Jazz-Musiker improvisierten lange Zeit über Songs. Die
haben einen Rhythmus und eine Melodie und die Melodie geht durch die Akkorde
des Songs. Die Abfolge von Akkorden, die Akkordfolge, bildet die harmonische
Grundlage des Songs. Was diese Akkorde sind, erkläre ich am Ende des Videos –
für den Fall, dass man das braucht.
Die Akkordfolge, die der Song hat, haben die Musiker im Kopf. Zuerst spielen sie darüber die Songmelodie. Dann durchlaufen sie die Akkordfolge immer wieder, als würden sie weitere Strophen spielen. Statt der Songmelodie improvisieren sie nun aber neue Melodien. Sie improvisieren also über Akkordfolgen.
Ein Beispiel mit einem bekannten Song, der Moritat von Mackie Messer:
HÖRBEISPIEL: Sonny Rollins: Moritat (1956)
Die Improvisation soll gute melodische Linien ergeben, die auch rhythmisch interessant sind. Diese Melodie-Linien müssen nicht immer genau mit den Akkorden übereinstimmen. Es ist sogar spannender, wenn sie ein wenig ihre eigenen Wege gehen. Sie müssen aber immer wieder im richtigen Moment mit den Akkorden zusammentreffen, damit sie nicht falsch klingen. [Mehr dazu: Link]
Die so genannten „Bebop“-Musiker der 1940er Jahre (Charlie Parker und so weiter) nahmen die Akkordfolgen von Songs, steckten noch zusätzliche Akkorde hinein und komponierten dazu anspruchsvolle Melodien. Über diesen neuen, eigenen Jazz-Stücken improvisierten sie dann. [Mehr dazu: Link] Der Saxofonist Charlie Parker war darin unübertrefflich.
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Merry Go Round (1948)
In den 1950er Jahren begann der Trompeter Miles Davis, Stücke mit radikal vereinfachten Harmonien zu verwenden, so genannte „modale“ Stücke, und viele Musiker folgten ihm. Der Ausdruck „modal“ bezieht sich auf die Modi oder Kirchentonarten des Mittelalters, hat im Jazz aber eine weitere Bedeutung. Diese „modalen“ Stücke geben keine Akkordfolgen mehr vor, wie sie in Songs üblich sind, sondern nur Tonarten und die wechseln wenig. Das gibt den Musikern viel Raum und Zeit, ihre melodischen Linien zu entwickeln. Den großen Freiraum müssen sie allerdings auch kreativ ausfüllen. [Mehr dazu: Link]
HÖRBEISPIEL: Miles Davis: So What (1959)
Der Saxofonist John Coltrane verwendete Anfang der 1960er Jahre das modale Konzept für seine Band, hatte bei seinen Improvisationen aber oft weiterhin komplizierte Akkorde im Kopf. [Mehr dazu: Link]
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Impressions (1961)
Der Saxofonist Ornette Coleman reduzierte damals die harmonischen Vorgaben noch weiter, um ungebunden zu sein [Mehr dazu: Link], und andere Musiker lehnten Harmonien nun überhaupt ab. Für diese Art von Jazz wurde die Bezeichnung „Free Jazz“ üblich. Diese Musik klingt oft extrem schräg.
Um 1990 ging der Saxofonist Steve Coleman in die entgegengesetzte Richtung. Er fordert sich und seine Band wieder mit anspruchsvollen Strukturen heraus, über denen sie improvisieren. Und zwar haben seine Stücke vor allem komplizierte rhythmische Strukturen, aber auch Groove. [Mehr dazu: Link und Link]
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Collective Meditations I (1993)
Während also manche Musiker die Vorgaben vereinfachen, um freier improvisieren zu können, beziehen andere Musiker einen besonderen Kick daraus, sich mit schwierigen Vorgaben herauszufordern.
Jazz-Musiker improvisieren mithilfe einer Art musikalischen Sprache – so wie man Wörter, Phrasen und Grammatik im Hinterkopf hat und in einem Gespräch automatisch einsetzt. Man verwendet immer wieder dieselben Wörter und Phrasen, sagt vieles, was man schon einmal auf ähnliche Weise gesagt hat, und doch entwickelt sich jedes Gespräch einzigartig, aus der konkreten Situation heraus. Wie die Sprache, so beherrschen Jazz-Musiker ihre Spielweisen reflexartig. Die kreativen Meister verfügen über eine eigene, persönliche musikalische Sprache mit einem reichen Vokabular und können damit auf der Stelle großartige musikalische Aussagen machen. Aber solche Meister sind selten. [Mehr dazu: Link]
Mehr zur Jazz-Improvisation auf meiner Website. [Link] Links stehen im Video-Text.
Nun noch zu den Akkorden, die den Songs zugrunde liegen:
Diese beiden Töne werden als ein und derselbe Ton in unterschiedlichen Tonlagen verstanden. Sie bilden die so genannte Oktave. Darüber und darunter liegen weitere Oktaven. Die Oktaven werden in Halbtonschritte geteilt, sodass sich zwölf Töne ergeben. Der oberste Ton gehört bereits zur nächsthöheren Oktave. Von den zwölf Tönen werden sieben ausgewählt, um eine Tonleiter zu bilden. Hier ist zum Beispiel die C-Dur-Tonleiter zu sehen und zu hören. Drei dieser Töne haben eine besondere Bedeutung: der erste Ton, der Grundton oder die Tonika, der vierte Ton, die Quarte oder Subdominante, und der fünfte Ton, die Quinte oder Dominante. Zu diesen drei Tönen werden jeweils zwei weitere Töne aus der Tonleiter hinzugefügt, sodass sich insgesamt drei einfache Akkorde ergeben. Bei der C-Dur-Tonleiter sind das: erstens der C-Dur-Dreiklang (bestehend aus C, E und G), zweitens der F-Dur-Dreiklang (bestehend aus F, A und C) und drittens der G-Dur-Dreiklang (bestehend aus G, H und D).
Songmelodien gehen durch solche Akkorde. Ein ganz simples Beispiel:
HÖRBEISPIEL: Happy Birthday to You
Es gibt noch viele weitere Akkorde. Das kann sehr kompliziert werden. Die Akkorde bilden innerhalb einer Tonart, zum Beispiel C-Dur, unterschiedliche Harmonien. Das ergibt sehr detaillierte harmonische Strukturen.