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In der afro-amerikanischen Jazz-Tradition wird seit jeher von den Musikern erwartet, dass sie eine „Geschichte erzählen“:
Der afro-amerikanische Saxofonist Garvin Bushell, der im Jahr 1919 nach New York zog, erklärte: Für „schwarze“ Zuhörer müsse die Musik ein gewisses Feeling, einen gewissen Groove haben sowie eine Geschichte erzählen. Sie würden sie nicht einfach nur als Musik aufnehmen. Es könne eine gefährliche oder wilde Geschichte sein, aber sie müsse ausgedrückt werden.1)
Charlie Parker sagte in einem Interview, das der Saxofonist Paul Desmond führte: „Es gibt definitiv Geschichten und Geschichten und Geschichten, die im musikalischen Idiom erzählt werden können. [...] Musik ist grundsätzlich Melodie, Harmonie und Rhythmus. Aber ich meine, Leute können mit der Musik viel mehr machen als das. Sie kann sehr beschreibend sein in allen möglichen Richtungen, in allen Lebensbezügen. Stimmst du zu, Paul?“ Desmond antworte: „Ja, und du hast tatsächlich immer eine Geschichte zu erzählen. Es ist eine der eindrucksvollsten Dinge bei allem, was ich von dir gehört habe.“ Parker erwiderte: „Das ist mehr oder weniger der Sinn der Sache. Das ist es, was es nach meiner Vorstellung sein soll.“2)
Als John Coltrane sein Album Giant Steps (1959) aufnahm und er mit seiner Band das besonders schwierige Stück Giant Steps probte3), fand unter den Musikern ein Gespräch statt, das auf Tonbändern erhalten blieb. Coltrane sagte: „Ich denke nicht, dass ich das verbessern werde. Ich werde nichts sagen. Ich werde einfach nur versuchen, die Akkordwechsel zu machen. Ich werde keine Geschichte erzählen, wie ihnen schwarze Geschichten erzählen.“ Die Bandmitglieder murmelten zustimmend und dann sagte einer von ihnen: „Mensch, echt, du machst die Akkordwechsel, das erzählt ihnen eine Geschichte.“ Von dieser Idee überrascht erwiderte Coltrane: „Du glaubst, die Akkordwechsel sind die Geschichte?“ Ein Zweiter warf ein: „Genau, das wird alle Geschichten steigern.“ Coltrane sagte lachend, er wolle über den Akkordwechseln „keine Lügen erzählen“, und nach einem Gruppengelächter sagte der zweite Kollege noch: „Die Akkordwechsel selbst sind eine Art von Geschichte, Mann, das sag ich dir.“4)
Steve Coleman erzählte, dass der Tenor-Saxofonist Von Freeman und andere alte Meister, von denen er in jungen Jahren lernte, immer vom Erzählen einer Geschichte sprachen. Zum Beispiel sagten sie über einen Musiker, er klinge gut, beherrsche sein Instrument und so weiter, aber „was ist die Geschichte?“ Er spiele gut, aber sage nichts. Man müsse seine Geschichte erzählen. Coleman verstand damals nicht, was sie meinten. Wie soll man mit einem Saxofon eine Geschichte erzählen und welche Geschichte? Wenn man die alten Meister danach fragte, bekam man nur die Antwort, man müsse es selbst herausfinden.5) Coleman begann sich intensiv mit dieser Frage zu beschäftigen und wurde schließlich auch in dieser Hinsicht selbst ein einflussreicher Meister.6)
Angesichts der Bedeutung, die das „Geschichtenerzählen“ unter Jazz-Musikern hat, wird dieser bildhafte Ausdruck in der Jazz-Literatur seit Langem gedeutet, zunächst ohne viel Bedacht auf das Verständnis der Musiker zu nehmen. Bis in die Gegenwart wirkt eine Interpretation von Gunther Schuller aus den 1950er Jahren nach, der zufolge ein Solist dann eine gute „Geschichte erzählt“, wenn er sein Solo in einer für Hörer schlüssigen, überlegt wirkenden Weise aufbaut. Dieses Verständnis überträgt jedoch ästhetische Kriterien der klassischen europäischen Musik auf den Jazz und ist dementsprechend wenig zutreffend.7)
In den 1990er Jahren begann sich in der akademischen Jazz-Forschung endlich die Auffassung durchzusetzen, dass ohne die Insiderperspektive der Musiker keine sinnvollen Erkenntnisse gewonnen werden können.8) Allerdings bildet der Jazz ein weites, diffuses Feld mit entsprechend unterschiedlichen Auffassungen der Musiker selbst, worauf es beim Storytelling und auch sonst im Jazz ankommt. Nur wenige von ihnen sind tatsächlich Insider der speziellen Tradition der kreativen Meister. Auch der klassisch ausgebildete, indisch-stämmige Pianist Vijay Iyer zählte nicht zu ihnen, doch stand er mit Insidern in Kontakt und versuchte, darauf gestützt das „Geschichtenerzählen“ der Jazz-Tradition zu ergründen und darzustellen.9) Seine Überlegungen sind daher fundierter als bloße akademische Betrachtungen und ergeben unter anderem folgende zwei bedeutende Aspekte:
Jazz-Musiker „erzählen“ zumindest insofern, als sie selbst spielen, im Moment gestalten und musikalisch kommunizieren.
Die „Geschichten“, die sie vermitteln, werden von vielen Elementen auf unterschiedlichen Ebenen gebildet.
Iyer entwarf ein facettenreiches, allerdings auch zersplittertes Bild, das wohl nur zum Teil den starken, konzentrierten musikalischen Aussagen von Meisterimprovisatoren wie Parker und Coltrane gerecht wird. Überzeugende Erklärungen für die Ausdruckskraft Parkers und Coltranes lieferte Steve Coleman, der selbst eine entsprechende Kunst der musikalischen Sprache entwickelte und einen tiefen Einblick in die Tradition erlangte10). Im Gegensatz zu den zentralen Persönlichkeiten früherer Zeiten sprach Steve Coleman freimütig, eloquent, ausführlich und öffentlich zugänglich über seine Erfahrungen.11) Aussagen von ihm bilden daher die wichtigste Quelle der folgenden Betrachtungen zum Thema des Storytelling.12)
Die Spielweisen von Musikern wie Parker und Coltrane klingen großteils nach ausdrucksvollem Sprechen. Auch beziehen sich ihre Phrasen oft in gesprächsartiger Weise aufeinander, indem sie einander antworten, ergänzen und bekräftigen oder miteinander debattieren. Das Zusammenspiel der Meister mit Mitgliedern ihrer Band wirkt oft ebenfalls wie Interaktionen von Gesprächspartnern. Die stimmähnliche Klanggestaltung, speziell der Blasinstrumente13), unterstützt den sprechenden Ausdruck und mitunter bilden Phrasen sogar sprachliche Aussagen wörtlich nach. Die aufwühlende Stimme eines Predigers in einer afro-amerikanischen Kirche, ein übermütiger Wortschwall voller Ideen, ein berührendes Umwerben, ein bedrückender Erfahrungsbericht, eine prächtige poetische Schilderung, eine Aufforderung zur Erweiterung der Perspektive, besänftigende Beteuerungen … all das kann zum Beispiel in einem Saxofonspiel gehört werden. Auch mit Anspielungen, etwa auf bekannte Songmelodien oder Musikstile14), und mit musikalischer Symbolik15) wird versucht, Bedeutungen zu vermitteln.
Meister wie Parker, Coltrane und Steve Coleman „sprechen“ in einer jeweils eigenen Weise, die eine persönliche Wesensart ausdrückt. Sie beherrschen ihre „Sprache“ traumwandlerisch und kommunizieren mit ihr spontan und wahrhaftig. Der sprechende Charakter lässt ihre einzigartige Kunst, raffinierte melodische Linien zu bilden, natürlich wirken und macht sie ausdrucksstark. Diese Musiker entwickelten eine solche Flüssigkeit im musikalischen Gestalten und Agieren, dass sie im Moment komplexe sowie vollendete melodische Kompositionen hervorbrachten.
Mehr zu dieser Kunst: Improvisation
Nachdem die Meister der afro-amerikanischen Jazz-Tradition also in gewisser Weise „sprechen“ und „erzählen“, fragt sich, was ihre „Geschichten“ sind:
Auf Instrumenten ausgedrückte sprachliche Aussagen, wie sie im Jazz manchmal vorkommen16), sind nicht allgemein verständlich und können daher praktisch nur für die Musiker selbst eine Geschichte im wörtlichen Sinn ergeben. Dennoch besteht meisterhafter Jazz für zahllose Kenner in gewisser Weise aus „Storys“ mit tiefgehender Bedeutung. Diese „Storys“ werden von vielen Elementen auf mehreren Ebenen gebildet, wie nicht nur Iyer, sondern auch Steve Coleman erklärte.17) Obwohl der sprachähnliche, gesprächsartige Ausdruck in der Jazz-Tradition wichtig ist, werden die essentiellen „Geschichten“ also im Wesentlichen auf nicht-sprachliche Weise „erzählt“, sodass sie nur im übertragenen Sinn „Geschichten“ sind. In welcher Hinsicht sie mit echten Geschichten vergleichbar sind, ist den Erläuterungen der Musiker-Insider nicht zu entnehmen, doch liegt folgende Erklärung wohl auf der Hand:
Eine Solo-Improvisation stellt einen Vortrag dar, der besonders dann, wenn er auf den einstimmigen, sprachähnlich gespielten Blasinstrumenten erfolgt, einem Sprechen zu einem Kreis von Zuhörern ähnelt. Dieser Vortrag kann nur dann mit einer guten Geschichte eines Erzählers verglichen werden, wenn er von Insidern der Kultur als bedeutungsvoll, wahrhaftig und spannend erlebt wird.18) Wie der Solist eine solche Resonanz erreichen kann, muss er selbst herausfinden, denn er soll die Musikkultur mit einem eigenen Beitrag bereichern, nicht einfach Altbekanntes reproduzieren. Überzeugen kann er nur, wenn er aus seinem Innersten „spricht“. Um die Bedeutungen der Musik der Meister tiefgehend zu erfassen, braucht es Kenntnisse, die von Insidern durch allmähliche „Osmose“ erworben werden.19) Erklärungen bedeutender Musiker gewähren ein wenig Einblick in diese Erfahrungswelt.
Mehr dazu: Botschaften
Die Meisterwerke dieser speziellen Musikkultur können aber auch für Hörer im weit entfernten Europa bedeutungsvoll sein:
Sie beleben Geist, Bewegungsgefühl und Emotion gleichermaßen, mit einem breiten Spektrum von urwüchsigen Qualitäten bis zu verwegenen Ideen, die eine Vorliebe für kreative Freiheit widerspiegeln.
Da die Schöpfer dieser Musik selbst spielen, und zwar mit sehr individuellem Charakter und vielfältigem, fein nuanciertem Ausdruck, sprechen sie die Hörer direkt an.
Ihr Vortrag ist eingeflochten in ein kommunikatives Gruppenspiel, das auf einer relativ freien Form der Kooperation beruht. Dabei ist ein eigener Ausdruck jedes einzelnen erwünscht. So können Hörer eine befriedigende gemeinschaftliche Aktion miterleben, wie sie sonst selten zustande kommt.
Die Raffinesse dieser Musik liegt nicht in einem groß angelegten Aufbau, sondern in der Dichte und im Detail der Gestaltung, sodass sie zu hellwachem Hören mit wendigem Geist anregt.
Die kreativen Meister des Jazz betreiben die Erforschung der Ausdrucksmöglichkeiten so gründlich, dass sie mitreißende Höhenflüge sowie fesselnde Tiefgründigkeit erreichen. Sie bringen eine besondere Schönheit hervor, die sich nicht aus stimmungsvollen Wohlklängen oder aus der Organisation großer Klanggebäude in der Art der klassisch-europäischen Konzertmusik ergibt, sondern viel unmittelbarer aus Lebendigkeit, spontaner Kreativität und Gewandtheit.
Diese tief bewegende Musik bildet somit intensives Leben ab, wie eine ergreifende Geschichte. Und erfährt man dazu noch ein wenig über ihre Botschaften, so steigert das die Hörerlebnisse zusätzlich – auch im fernen Europa.
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