kreatives Schlagzeugspiel gefragt.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Christian: Swing to Bop (1941, Minton's Playhouse)

Andere Schlagzeuger folgten Kenny Clarkes Beispiel und allmählich erhielt das Schlagzeug einen wichtigen Part im gesamten improvisatorischen Prozess einer Band. Zum Beispiel war der Schlagzeuger Max Roach in den 1940er Jahren der großartige Dialogpartner Charlie Parkers.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Ko-Ko (1948)

Max Roachs Beitrag klingt beim ersten Hinhören wenig spektakulär. Die Tonqualität dieser alten Live-Aufnahme ist schlecht. Der Walking-Bass ist kaum wahrnehmbar und außerdem sehr schnell. Auch das Klavier ging unter und die Klänge der Schlagzeugbecken fehlen weitgehend. Steve Coleman wies jedoch darauf hin, wie raffiniert Max Roach hier agiert. Vieles in seinem Schlagzeugspiel sei nicht direkt ausgedrückt, sondern nur angedeutet. Das mache den Rhythmus so mysteriös. Der Groove sei knallhart und zugleich unberechenbar. Max Roach greife spontan Teile von Charlie Parkers Melodien auf und nutze sie für einen Kommentar. Der musikalische Dialog habe den Charakter eines Gesprächs. Sie reagieren reflexhaft aufeinander und wie enge Freunde, die in einem Gespräch die Sätze des jeweils anderen zu Ende führen können. Das geschehe alles so geschickt und subtil, dass es die meisten Hörer nicht erkennen.3)

Wenn man ein bisschen versucht, Steve Colemans Hinweisen zu folgen, erhält man zumindest ein paar Eindrücke von dieser großen, hippen Kunst.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Ko-Ko (1948)

In dieser Musik, die nicht auf die Füße von Tänzern zielt, sondern auf scharfe Ohren, macht auch ein Schlagzeugsolo Sinn – zumindest, wenn es so musikalisch gestaltet ist wie das von Max Roach.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Ko-Ko (1948)

In der ersten Hälfte der 1960er Jahre war John Coltranes wichtigster Dialogpartner der Schlagzeuger Elvin Jones. Gemeinsam steigerten sie sich zu brennender Intensität. Der Rest der Band setzte dabei manchmal aus.4)

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Impressions (live, Stockholm 1963)

Elvin Jones nutzte die verschiedenen Teile des Schlagzeugs, um einen einheitlichen rhythmischen Fluss zu erzeugen, der sich ständig veränderte und den Improvisationen der Melodie-Instrumente ähnelte. Der Grundrhythmus wurde dabei so indirekt ausgedrückt, dass anfangs selbst manche Musiker irritiert waren.5 John Coltrane jedoch schätzte Elvin Jones Spielweise sehr und bis heute gilt sie als Inbegriff eines mächtigen, swingenden Jazz-Grooves.6)

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Tunji (1962)
          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: One Up, One Down (1963)

In John Coltranes Musik bildete lange Zeit der Kontrabass eine rhythmische Leitlinie – oft durch Walking-Bass-Spiel.7) Der Pianist trug mit klaren Akzenten der linken Hand ebenfalls zu einem stabilen rhythmischen Fundament der Musik bei.8) Coltrane war jedoch stets um eine Weiterentwicklung seiner Musik bemüht und griff um 1965 Ideen der damals aktuellen so genannten Free-Jazz-Bewegung auf. Die konstante Bass-Linie wurde aufgelöst und schließlich setzte Coltrane Rashied Ali ein – einen jener jungen Schlagzeuger, die extrem unregelmäßige Strukturen erzeugten, sodass keine klaren Rhythmen und kein Swing oder Groove mehr entstanden.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Mars (1967)

Manche sahen in solcher Musik das Endergebnis eines langen Strebens nach Freiheit, das sich durch die gesamte Jazz-Geschichte ziehe. Doch ging es bei der früheren Befreiung der Rhythmus-Instrumente lediglich um ein Loslösen von ihrer dienenden Rolle in der Tanzmusik und um ihre Beteiligung am improvisatorischen Prozess. Erst die Free-Jazz-Bewegung ging von klaren Strukturen ab, löste den Grundrhythmus auf und gab schließlich jedes anspruchsvolle musikalische System auf. Coltrane selbst tat das nicht, wohl aber die Band, mit der er sich zuletzt umgab.

Steve Coleman sagte zur Frage der Freiheit: Letztlich laufe es darauf hinaus, wozu man als Musiker in der Lage ist. Einige Musiker seien auf einem so hohen Niveau, dass sie einen Kick daraus beziehen, die Struktur der Musik präzise beizubehalten und gleichzeitig darin völlig frei zu sein. Und das sei für ihn der Kick beim Hören von Musikern wie Art Tatum und Charlie Parker. Sie klingen völlig frei und gleichzeitig gibt es da dieses sehr hohe Niveau der Struktur.9)

Mehr zu diesem Thema auf meiner Jazz-Seite. Ein Link steht unter dem Video.

Die meisten Jazz-Hörer wollten nicht auf Swing, Groove, Harmonie und Melodie verzichten und so wurde die Free-Jazz-Bewegung schon bald verdrängt – besonders von Einflüssen aus der aktuellen Tanzmusik. Die hatte sich bereits weit vom swingenden Jazz-Rhythmus wegentwickelt. Dazu im nächsten Video.

 

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