HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Countdown (1959)
Diese Aufnahme von John Coltrane war die erste, die der junge Norweger Jan Garbarek von ihm hörte, und sie faszinierte ihn auf der Stelle wie keine andere Musik. Er kaufte sich das Album Giant Steps, aus dem diese Aufnahme stammt, und hörte es sich jeden Morgen an, bevor er zur Schule ging. Coltranes Sound bewegte ihn so, dass er ohne musikalische Vorbildung begann, sich Saxofon-Spielen beizubringen. Die Kompliziertheit von Coltranes Musik war ihm nicht bewusst.1)
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Giant Steps (1959)
Im Giant-Steps-Album trieb John Coltrane das Entwerfen komplizierter Akkord-Strukturen auf die Spitze. Es kamen ihm Zweifel, ob er mit dieser Musik noch eine Geschichte erzählt, eine schwarze Geschichte, wie er zu seinen Bandkollegen sagte. Einer von ihnen meinte: Die komplizierten Strukturen selbst würden eine Geschichte ergeben und ein weiterer Kollege stimmte zu.2) Andere Musiker fanden dieses Album dann jedoch weniger befriedigend, weil die dichten, ungewöhnlichen Akkord-Vorgaben die Improvisatoren einengten. Für den jungen Jan Garbarek zählte einfach der Sound, der Spirit, den er aus Coltranes Saxofon-Spiel bezog.3)
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Giant Steps (1959)
Giant Steps war eine Übergangsphase in Coltranes Entwicklung.4) Danach vereinfachte er die Musik für seine Band, spielte selbst aber weiterhin über anspruchsvollen Strukturen und erreichte damit in der ersten Hälfte der 1960er Jahre eine großartige Ausdruckskraft.5) Die versuchte er dann noch zu steigern – durch expressive Klänge in der Art junger Saxofonisten der damaligen Free-Jazz-Bewegung wie Albert Ayler, Archie Shepp und Pharoah Sanders.6) Diesen jungen Musikern verschaffte er Aufmerksamkeit und so hörte sie Jan Garbarek, der nun auch von ihren Sounds ergriffen war.7)
HÖRBEISPIEL: Albert Ayler: Spirits Rejoice (1965) / John Coltrane: Ascension I (1965, Solo: Archie Shepp) / John Coltrane: Ascension I (1965, Solo: Pharoah Sanders)
Gerade in Coltranes letzten Jahren – 1965 bis 67 –, als seine Musik nach Free-Jazz klang, legte er seinen Improvisationen wieder öfters harmonische Strukturen aus seiner Giant-Steps-Phase zugrunde, was allerdings in den wilden Klängen unterging.8) Coltrane gab seine vielfältigen, tiefgehenden musikalischen Kenntnisse und Erfahrungen nicht auf, sondern reicherte sein Spiel immer weiter an, sodass es – in Steve Colemans Worten – immer fetter wurde.9) Allerdings klang es auch immer extremer und es wurde immer schwerer erkennbar, dass Coltrane kein purer Sound-Spieler war – im Gegensatz zu Albert Ayler, Archie Shepp und Pharoah Sanders, die die Raffinesse früherer Meister wie Charlie Parker und Art Tatum über Bord warfen.
Archie Shepp berichtete, wie Coltrane voller Bewunderung über Art Tatum sprach10), dem er bei einer privaten Session eine halbe Nacht lang zuhören konnte. Coltrane sagte, er habe nie zuvor so viel Musik gehört.11)
HÖRBEISPIEL: Art Tatum: Begin the Beguine (1955)
Der einflussreichste Trompeter, der aus der Free-Jazz-Bewegung hervorging, war Don Cherry. Mehrere Jahre lang war er Ornette Colemans Partner und daher bestens vertraut mit seinem Konzept, das viele als richtungsweisend ansahen. Auch Coltrane und Sonny Rollins machten deshalb Aufnahmen mit Don Cherry. Später reiste er viel, kooperierte mit Musikern unterschiedlicher Musikkulturen der Erde und spielte neben seiner kleinen Taschentrompete aus Pakistan ein west-afrikanisches Saiteninstrument, Bambusflöten und weitere Instrumente aus fernen Kulturen. Auch sang er oft in afrikanisch und tibetanisch klingender Weise. Seine Musik war relativ einfach, teils avantgardistisch, teils eingängig, volksmusikartig und sie vermittelte einen weltoffenen Spirit. Diese Weltmusik, wie sie genannt wurde, sprach viele an und wurde zu einem einflussreichen Vorbild.
HÖRBEISPIEL: Don Cherry: Mali Doussn'gouni (1973) / Don Cherry: Chenrezig (1975) / Codona: Clicky Clacky (1982)
Einen natürlichen, volksmusikartigen Charakter haben im Grunde auch die Meisterwerke von Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane, Steve Coleman und so weiter. Sie bestechen aber zusätzlich durch kunstvolle musikalische Gestaltung, besonders in rhythmisch-melodischer Hinsicht.
Auch Offenheit für Einflüsse aus anderen Kulturen ist schon lange eine Stärke der Jazz-Tradition – nicht erst, seit von Weltmusik gesprochen wird. Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Max Roach spielten in den 1940er Jahren mit afro-kubanischen und afrikanischen Trommlern und ihre Innovationen beruhten zu einem großen Teil auf diesen Erfahrungen. Sie übernahmen jedoch nicht einfach exotische Klänge, sondern verarbeiteten die Einflüsse in der Art ihrer eigenen Musik.12
Steve Coleman sagte über John Coltrane: Er habe afrikanische und indische Musik sehr kreativ genutzt, während andere sie nur ein wenig nachahmten. Coltranes Musik lasse zwar erkennen, dass er sich mit afrikanischer und indischer Musik auseinandergesetzt hat, klinge aber keineswegs afrikanisch oder indisch. Er habe sich keinen Dashiki angezogen (ein afrikanisches Kleidungsstück), keinen afrikanischen Namen gegeben, wie andere afro-amerikanische Musiker, sondern aufgegriffen, was er musikalisch verwenden konnte und damit sein eigenes Konzept erweitert. Dazu müsse man aber erst einmal eines haben. Coltrane Konzept sei sehr stark gewesen.13)
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Tunji (1962)
Aus der Free-Jazz-Bewegung bezogen viele junge Musiker und Hörer, dass Meisterschaft im Sinn der Jazz-Tradition nicht mehr entscheidend ist und es stattdessen auf ausdrucksstarke, befreiende Sounds ankommt. Selbst Coltranes Musik schien das in seinen letzten Jahren – oberflächlich – zu vermitteln. Junge europäische Musiker fühlten sich befreit vom Vorbild der afro-amerikanischen Tradition, die ihnen ein wenig fremd war. Zur Entwicklung einer eigenen Richtung wurde Jan Garbarek auch vom älteren afro-amerikanischen Komponisten George Russell angeregt, der in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Skandinavien lebte, dort unterrichtete und Jan Garbarek in seiner Band engagierte.14)
In den USA fanden Jazz-Musiker, besonders afro-amerikanische, oft kaum erträgliche Arbeits- und Lebensbedingungen, in Europa deutlich bessere. Don Cherry ließ sich Ende der 1960er Jahre in Skandinavien nieder, tat sich auch dort mit einheimischen Musikern zusammen und regte sie an, Volksmusik einzubeziehen. Einer von ihnen war Jan Garbarek. Er verband Einflüsse aus dem Jazz und aus seiner europäischen Herkunftskultur zu einer eigenen Musik, die vor allem durch stimmungsvolle Sounds berührt.
HÖRBEISPIEL: Jan Garbarek: Fugl (2007; Dresden)
Angeregt von Don Cherry belebte Jan Garbarek seine so genannten „nordischen“ Stimmungen öfters mit Elementen aus anderen Kulturen, zum Beispiel mit den Klängen eines Perkussionisten aus Indien.
HÖRBEISPIEL: Jan Garbarek: The Arrow (1995)
Nach Aussage des Jazz-Instituts Darmstadt hat Jan Garbarek mittlerweile als Vorbild für junge europäische Jazz-Musiker eine ähnlich große Bedeutung wie John Coltrane.15) Garbarek selbst versteht sich jedoch nicht als Jazz-Musiker. Er sagt: Jazz sei zwar sein wichtigster Hintergrund, aber Louis Armstrong, Oscar Peterson, John Coltrane seien Jazz, nicht er. Als junger Musiker habe er free gespielt, eine verrückte Energie gehabt, aber nicht das Niveau.16)
Aus seiner Sicht spielte allerdings selbst Coltrane in seinen letzten Jahren keinen Jazz mehr.17) Steve Coleman, ein Insider der afro-amerikanischen Tradition, der noch von alten Meistern wie Von Freeman lernte, findet hingegen, dass Coltranes Musik erst in seinen letzten Jahren voll ausgereift war. 1965/66 habe er seine hippsten Sachen gespielt.18) Den Jazz-Begriff lehnt Steve Coleman generell ab – wie andere afro-amerikanische Meister schon vor ihm.
HÖRBEISPIEL: John Coltrane: One Down, One Up (1965)
Diese Aufnahme Coltranes aus 1965 klingt bereits ziemlich extrem, aber warum sollte sie nicht zur „Jazz“ genannten Musikart gezählt werden? Was unterscheidet sie in Jan Garbareks Wahrnehmung so grundlegend von Coltranes zuvor gemachten Aufnahmen, vom Giant-Steps-Album, von Charlie Parkers Musik? Es ist wohl eine Frage des persönlichen Geschmacks, der ästhetischen Orientierung, der kulturellen Zugehörigkeit. Jan Garbarek hört nach eigener Aussage verschiedene Volksmusikarten, klassische Musik, die Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts, kaum Jazz.19) Er sieht schon lange keine wichtigen Impulse mehr aus dem Jazz kommen. Steve Colemans Musik ist für ihn offenbar nicht relevant und wohl auch kein Jazz.20)
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Reflex (2001)
„Play your own thing!” – „Spiel deine eigene Sache!”, wurden europäische Musiker von afro-amerikanischen Vorbildern aufgefordert. Jan Garbarek tat das besonders erfolgreich und etablierte – mit anderen – eine europäische Abwandlung des Jazz. Ihre Ästhetik, ihre Stimmungen sind einem als Europäer vertraut, gehen ins Gefühl und ihr Jazz-Einfluss wirkt modern, aufgeschlossen. Was mich am Jazz fasziniert, finde ich in dieser Musik jedoch nicht. Sie kann ebenfalls Jazz genannt werden und ist doch eine andere Art von Musik als die Tradition von Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane und Steve Coleman.
Folgende Aufnahme von Steve Coleman wirkt nicht durch atmosphärische Klänge und beschauliche Stimmungen. Hier spielt Bewegung eine große Rolle. Rhythmen, Melodien und Sprache verflechten sich auf raffinierte Weise, in einem spontanen, äußerst gewandten Zusammenspiel und mit starkem, lässigem Ausdruck. Das ist sehr speziell, unnachahmlich, brillant in der Art dieser Musikkultur.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Little Girl I'll Miss You (2018)
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